5 KREDIT

Etwa eine Woche später kam er eines Tages nicht in die Bibliothek. Miß Crail war entzückt. Bis halb elf hatte sie es ihrer Mutter berichtet. Nach der Mittagspause trat sie vor das Regal, an dem er seit seinem Kommen gearbeitet hatte, und starrte mit auffällig gespielter Konzentration auf die Buchreihen. Sie gab sich vor Liz den Anschein, als prüfe sie, ob Leamas etwas gestohlen hatte.

Liz nahm daraufhin für den Rest des Tages keine Notiz mehr von ihr, gab keine Antwort, wenn sie von ihr angesprochen wurde, und arbeitete mit verbissenem Fleiß. Als der Abend kam, ging sie nach Hause und weinte sich in den Schlaf.

Am nächsten Morgen kam sie früher als sonst in die Bibliothek. Sie hatte das Gefühl, Leamas werde um so eher zurückkommen, je früher sie selbst an Ort und Stelle war; aber als der Morgen sich hinschleppte, schwanden all ihre Hoffnungen, und sie wußte, dass er niemals mehr kommen würde. Sie hatte an diesem Tag vergessen, sich Sandwiches zu machen, deshalb entschloß sie sich, mit dem Bus in die Bayswater Road zu fahren und dort in ein Buffet zu gehen. Sie fühlte sich krank und leer, aber nicht hungrig. Sollte sie sich auf die Suche nach ihm machen? Sie hatte versprochen, ihm nicht nachzulaufen, aber er hatte versprochen, ihr vorher Bescheid zu sagen. Sollte sie zu ihm gehen?

Sie rief ein Taxi und sagte seine Adresse.

Sie lief das schmutzige Treppenhaus hinauf und läutete an seiner Tür. Die Glocke schien nicht zu funktionieren, denn sie hörte nichts, als sie auf den Knopf drückte. Auf dem Fußabstreifer standen drei Flaschen Milch, daneben lag ein Brief vom Elektrizitätswerk. Sie zögerte einen Moment, dann trommelte sie an die Tür und hörte das schwache Stöhnen eines Mannes.

Sie lief die Treppe hinunter zur tiefer gelegenen Wohnung, hämmerte und läutete an der Tür. Da niemand Antwort gab, rannte sie ganz hinunter und kam in das Hinterzimmer eines Krämerladens. Eine alte Frau saß in einer Ecke und schaukelte in ihrem Stuhl vor und zurück.

»Im obersten Stock«, schrie sie fast. »Jemand ist sehr krank. Wer hat einen Schlüssel?«

Die alte Frau sah sie einen Moment an, dann rief sie in den Laden: »Arthur! Komm her, Arthur, ein Mädchen ist hier.«

Ein Mann in einem braunen Overall mit grauem Filzhut schaute zur Tür herein und fragte:

»Mädchen?«

»Jemand im obersten Stock ist schwer krank«, sagte Liz. »Er kann nicht an die Tür kommen und sie aufmachen. Haben Sie einen Schlüssel?«

»Nein«, sagte der Krämer, »aber ich habe einen Hammer.« Zusammen eilten sie die Stufen hinauf, der Krämer noch mit seinem Filzhut auf dem Kopf, in der Hand einen schweren Schraubenzieher und einen Hammer. Er pochte an die Tür, und atemlos warteten sie auf Antwort. Es kam keine.

»Ich habe vorhin gehört, dass jemand stöhnte - ganz bestimmt«, flüsterte Liz.

»Bezahlen Sie die Tür, wenn ich sie aufbreche?«

»Ja.«

Der Hammer machte schrecklichen Lärm. Mit drei Schlägen hatte der Mann ein Stück des Rahmens und das Schloß herausgeschlagen. Liz ging zuerst hinein, der Kaufmann folgte ihr. In dem Raum war es bitter kalt und dunkel, aber auf dem Bett in einer Ecke war die Gestalt eines Mannes zu erkennen.

O Gott, dachte Liz, ich kann ihn nicht anfassen, wenn er tot ist. Aber sie ging zu ihm hinüber und sah, dass er lebte. Sie zog die Vorhänge auf und kniete sich neben das Bett.

»Ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche, danke sehr«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Der Kaufmann nickte und ging hinunter.

»Alec, was ist los? Was hast du, was ist, Alec?«

Leamas bewegte seinen Kopf auf dem Kissen; seine eingesunkenen Augen waren geschlossen. Der dunkle Bart hob sich von der Blässe seines Gesichts ab.

