3 ABSTIEG

Es überraschte niemanden, als man Leamas abschob. Es hieß, Berlin sei im großen und ganzen seit Jahren ein Mißerfolg gewesen und irgend jemand habe dafür büßen müssen. Außerdem sei er schon verhältnismäßig alt für den Außendienst, bei dem man über die schnellen Reflexe eines berufsmäßigen Tennisspielers verfügen müßte. Während des Krieges hatte Leamas gute Arbeit geleistet, jedermann wußte das. Seine Tätigkeit war in Norwegen und Holland stets irgendwie sichtbar geblieben, und am Ende gab man ihm einen Orden und ließ ihn gehen. Später freilich überredete man ihn dazu, wieder zurückzukehren. Was seine Pension betraf, so war dies Pech, ganz entschieden Pech, wie die Buchhaltung in Gestalt Elsies hatte durchblicken lassen. Elsie erzählte in der Kantine, dass der arme Alec Leamas wegen der Unterbrechung seiner Dienstzeit pro Jahr nur vierhundert Pfund zum Leben haben würde. Elsie war der Meinung, diese Regelung müßte wirklich geändert werden, schließlich hatte Mr. Leamas seinen Dienst getan - oder etwa nicht? Aber so war man dran, mit dem Schatzamt im Nacken. Kein Vergleich mehr mit früher, und was konnte man schon tun? Selbst während der schlechten Tage unter Maston waren die Dinge besser geregelt worden.

Leamas, so wurde den neuen Leuten erzählt, sei noch von der alten Schule: gute Familie, Zivilcourage und Kricket - und ein Schulzeugnis in Französisch. In Leamas' Fall war dies ungerecht, da er Deutsch wie seine Muttersprache beherrschte und sein Holländisch bewundernswert war. Auch verabscheute er Kricket. Aber es stimmte, dass er keinen akademischen Titel besaß.

Da sein Vertrag aber erst in einigen Monaten ablief, steckte man Leamas in die Bankabteilung, damit er seine Zeit absitze. Die Bankabteilung war nicht mit der Buchhaltung zu verwechseln: sie befaßte sich mit Überweisungen ins Ausland, mit der Finanzierung von Agenten und Operationen. Die meisten dieser Arbeiten hätten von einem Bürolehrling erledigt werden können, hätte nicht die Notwendigkeit der Geheimhaltung eine große Rolle gespielt. So aber war die Bankabteilung eine jener Dienststellen des Secret Service, die als Aufbahrungsort für Beamte galt, welche man in Kürze begraben wollte.

Leamas' Leistungen ließen nach. Allgemein glaubt man, der Leistungsabfall sei ein langwieriger Vorgang, aber bei Leamas war das nicht der Fall. Innerhalb weniger Monate verwandelte er sich unter den Augen seiner Kollegen aus einem ehrenhaft entlassenen Mann zu einem grollenden, betrunkenen Wrack. Trunkenbolde zeigen manchmal, besonders wenn sie nüchtern sind, eine Stumpfsinnigkeit, eine Art Losgelöstsein, die auf den Unaufmerksamen wie Zerstreutheit wirkt und die sich Leamas m it unnatürlicher Eile anzueignen schien. Er entwickelte kleine Unredlichkeiten, lieh sich von Büroangestellten unbedeutende Summen aus und versäumte es, sie zurückzugeben, und oft kam er unter einem hingemurmelten Vorwand zu spät ins Büro oder ging früher weg. Im Anfang behandelten ihn seine Kollegen mit Nachsicht. Vielleicht wurden sie durch seinen Verfall in derselben Weise wie durch den Anblick von Krüppeln, Bettlern oder Invaliden erschreckt, der einen befürchten läßt, man könnte selbst einmal in ihre Situation geraten, aber am Ende isolierte ihn seine Nachlässigkeit, seine brutale, blinde Boshaftigkeit.

