13 NADELN ODER KLAMMERN

Fiedler liebte es, Fragen zu stellen. Manche stellte er nur zu seinem eigenen Vergnügen, da es ihm als Juristen Spaß machte, den Widerspruch zwischen Augenschein und tieferer Wahrheit aufzudecken. Er besaß eben jene beharrliche Wißbegierde, die bei Journalisten und Rechtsanwälten oft Selbstzweck ist.

An diesem Nachmittag machten sie einen Spaziergang. Sie folgten der sandigen Straße ins Tal hinunter und gingen dann auf einem ausgefahrenen Weg, neben dem geschlagenes Holz gestapelt war, in den Wald hinein. Während der ganzen Zeit bohrte Fiedler mit seinen Fragen weiter, ohne selbst etwas beizusteuern. Er wollte mehr Einzelheiten über das Gebäude am Cambridgerondell wissen und über die Menschen, die dort arbeiten. Aus welcher sozialen Schicht kamen sie, in welchem Teil Londons wohnten sie, durften Ehepaare in der gleichen Abteilung arbeiten? Er fragte nach Einkommen, Urlaub, Moral, Kantine, nach Liebesleben, Klatsch und Weltanschauung. Am meisten fragte er nach ihrer Weltanschauung.

Für Leamas war das die schwerste Frage von allen.

»Was meinen Sie mit Weltanschauung?« fragte er. »Wir sind keine Marxisten, wir sind nichts. Bloß Menschen.«

»Sind sie dann Christen?«

»Nicht viele, würde ich sagen. Ich jedenfalls kenne nicht viele.«

»Weshalb tut man dann diese Arbeit?« beharrte Fiedler. »Sie müssen doch eine Weltanschauung haben.«

»Warum müssen sie? Vielleicht wissen sie es nicht, wahrscheinlich kümmerte sie es nicht einmal. Es hat nicht jeder Mensch eine Weltanschauung«, antwortete Leamas ein wenig hilflos.

»Dann verraten Sie mir wenigstens Ihre eigene Philosophie!«

»Großer Gott«, seufzte Leamas. Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Aber Fiedler ließ sich damit nicht abweisen.

»Wenn sie nicht genau wissen, was sie wollen - wie können sie behaupten, im Recht zu sein?«

»Wer, zum Teufel, hat gesagt, dass sie das behaupten?« erwiderte Leamas gereizt.

»Aber womit rechtfertigen sie dann ihre Arbeit? Womit? Für uns ist das leicht. Das habe ich Ihnen schon letzte Nacht erklärt. Die ›Abteilung‹ und ähnliche Organisationen sind der verlängerte Arm der Partei, sozusagen die Vorhut im Kampf für Frieden und Fortschritt. Sie haben für die Partei die gleiche Bedeutung, die die Partei für den Sozialismus hat: sie sind die Vorhut.« Fiedler lächelte trocken: »Stalin hat einmal gesagt - es ist nicht modern, Stalin zu zitieren -, aber Stalin hat einmal gesagt, eine halbe Million Liquidierte seien Statistik, während ein einzelner Mensch, der bei einem Verkehrsunfall getötet wird, eine nationale Tragödie darstellt. Er lachte über die bürgerliche Gefühlsduselei der Masse, verstehen Sie? Er war ein großer Zyniker. Aber das, was er damit ausdrücken wollte, gilt noch immer:

Eine Bewegung, die sich vor der Gegenrevolution zu schützen hat, kann es sich kaum leisten, auf die Ausnutzung oder sogar auf die Vernichtung einiger Einzelwesen zu verzichten. All dies ist ein großer Zusammenhang. Wir haben nie behauptet, dass es bei dem Prozeß der vernünftigen Umgestaltung der Gesellschaft völlig gerecht zugeht. Aber hat nicht irgendein Römer in der Bibel gesagt, es sei der Tod eines einzelnen angebracht, wenn er dem Wohl vieler dient?«

»Ich nehme es an«, sagte Leamas müde.

»Also, wie denken Sie, was ist Ihre Philosophie?«

»Ich glaube, dass ihr alle miteinander Saukerle seid«, sagte Leamas wütend.

