16 VERHAFTUNG

Fiedler und Leamas fuhren den Rest der Strecke schweigend zurück. In der Dämmerung sahen die Hügel wie schwarze Höhlen aus, und entfernte Lichter kämpften als winzige Punkte gegen die stärker werdende Dunkelheit wie die Lampen weit vorbeiziehender Schiffe auf See.

Fiedler parkte den Wagen in einem Schuppen neben dem Haus, und sie gingen gemeinsam zur Eingangstür. Sie wollten gerade das Haus betreten, als jemand von den Bäumen her Fiedlers Namen rief. Sie drehten sich um, und Leamas sah zehn Meter entfernt drei Männer im Zwielicht stehen, die offenbar darauf warteten, dass Fiedler zu ihnen hinübergehe.

»Was wollen Sie?« fragte Fiedler.

»Wir wollen Sie sprechen, wir sind aus Berlin.«

Fiedler zögerte. »Wo ist dieser verdammte Wachtposten?« fragte er Leamas. »An der Tür sollte doch ein Posten sein.«

Leamas zuckte die Achseln.

»Warum ist das Licht in der Diele nicht eingeschaltet?« fragte Fiedler. Dann schritt er langsam auf die Männer zu.

Leamas wartete einen Augenblick. Als er nichts hörte, durchquerte er das dunkle Haus zum Anbau, einer Baracke, die sich an die Rückseite des Hauses lehnte und von einem jungen Kieferndickicht umgeben war. Die Hütte war in drei ineinander übergehende Schlafräume aufgeteilt. Den mittleren Raum hatte man Leamas gegeben, während der Raum, in den man vom Hauptgebäude zuerst trat, von zwei Wachtposten belegt war. Leamas wußte nicht, wer den dritten bewohnte. Er hatte einmal versucht, die von seinem Zimmer hinüberführende Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Als er eines Morgens sehr früh seinen Spaziergang machte, entdeckte er nur, dass es ein Schlafraum war. Er hatte vom Fenster her durch einen schmalen Spalt des Spitzenvorhanges gespäht, während die beiden Posten, die ihm in einem Abstand von zwanzig Metern überallhin folgten, noch nicht um die Ecke der Hütte herumgekommen waren. Der Raum enthielt ein einzelnes Bett, das gemacht war, und einen kleinen Schreibtisch mit Papieren darauf. Er nahm an, dass er von jemandem mit der sogenannten deutschen Gründlichkeit von diesem Schlafraum aus beobachtet wurde. Aber Leamas war ein zu alter Fuchs, um sich durch Überwachung stören zu lassen. In Berlin war es ein Bestandteil des Alltags gewesen, und wenn man es nicht bemerkte - um so schlimmer: das hieß nur, dass die anderen vorsichtiger geworden waren, oder man selbst nachlässiger. Im allgemeinen entdeckte er seine Schatten immer sehr schnell. Er war eben in solchen Dingen erfahren, wachsam und hatte ein gutes Gedächtnis. Er war, kurz gesagt, in seinem Beruf sehr tüchtig. Er kannte die Art, in der sich die Beschattungsgruppen am liebsten staffelten, kannte ihre Tricks und Schwächen und die vorübergehenden Fehler, durch die sie sich manchmal verrieten. Leamas war es gewohnt, beobachtet zu werden, aber als er durch den behelfsmäßigen Gang vom Haus zur Hütte ging und in dem Schlafraum der Posten stand, hatte er das deutliche Gefühl, etwas sei nicht in Ordnung.

Die Beleuchtung im Anbau konnte nur von einer zentralen Stelle aus, von unsichtbarer Hand, geschaltet werden. Morgens wurde er oft durch das plötzliche Aufflammen der einzigen Lampe an der Decke seines Zimmers geweckt. Abends trieb ihn gewöhnlich überraschende Finsternis ins Bett. Als er jetzt den Anbau betrat, war es erst neun Uhr, aber das Licht war schon aus, und die Läden vor den Fenstern waren geschlossen. Er hatte die Verbindungstür vom Haus her offengelassen, so dass von der Diele her schwaches Zwielicht in den Schlafraum der Posten fiel, aber es war zu finster, um mehr als die Umrisse der zwei leeren Betten zu sehen. Während er sich im Zimmer überrascht umschaute, weil niemand da war, fiel die Tür hinter ihm zu. Vielleicht von selbst, aber Leamas machte keinen Versuch, sie wieder zu öffnen. Es war stockfinster. Kein Laut begleitete das Schließen der Tür, kein Klicken, kein Schritt. Leamas, dessen Sinne plötzlich hellwach geworden waren, hatte das gleiche Gefühl wie im Kino, wenn der Ton überraschend ausfällt. Dann roch er die Zigarre, ihr Rauch mußte in der Luft gehangen haben, aber erst jetzt bemerkte er ihn. Wie bei einem Blinden schärfte die Dunkelheit seinen Tast- und Geruchssinn.