Sehr zum Erstaunen der Leute schien es Leamas nichts auszumachen, dass er abgeschoben worden war. Seine Willenskraft schien plötzlich zusammengebrochen zu sein. Neu eingestellte Sekretärinnen, die nicht glauben mochten, dass Geheimdienste von gewöhnlichen Sterblichen bevölkert sind, wurden von der Feststellung beunruhigt, dass Leamas ganz entschieden verlotterte. Er gab immer weniger acht auf sein Äußeres, nahm immer weniger Notiz von seiner Umgebung. Mittags aß er in der Kantine, was normalerweise den jüngeren Angestellten vorbehalten war, und es wurde gemunkelt, dass er trinke. Er wurde ein Einzelgänger, da er nun zu jener tragischen Klasse von aktiven Männern gehörte, die vorzeitig ihrer Aktivität beraubt wurden, wie Schwimmer, denen das Wasser verboten ist, oder wie Schauspieler, die man von der Bühne verbannt hat.

Einige sagten, sein Netz sei aufgerollt worden, weil er in Berlin Fehler gemacht habe, aber niemand wußte etwas Bestimmtes. Alle waren sich einig, dass er mit ungewöhnlicher Härte behandelt worden war, selbst wenn man die Maßstäbe einer Personalabteilung anlegte, die sich keineswegs durch besondere Menschenfreundlichkeit auszeichnete. Wenn er vorüberging, zeigte man heimlich auf ihn, wie auf einen früher berühmten Sportler, und sagte: »Das ist Leamas. Er hat in Berlin Pech gehabt. Traurig, wie er sich gehenläßt.«

Und dann war er eines Tages verschwunden. Er nahm von niemandem Abschied, offenbar nicht einmal vom Chef. An sich war das nicht überraschend. Die Natur des Geheimdienstes schließt kunstvolle Verabschiedungen und die Überreichung von goldenen Uhren aus, aber selbst nach diesem Maßstab schien Leamas' Abgang äußerst plötzlich zu sein. Soweit man es beurteilen konnte, schied er vor Ablauf seines Vertrages aus. Elsie aus der Buchhaltung hausierte mit ein paar mageren Informationen. Leamas hatte sich den Rest seines Gehaltes in bar auszahlen lassen, und wenn Elsie überhaupt etwas von der Sache verstand, so bedeutete dies, dass er Schwierigkeiten mit seiner Bank hatte. Das Geldgeschenk an ihn war am Ende des Monats zu zahlen, sie konnte nicht sagen wieviel, aber es war keine vierstellige Zahl, armer Kerl. Sein Krankenversicherungsausweis war nachgeschickt worden. Von der Personalabteilung war ihm ein Schreiben zugestellt worden, fügte Elsie mit einem Nasenrümpfen hinzu, aber freilich konnte man nicht erfahren, was drinstand - nicht von der Personalabteilung.

Dann war da eine Geldgeschichte. Es sickerte durch - wie üblich wußte niemand woher -, dass die plötzliche Entlassung von Leamas etwas mit Unregelmäßigkeiten in der Buchführung der Bankabteilung zu tun habe. Es habe eine größere Summe gefehlt - nach Aussage einer Dame mit blaugefärbtem Haar, die in der Telefonzentrale arbeitete, war die Summe nicht drei-, sondern vierstellig gewesen, und man hatte fast alles davon zurückbekommen, machte jetzt aber ein Zurückbehaltungsrecht auf seine Pension geltend. Andere wieder hielten das Gerücht für unglaubwürdig. Sie sagten, Alec hätte sicherlich eine bessere Methode gefunden, als sich mit der Buchhaltung der Zentrale anzulegen, wenn er schon die Kasse plündern wollte. Niemand hatte Zweifel daran, dass er dazu fähig gewesen wäre, aber man glaubte, er hätte es sicher besser gemacht. Wer jedoch von den schlummernden kriminellen Fähigkeiten Leamas' weniger überzeugt war, erinnerte an den großen Alkoholkonsum, an die Kosten, die immer mit dem Unterhalt eines getrennten Haushaltes verbunden sind, an den großen Unterschied zwischen den Auslandsbezügen und dem Gehalt, das Leamas zu Hause bekam, und vor allem erinnerten sie an die Versuchung, die der Umgang mit großen Summen heißen Geldes in dem Augenblick für einen Mann bedeuten mußte, da seine Tage beim Geheimdienst gezählt waren. Alle stimmten überein, dass Alec für immer erledigt war, wenn er seine Hände tatsächlich in den Honigtopf gesteckt hatte. Die Sozialabteilung würde sich nicht mehr um ihn kümmern, und die Personalleute stellten ihm sicherlich kein Zeugnis aus - oder ein so eiskaltes, dass es auch bei dem begeistertsten Arbeitgeber ein Frösteln hervorrufen müßte.