Fiedler nickte. »Das ist ein Standpunkt, den ich verstehe. Er ist primitiv, negativ und sehr dumm - aber es ist ein Standpunkt. Er existiert. Aber wie steht's mit dem Rest des Rondells?«

»Ich weiß nicht. Wie sollte ich auch?«

»Haben Sie mit Ihren Kollegen nie über Weltanschauung diskutiert?«

»Nein. Wir sind keine Deutschen.« Er zögerte und fügte dann unbestimmt hinzu: »Den Kommunismus lehnen sie, glaube ich, ab.«

»Und damit rechtfertigt man beispielsweise die Opferung menschlichen Lebens? Das rechtfertigt die Bombe im überfüllten Lokal, die Verlustrate eurer Agenten - all das wird dadurch gerechtfertigt?«

Leamas zuckte die Achseln. »Ich nehme es an.«

»Für uns sind diese Dinge gerechtfertigt«, fuhr Fiedler fort. »Ich selbst hätte in einem Lokal eine Bombe gelegt, wenn uns das auf unserem Weg vorangebracht hätte. Ich würde nachher die Bilanz ziehen: so viele Frauen, so viele Kinder - aber auch so und so viel auf unserem Weg weiter. Aber Christen dürfen diese Bilanz nicht ziehen - und Ihre Gesellschaftsordnung ist eine christliche.«

»Warum nicht? Sie müssen sich verteidigen, oder?«

»Aber Christen glauben an die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens. Sie glauben, dass jeder Mensch eine Seele hat, die gerettet werden kann. Sie glauben an Opfer.«

»Ich weiß nicht«, sagte Leamas. »Ich scher' mich nicht viel drum.« Und dann: »Stalin tat es auch nicht, oder?«

Fiedler lächelte. »Ich mag die Engländer«, sagte er, als spräche er zu sich selbst. »Mein Vater schätzte sie auch. Er mochte die Engländer sehr gern.«

»Davon wird mir ganz warm ums Herz«, erwiderte Leamas. Er versank in Schweigen.

Sie blieben stehen, während Fiedler Leamas eine Zigarette und Feuer gab.

Es ging jetzt steil bergan. Leamas tat die körperliche Bewegung wohl, und er ging mit langen Schritten und vorgebeugten Schultern voran. Fiedler folgte ihm. Er war hager und behende und wirkte wie ein Terrier, der hinter seinem Herrn herläuft. Sie waren vielleicht eine Stunde oder etwas mehr gegangen, als sich plötzlich die Bäume über ihnen lichteten und der Himmel zum Vorschein kam. Sie hatten die Spitze eines kleinen Hügels erreicht und konnten auf die dichte Masse der Kiefern hinuntersehen, zwischen denen nur vereinzelte Buchenwipfel als graue Flecken hervorleuchteten. Jenseits des Tales entdeckte Leamas plötzlich dicht unter dem Kamm des gegenüberliegenden Hügels das Jagdhaus, flach und dunkel lag es vor den Bäumen. In der Mitte der Lichtung stand eine rohgezimmerte Bank neben einem Stapel von Baumstämmen und den feuchten Überresten eines Holzfeuers.

»Wir werden uns einen Moment hinsetzen«, sagte Fiedler. »Dann müssen wir zurückgehen.« Er machte eine Pause. »Sagen Sie: Was haben Sie eigentlich gedacht, für welchen Zweck dieses Geld, die großen Summen in ausländischen Banken, gezahlt worden ist?«

»Na, was glauben Sie? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass diese Zahlungen für einen Agenten waren.«

»Für einen Agenten hinter dem Eisernen Vorhang?«

»Ja, das dachte ich«, antwortete Leamas gereizt.