»Alec, du mußt es mir sagen, bitte, Alec.« Sie hielt eine seiner Hände in der ihren. Die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Verzweifelt fragte sie sich, was zu tun sei, dann stand sie auf, lief in die winzige Küche und stellte einen Kessel Wasser aufs Gas. Sie wußte nicht genau, was sie tun sollte, aber es beruhigte sie, irgend etwas zu unternehmen. Sie ließ den Kessel auf dem Gas, nahm ihre Handtasche und den Wohnungsschlüssel vom Nachttisch und lief die vier Treppen und über die Straße zu Mr. Sleaman hinunter, in dessen Geschäft sie eine Dose Hühnerbrust, Suppenwürfel und eine Schachtel Aspirin kaufte. Als sie schon an der Tür war, drehte sie um und kaufte noch ein Paket Zwieback. Alles zusammen kostete sechzehn Shilling. Sie besaß noch vier Shilling in bar und elf Pfund auf ihrem Postsparbuch, von dem sie heute nichts mehr abheben konnte.

Das Wasser kochte gerade, als sie wieder in die Wohnung zurückkam. Sie goß die Suppenwürfel in einem Glas auf, wie es ihre Mutter immer machte, indem sie einen Löffel hineinstellte, um das Zerspringen des Glases zu verhindern. Unterdessen ließ sie Leamas nicht aus den Augen, als fürchtete sie, er könnte tot sein.

Sie mußte ihn stützen, damit er die Suppe trinken konnte. Er besaß nur ein Kopfkissen, und da es in der Wohnung keine anderen Polster gab, nahm sie seinen Mantel vom Haken hinter der Tür, machte ein Bündel daraus und stopfte es hinter das Kopfkissen. Sie hatte Angst vor der Berührung mit ihm, er war schweißnaß, und sein kurzes graues Haar war feucht und klebrig. Sie stellte das Glas ab, hielt seinen Kopf mit der einen Hand und flößte ihm die Suppe mit der anderen ein. Als er einige Löffel zu sich genommen hatte, zerdrückte sie zwei Aspirintabletten und gab sie ihm mit dem Löffel. Sie redete ihm wie einem Kind zu, während sie auf der Bettkante saß, ihn und sein Gesicht mit den Fingerspitzen streichelte, wobei sie immer seinen Namen flüsterte: »Alec, Alec.«

Allmählich wurde sein Atem gleichmäßiger und sein Körper entspannte sich, da er aus dem schmerzhaften Fieberkrampf in einen ruhigen Schlaf hinüberglitt. Liz fühlte, dass er das Schlimmste überstanden hatte. Plötzlich kam ihr zu Bewußtsein, dass es fast dunkel war.

Als ihr einfiel, dass sie aufräumen konnte, statt herumzusitzen, schämte sie sich. Sie sprang auf, holte aus der Küche die Teppichkehrmaschine und einen Staublappen und machte sich fieberhaft an die Arbeit. Als sie in einem Zimmer fertig war und ein sauberes Tischtuch auf den Nachttisch gelegt hatte, wusch sie in der Küche das herumstehende Geschirr ab. Als sie auf die Uhr sah, war es halb neun. Sie setzte den Kessel auf und ging ans Bett zurück. Leamas schaute sie böse an.

»Alec, sei nicht böse, bitte, nicht«, sagte sie. »Ich versprech' dir, dass ich dann gehe, aber laß mich erst etwas Richtiges zu essen für dich machen. Du bist krank, du kannst so nicht weitermachen. Du bist … oh, Alec.« Sie verlor die Beherrschung und weinte, wobei sie die Hände vors Gesicht hielt, so dass ihr die Tränen wie bei einem Kind zwischen den Fingern hinunterliefen. Seine braunen Augen waren unbewegt auf sie gerichtet, während seine Hände das Betttuch hielten.

Sie half ihm beim Waschen und Rasieren und sie fand sauberes Bettzeug. Sie gab ihm etwas Hühnerbrust aus der Dose, die sie in Mr. Sleamans Laden gekauft hatte. Sie saß auf dem Bett und sah ihm beim Essen zu, während sie darüber nachdachte, dass sie noch niemals vorher so glücklich gewesen war.

Er schlief bald ein. Sie zog die Decke über seine Schultern und ging zum Fenster. Sie schlug die vergilbten Vorhänge zurück, schob das Fenster hoch und schaute hinaus. Im Hof waren Fenster erleuchtet. Durch das eine konnte sie den flimmernden blauen Schatten eines Fernsehschirmes sehen, der bewegungslose Gestalten in seinem Bann hielt, hinter dem anderen drehte sich eine ziemlich junge Frau Lockenwickler in ihr Haar. Liz hätte über die verworrene Selbsttäuschung in ihren Träumen weinen können.

Sie schlief in einem Sessel, bis es fast hell war, und als sie aufwachte, fühlte sie sich kalt und steif. Sie ging zum Bett. Leamas regte sich, als sie ihn anschaute, und sie berührte seine Lippen mit den Fingerspitzen. Er zog sie, ohne die Augen zu öffnen, sanft aufs Bett herunter. Plötzlich hatte sie heftiges Verlangen nach ihm, so dass nichts anderes mehr wichtig war, und sie küßte ihn wieder und wieder, und als sie ihn ansah, schien er zu lächeln.