Es gab nur eine Sünde, die die Personalabteilung einem nicht zu vergessen erlaubte: die Unterschlagung - und auch sie selbst würde diese Sünde nie mehr vergessen. Wenn es stimmte, dass Alec das Rondell bestohlen hatte, so müßte er den Bannfluch der Personalabteilung mit ins Grab nehmen - und sie würde nicht einmal das Leichentuch bezahlen.

Ein paar Leute fragten sich nach seinem Ausscheiden noch ein oder zwei Wochen lang, was wohl aus ihm geworden war. Aber seine früheren Freunde hatten schon gelernt, sich von ihm fernzuhalten. Er hatte sich in einen grollenden Langeweiler verwandelt, der nichts anderes im Sinn hatte, als auf den Geheimdienst und dessen Verwaltung zu schimpfen oder seinem Ärger über jene Leute Luft zu machen, die er »Kommißknöpfe« nannte, weil sie - wie er sagte - die Organisation leiteten, als ob sie ein Regimentsklub sei. Er ließ nie eine Gelegenheit aus, über die Amerikaner und deren Abwehr herzuziehen. Er schien sie noch mehr zu hassen als die ostzonale Abteilung, die er nur selten oder gar nicht erwähnte. Er versäumte es nicht, regelmäßig anzudeuten, die Amerikaner seien es gewesen, die sein Netz aufs Spiel gesetzt hatten. Dieser Gedanke schien sich zu einer fixen Idee bei ihm zu entwickeln, und da er ein miserabler Gesellschafter geworden war, fanden die Versuche tröstlichen Zuspruchs nur spärlichen Dank, so dass ihn bald auch diejenigen seiner Bekannten abschrieben, die ihn stillschweigend geschätzt hatten. Leamas' Abschied kräuselte die Wasserfläche nur wenig - andere Winde und der Wechsel der Jahreszeiten ließen ihn bald vergessen sein.

Seine kleine Wohnung war recht erbärmlich, die Wände waren braun getüncht und an ihnen hingen Fotografien von Clovelly. Die Fenster blickten auf die grauen Rückseiten von drei Lagerhäusern, auf die aus ästhetischen Gründen mit Teerfarbe Fenster aufgemalt waren. Über einem der Lagerhäuser wohnte eine italienische Familie, die sich nachts herumstritt und morgens Teppiche klopfte. Leamas besaß wenig, womit er die Räume verschönern konnte. Er kaufte einige Lampenschirme, um die Glühbirnen abzudecken, und zwei Paar Laken anstelle des Sackleinens, mit dem der Hausherr die Betten überzogen hatte. Den Rest tolerierte Leamas: die Blumenmustervorhänge, die weder eingefaßt noch eingesäumt waren, die braunen, abgenützten Teppiche und die plumpen Möbel aus dunklem Holz, die aus einer Seemannsherberge zu stammen schienen. Aus einem gelben, zerfallenen Badeofen erhielt er für einen Shilling heißes Wasser.