»Wie kamen Sie darauf?«

»Erstens war es sehr viel Geld. Dann die verwickelte Art, in der man ihn bezahlte, die besondere Vorsicht dabei. Und natürlich, weil der Chef in allem mit drin war.«

»Was hat der Agent Ihrer Ansicht nach mit dem Geld gemacht?«

»Schauen Sie, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich es nicht weiß. Ich weiß ja nicht einmal, ob er es abgeholt hat. Ich hatte überhaupt keinen Einblick - ich war doch nur ein lausiger Botenjunge.«

»Was machten Sie mit den Kontoheften für die Depositenkonten?«

»Die habe ich nach meiner Rückkehr in London abgeliefert, zusammen mit meinem falschen Paß.«

»Haben die Banken in Kopenhagen und Helsinki jemals nach London an Sie geschrieben - unter Ihrem Decknamen, meine ich?«

»Ich weiß nicht. Ich nehme an, dass auf jeden Fall alle Briefe direkt beim Chef gelandet wären.«

»Die von Ihnen bei der Eröffnung der Konten geleisteten falschen Unterschriften - hatte der Chef ein Muster davon?«

»Ja. Zur Übung hatte ich eine ganze Menge Unterschriften angefertigt, und sie hatten sich Muster davon aufgehoben.«

»Mehr als eins?«

»Ja. Ganze Seiten voll.«

»Ich verstehe. Nachdem Sie die Konten eröffnet hatten, konnte man jederzeit Briefe an die Banken schicken, ohne dass Sie davon hätten wissen müssen. Man konnte die Unterschriften nachmachen und die Briefe ohne Ihr Wissen verschicken.«

»Ja, das ist richtig. Ich nehme an, dass man es so machte. Ich unterschrieb auch viele leere Briefbögen. Ich war immer der Meinung, dass ein anderer die Korrespondenz erledigte.«

»Aber tatsächlich gewußt haben Sie nie etwas von solcher Korrespondenz?«

Leamas schüttelte den Kopf. »Sie haben das alles noch nicht richtig begriffen«, sagte er, »Sie sehen diese Sachen nicht im richtigen Größenverhältnis zueinander. Wir hatten doch mit ungeheuer viel Papierkram zu tun, und diese Angelegenheit war nicht mehr als ein kleiner Teil der täglichen Arbeit. Ich habe nicht viel darüber nachgedacht. Warum sollte ich auch? Es war zwar Geheimsache, aber mein ganzes Leben hatte ich mit Dingen zu tun, von denen ich nur einen kleinen Teil wußte, während irgendein anderer den Rest kannte. Außerdem langweilt mich Papierkram. Deshalb habe ich bestimmt keinen Schlaf verloren. Natürlich ging ich gern auf diese Reisen - bekam Extraspesen, was angenehm war. Aber deshalb dachte ich doch nicht den ganzen Tag über ›Rollstein‹ nach, wenn ich an meinem Schreibtisch saß. Und außerdem«, fügte er etwas verlegen hinzu, »fing ich damals etwas zu trinken an.«

»So sagten Sie«, bemerkte Fiedler, »und natürlich glaube ich Ihnen.«

»Das ist mir ganz egal, ob Sie mir glauben oder nicht«, gab Leamas aufgebracht zurück.

Fiedler lächelte. »Gott sei Dank«, sagte er. »Das ist ja gerade das Gute an Ihnen. Das Gute ist Ihre Gleichgültigkeit. Sie sind einmal ein bißchen wütend, einmal ein bißchen hochmütig, aber das macht nichts. Das verändert das Bild nicht mehr, als eine Stimme durchs Tonband verzerrt wird. Sie sind objektiv.« Fiedler fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Es kam mir der Gedanke, dass wir mit Ihrer Hilfe immer noch feststellen könnten, ob jemals von diesem Geld abgehoben worden ist. Es kann Sie nichts daran hindern, den Banken zu schreiben und sie um eine laufende Abrechnung zu bitten. Wir könnten schreiben, dass Sie in der Schweiz seien, und eine dortige Adresse angeben. Sehen Sie irgendeine Schwierigkeit dabei?«

»Es könnte funktionieren. Es hängt davon ab, ob der Chef unter meinem Decknamen schon mit der Bank korrespondiert hat. Mein Brief könnte in diese Korrespondenz nicht hineinpassen.«

»Ich sehe nicht, was wir dabei zu verlieren hätten.«

»Was haben Sie zu gewinnen?«

»Wenn das Geld abgehoben worden ist - was natürlich nicht feststeht -, könnten wir dadurch erfahren, wo sich der Agent an einem bestimmten Tag aufgehalten hat. Mir erscheint es nicht unwichtig, das zu wissen.«

»Sie träumen ja! Mit solchen Hinweisen werden Sie ihn niemals finden. Wenn er einmal irgendwo im Westen ist, kann er auf jedes Konsulat gehen und sich ein Visum für ein anderes Land holen. Was haben Sie also davon, wenn Sie wissen, wann das Geld abgehoben wurde? Sie wissen doch nicht einmal, ob der Mann Ostdeutscher ist. Was soll das also?«

Fiedler antwortete nicht sofort. Er starrte zerstreut über das Tal hinweg.