Beinahe eine Woche lang kam sie jeden Tag. Er sprach nie viel mit ihr, und als sie ihn einmal fragte, ob er sie liebe, sagte er, er glaube an keine Märchen. Sie legte sich dann auf das Bett, den Kopf auf seiner Brust, er fuhr ihr mit seinen dicken Fingern ins Haar und hielt es ziemlich fest, während Liz lachte und sagte, es tue ihr weh.

Als sie Freitag abend kam, war er angezogen, aber nicht rasiert, und sie wunderte sich darüber. Irgendein unbestimmtes Gefühl alarmierte sie. Im Zimmer fehlten verschiedene Kleinigkeiten, wie etwa die Wanduhr und das billige tragbare Radio, das auf dem Tisch gestanden hatte. Sie wollte fragen, wagte es aber nicht. Sie hatte Eier und Schinken gekauft und daraus bereitete sie das Abendessen, während Leamas auf dem Bett saß und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Als das Essen fertig war, ging er in die Küche und kam mit einer Flasche Rotwein zurück. Er sprach während des Essens kaum ein Wort. Sie beobachtete ihn mit wachsender Angst, bis sie es nicht mehr aushielt und plötzlich rief: »Alec, Alec … was ist denn? Ist das der Abschied?«

Er stand vom Tisch auf, nahm ihre Hände und küßte sie, wie er sie nie vorher geküßt hatte. Dann sprach er lange Zeit leise auf sie ein, erzählte ihr Dinge, die sie nur halb verstand, weil sie die ganze Zeit wußte, dass es das Ende war und nichts anderes mehr eine Rolle spielte.

»Leb wohl, Liz«, sagte er. »Leb wohl.« Und dann: »Diesmal suche mich nicht mehr. Diesmal nicht.«

Liz nickte und murmelte: »Wie wir gesagt haben.« Sie war dankbar für die beißende Kälte auf der Straße und für die Dunkelheit, die ihre Tränen verbarg.

Es war am nächsten Morgen, am Samstag, als Leamas beim Krämer um Kredit bat. Er tat es unbeholfen und auf eine Art, die nicht sehr erfolgversprechend schien. Er verlangte ein halbes Dutzend Dinge, die zusammen nicht mehr als ein Pfund gekostet hätten, und als sie in seinem Tragbeutel verstaut waren, sagte er: »Am besten, Sie schicken mir die Rechnung.«

Der Krämer zeigte ein schiefes Lächeln und sagte: »Ich fürchte, das kann ich nicht!«, wobei er das »Sir« mit deutlicher Absicht fortließ.

»Warum nicht, zum Teufel?« fragte Leamas. Die Wartenden hinter ihm bewegten sich in unruhiger Verlegenheit.

»Kenn' Sie ja nicht«, erwiderte der Krämer.

»Seien Sie nicht albern«, sagte Leamas. »Seit vier Monaten kaufe ich jetzt bei Ihnen ein.«

Der Krämer lief rot an. »Bevor wir Kredit geben, brauchen wir eine Bankauskunft«, sagte er. Leamas verlor die Geduld.

»Reden Sie keinen Unsinn«, brüllte er. »Die Hälfte Ihrer Kunden hat noch nie eine Bank von innen gesehen - und wird sie auch nie zu sehen bekommen.«

Das war unerträglich, weil es die Wahrheit war.

»Ich kenne Sie nicht«, wiederholte der Krämer heiser, »und ich schätze Sie nicht. Machen Sie jetzt, dass Sie aus meinem Laden hinauskommen.« Er bemühte sich, das Paket wieder an sich zu nehmen, das Leamas unglücklicherweise schon in der Hand hielt.

Man war später verschiedener Meinung darüber, was im Anschluß daran geschehen war. Einige sagten, der Krämer habe bei dem Versuch, das Paket an sich zu bringen, Leamas gestoßen. Andere sagten, er habe es nicht getan. Auf jeden Fall stand fest, dass Leamas nach dem Krämer geschlagen hatte, und zwar nach Ansicht der meisten zweimal, ohne dass er seine rechte Hand freigemacht hätte, die noch immer den Tragbeutel hielt. Er schien den Schlag nicht mit der Faust zu führen, sondern mit der Kante der linken Hand und - als Teil derselben unglaublich schnellen Bewegung - mit dem linken Ellbogen. Der Krämer ging kerzengerade zu Boden und rührte sich nicht mehr. Vor Gericht wurde später behauptet, und von der Verteidigung nicht bestritten, dass der Krämer zwei Verletzungen davongetragen hatte: vom ersten Schlag einen gebrochenen Backenknochen und vom zweiten ein ausgerenktes Kinn. Die Berichterstattung war angemessen, aber nicht übertrieben ausführlich.

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