Er brauchte Arbeit. Er hatte überhaupt kein Geld mehr. Deshalb mochte auch die Unterschlagungsgeschichte wahr sein. Die Angebote des Geheimdienstes, bei der Arbeitssuche behilflich zu sein, schienen Leamas lauwarm und merkwürdig unangemessen zu sein. Er versuchte zuerst, eine kaufmännische Arbeit zu bekommen. Eine Fabrik industrieller Klebstoffe zeigte Interesse für seine Bewerbung um den Posten eines Direktionsassistenten und Personalchefs. Das Zeugnis, das ihm der Geheimdienst ausgestellt hatte, war unzureichend, aber man nahm keinen Anstoß daran und verlangte keinen weiteren Befähigungsnachweis. Man bot ihm sechshundert Pfund im Jahr. Er blieb eine Woche, und in dieser Zeit durchdrang der üble Gestank faulenden Fischöls seine Kleider, sein Haar und setzte sich in seinen Nasenlöchern wie der Geruch des Todes fest. Kein noch so häufiges Waschen konnte ihn entfernen, so dass Leamas am Schluß sein Haar bis auf die Kopfhaut abschneiden ließ und zwei seiner besten Anzüge wegwarf. Er verbrachte eine weitere Woche mit dem Versuch, in den Vororten Londons Nachschlagewerke an Hausfrauen zu verkaufen, aber er war nicht der Mann, den Hausfrauen schätzten oder verstanden. Sie hatten nicht auf Leamas gewartet, gar nicht zu reden von seinen Enzyklopädien. Nacht für Nacht kehrte er mit seinem lächerlichen Musterband unter dem Arm müde in seine Wohnung zurück. Am Ende der Woche rief er die Firma an und sagte, dass er nichts verkauft habe. Sie waren nicht überrascht und erinnerten ihn nur an seine Verpflichtung, das Muster zurückzugeben, sobald er nicht mehr für sie arbeiten wollte, und legten auf. Wütend verließ Leamas die Telefonzelle, ließ den Musterband dort liegen und ging in die Kneipe, um sich für fünfundzwanzig Shilling zu betrinken, was er sich eigentlich nicht leisten konnte. Als er eine Frau anschrie, die ihn mitnehmen wollte, warf man ihn hinaus und verbot ihm, jemals wiederzukommen. Aber eine Woche später war alles vergessen. Leamas begann dort bekannt zu werden.

Auch anderswo fing man an, seine graue, torkelnde Gestalt zu kennen, die eigentlich in ein feineres Wohnviertel zu gehören schien. Er sprach niemals und hatte keinen einzigen Freund, sei es ein Mann, eine Frau oder ein Tier. Man nahm an, dass er in Schwierigkeiten steckte, dass er höchstwahrscheinlich seiner Frau davongelaufen war. Beim Einkaufen wußte er nie den Preis der Ware, sooft er ihm auch gesagt worden war - er konnte sich nie daran erinnern. Wenn er Kleingeld suchte, klopfte er immer alle Taschen ab. Er vergaß stets, einen Korb mitzubringen, und kaufte jedesmal einen Tragbeutel. In seiner Straße mochte man ihn nicht, aber man fühlte fast ein gewisses Mitleid mit ihm. Man war auch der Ansicht, dass er schmutzig sei, weil er sich am Wochenende nicht rasierte und seine Hemden ganz schmierig waren. Eine Woche lang machte eine Mrs. McCaird aus der Sudbury Avenue bei ihm sauber, aber sie gab die Arbeit wieder auf, weil er nie ein einziges freundliches Wort mit ihr gesprochen hatte. Sie war in dieser Straße, deren Kaufleute einander versicherten, dass man für den Fall, Leamas wolle Kredit haben, im Bilde sein müsse, eine wichtige Informationsquelle. Mrs. McCaird war gegen Kredit. Leamas bekomme nie Post, sagte sie, und dies war ernst zu nehmen - darin waren sich alle einig. Er besitze keine Bilder und nur wenige Bücher, von denen eines ihrer Ansicht nach wohl schmutzig sein müßte, auch wenn sie sich dessen nicht ganz sicher sein konnte, da es in einer fremden Sprache geschrieben war. Sie vertrat die Meinung, er bestreite sein Leben von einem Rest seines Besitzes, dass aber dieser Rest zu Ende gehe. Sie wüßte, dass er jeden Dienstag die Arbeitslosenunterstützung abholte.

Bayswater war gewarnt und brauchte keine zweite Warnung. Man hörte von Mrs. McCaird, dass er soff wie ein Loch, und der Kneipenwirt bestätigte es. Wirte und Zugehfrauen sind meist nicht so gestellt, dass sie ihren Kunden Kredit einräumen könnten, aber ihre Informationen werden von den Leuten geschätzt, die dazu in der Lage wären.

Загрузка...