Er hatte Streichhölzer in seiner Tasche, aber er benutzte sie nicht. Er schlich zur Wand, gegen die er seinen Rücken preßte, während er bewegungslos wartete. Leamas konnte sich das alles nur so erklären, dass sie ihn in seinem eigenen Zimmer erwarteten, und er entschloß sich deshalb zu bleiben, wo er war. Die Tür, die sich gerade geschlossen hatte, wurde geprüft, das Schloß herumgedreht und versperrt. Noch immer bewegte sich Leamas nicht. Noch nicht. Kein Zweifel: er war in der Hütte gefangen. Sehr langsam hockte sich Leamas jetzt nieder und steckte zugleich eine Hand in die Seitentasche seiner Jacke. Er war ganz ruhig. Die Aussicht auf Aktivität erleichterte ihn fast. Erinnerungen kamen ihm in den Sinn. »Sie haben fast immer eine Waffe: einen Aschenbecher, ein paar Geldstücke, einen Füllfederhalter - alles, was schlägt und sticht.« Es war der Lieblingsspruch des freundlichen kleinen Waliser Feldwebels in jenem Haus bei Oxford, während des Krieges. »Gebrauchen Sie nie beide Hände zugleich, weder bei einem Messer, einem Stock, noch einem Revolver. Lassen Sie Ihren linken Arm frei und halten Sie ihn vor den Leib. Wenn Sie nichts zum Schlagen haben, dann halten Sie Ihre Hände offen und die Daumen steif.« Er nahm die Schachtel Streichhölzer der Länge nach in die rechte Hand und zerdrückte sie langsam, so dass die kleinen rauhen Kanten des Schachtelholzes ihm zwischen den Fingern herausschauten. Dann tastete er sich an der Wand bis zu dem Stuhl, der - wie er wußte - in der Ecke des Raumes stand. Ohne auf den Lärm Rücksicht zu nehmen, den er dabei machte, schob er den Stuhl in die Mitte des Zimmers. Er zählte seine Schritte, während er vom Stuhl in die Ecke zurückschlich. Noch ehe er sie erreicht hatte, hörte er, wie die Tür seines Schlafzimmers aufgestoßen wurde. Er versuchte vergeblich, in der Dunkelheit zu erkennen, ob eine Gestalt in der Tür stand, die Finsternis war undurchdringlich. Noch riskierte er keinen Angriff, denn es war sein taktischer Vorteil, dass er, im Gegensatz zu dem anderen, wußte, wo der Stuhl stand. Er wünschte sehr, dass sie jetzt kamen, um ihn zu holen, denn er konnte nicht warten, bis ihr Helfer draußen den Hauptschalter erreicht und das Licht eingeschaltet hatte.

»Los doch, ihr mistigen Hunde«, rief er auf deutsch. »Hier bin ich, in der Ecke. Kommt und holt mich, wenn ihr könnt.«

Keine Bewegung, nicht ein Laut.

»Hier bin ich, könnt ihr mich nicht sehen? Was ist denn los mit euch, Kinder, kommt her, könnt ihr nicht?« Und dann hörte er jemanden kommen, dahinter einen zweiten, und dann den Fluch eines Mannes, der an den Stuhl stieß. Das war das Zeichen, auf das Leamas gewartet hatte. Er warf die Streichholzschachtel weg und tappte vorsichtig Schritt für Schritt vorwärts, wobei er seinen linken Arm ausgestreckt hielt, als schütze er sich im Wald vor zurückschnellenden Zweigen. Er stieß schließlich sacht an einen Arm und er fühlte die rauhe Wärme von Uniformstoff. Mit der linken Hand tupfte Leamas zweimal auf den Arm, und er hörte dicht an seinem Ohr eine erschrockene Stimme in deutscher Sprache flüstern: »Bist du das, Hans?«

»Hält's Maul, du Esel«, flüsterte Leamas, gleichzeitig packte er den Mann an seinen Haaren und zerrte dessen Kopf nach unten, während er ihm mit der Kante der rechten Hand einen wuchtigen Hieb in den Nacken versetzte. Er zerrte ihn am Arm nochmals hoch und schlug ihm seine Faust an die Kehle. Dann überließ er den Körper der Schwerkraft, die ihn auf den Boden zog. Gleichzeitig mit dem Aufschlag des Körpers ging das Licht an. In der Tür stand ein Zigarre rauchender junger Hauptmann der Volkspolizei, dahinter zwei Männer. Einer von ihnen war ziemlich jung, er trug Zivil und hielt eine Pistole in der Hand. Leamas glaubte, es sei wohl eine tschechische Waffe, da sie einen Ladehebel oben auf dem Griff hatte. Alle blickten auf den Mann am Boden. Jemand sperrte die äußere Tür auf, und Leamas wollte sehen, wer das war. Aber während er sich umdrehte, kam der knappe Befehl, sich nicht zu bewegen - Leamas glaubte, der Hauptmann habe ihn gegeben. Langsam wandte er sich wieder den drei Männern zu. Er hatte die Hände noch an der Seite, als der Schlag kam. Er schien ihm den Schädel zu zertrümmern. Noch während er, in warme Bewußtlosigkeit sinkend, zu Boden fiel, fragte er sich, ob er mit einem jener alten Revolver geschlagen worden war, die zur Befestigung der Lederschlaufe einen lockeren Ring unten am Kolben haben.

Er wurde durch den Gesang eines Häftlings wach, und durch den geschrienen Befehl eines Wärters, der Häftling solle den Mund halten. Leamas öffnete die Augen, und wie gleißendes Licht brach der Schmerz in sein Gehirn. Dennoch widerstand er dem Drang, die Augen wieder zu schließen. Er lag ganz ruhig und beobachtete grellbunte Bruchstücke, die durch sein Gesichtsfeld rasten. Er versuchte, sich zurechtzufinden: seine Füße waren eiskalt, und in seiner Nase spürte er den beißenden Gestank von Häftlingskleidung. Der Gesang hatte aufgehört, und Leamas wünschte sich plötzlich, er möge wieder anfangen. Freilich wußte er, dass er ihn nie mehr hören würde. Er versuchte, seine Hand zu heben und die Blutkrusten auf seinem Gesicht zu betasten, aber seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Auch seine Füße waren wahrscheinlich gefesselt, da sie blutleer und eiskalt waren. Der Versuch, sich umzusehen und den Kopf dazu etwas vom Boden zu heben, verursachte ihm große Schmerzen. Zu seiner Überraschung sah er seine Knie vor sich. Als er seine Beine instinktiv strecken wollte, fuhr durch seinen ganzen Körper ein so plötzlicher, schrecklicher Schmerz, dass er einen gurgelnden Schrei ausstieß, der wie ein Todesschrei eines Menschen auf der Folterbank klang. Während er dann still lag, bemühte er sich keuchend, den Schmerz zu unterdrücken. Aus schierem Eigensinn versuchte er noch einmal ganz langsam, seine Beine zu strecken. Sofort kehrten die furchtbaren Schmerzen zurück, aber jetzt hatte er den Grund dafür entdeckt: Seine Hände und Füße waren auf dem Rücken zusammengekettet. Sobald er die Beine streckte, straffte sich dadurch die Kette und zog seine Schultern und den verletzten Kopf auf den Steinboden herunter. Sie mußten ihn zusammengeschlagen haben, als er bewußtlos war. Sein ganzer Körper war steif und zerschunden, und der Rücken schmerzte. Er fragte sich, ob er den Posten getötet hatte. Er hoffte es. Über ihm schien das Licht. Es war groß und hell, wie in einer Klinik. Keine Möbel, nur weißgekalkte Wände und eine in Anthrazitgrau gestrichene Stahltür, die die gleiche Farbe wie manche moderne Londoner Häuser hatte. Nichts sonst. Überhaupt nichts. Nichts, worüber man nachdenken konnte, nur der wilde Schmerz.

Er mußte Stunden so gelegen sein, ehe sie kamen. Das Licht ließ es in der Zelle heiß werden, und er war durstig, aber er widerstand dem Wunsch, zu rufen. Schließlich öffnete sich die Tür, und da stand Mundt. Er erkannte Mundt an seinen Augen. Smiley hatte ihm von diesen Augen erzählt.

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