»Sie sagten, Sie seien es gewohnt, immer nur einen Teil zu wissen. Ich kann Ihre Frage jetzt nicht beantworten, ohne dass ich Ihnen dabei etwas sage, was Sie nicht wissen sollen.« Er zögerte. »Aber ›Rollstein‹ war eine Operation gegen uns, das kann ich Ihnen versichern.«

»Uns?«

»Die Deutsche Demokratische Republik.« Er lächelte: »Die Zone, wenn Ihnen das lieber ist. So empfindlich bin ich da nicht.«

Jetzt beobachtete er Leamas und ließ seine braunen Augen nachdenklich auf ihm ruhen.

»Aber was ist mit mir?« fragte Leamas. »Angenommen, ich schreibe die Briefe nicht?« Seine Stimme hob sich. »Ist es nicht Zeit, über mich zu sprechen?«

Fiedler nickte.

»Warum nicht?« erwiderte er verbindlich.

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sagte Leamas: »Ich habe mein Teil getan, Fiedler, Sie und Peters haben alles bekommen, was ich weiß. Ich habe nie zugesagt, Briefe an Banken zu schreiben. So etwas könnte sehr gefährlich werden. Ich weiß, das ist Ihnen egal. Wenn's nach Ihnen geht, kann man mich schon abschreiben.«

»Lassen Sie mich offen sein«, entgegnete Fiedler. »Es gibt, wie Sie wissen, in der Befragung jedes Überläufers zwei Etappen. In Ihrem Fall ist die erste beinahe abgeschlossen. Sie haben uns alles gesagt, was wir nach den Maßstäben der Vernunft gebrauchen können. Sie haben uns aber nicht gesagt, ob Ihr Geheimdienst beispielsweise Nadeln oder Papierklammern verwendet - Sie haben es nicht erzählt, weil ich Sie nicht danach gefragt habe, und weil Sie es für zu unwichtig hielten, um es von sich aus zu sagen. Beide Seiten treffen eben eine unbewußte Auswahl. Es ist nun immer möglich - und das beunruhigt mich, Leamas -, dass wir in ein oder zwei Monaten plötzlich aus irgendeinem unvorhergesehenen und sehr wichtigen Grund über Nadeln und Klammern Bescheid wissen müssen. Diesem Umstand wird normalerweise in der zweiten Etappe Rechnung getragen - in jenem Teil des Abkommens, den Sie in Holland nicht akzeptieren wollten.«

»Sie meinen - Sie werden mich auf Eis legen?«

»Der Beruf eines Verräters«, bemerkte Fiedler mit einem Lädieln, »erfordert große Geduld. Sehr wenige sind dafür geeignet.«

»Wie lange?« fragte Leamas hartnäckig.

Fiedler schwieg.

»Nun?«

Als Fiedler zu sprechen begann, nahm seine Stimme plötzlich einen dringlichen Unterton an: »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihnen die Antwort auf Ihre Frage geben werde, sobald es mir möglich ist. Sehen Sie, ich könnte Sie leicht belügen, oder nicht? Ich könnte sagen, es werde einen Monat oder noch weniger dauern, nur um Sie in Stimmung zu halten. Aber ich sage Ihnen: ich weiß es nicht, denn das ist die Wahrheit. Sie haben uns einige Hinweise gegeben, und ehe wir denen nicht nachgegangen sind, kann ich nicht daran denken, Sie laufenzulassen. Aber wenn die Dinge wirklich so liegen, wie ich es glaube, dann werden Sie später einen Freund brauchen. Und dieser Freund werde ich sein. Ich gebe Ihnen mein Wort als Deutscher.«

Leamas war so verblüfft, dass er einen Augenblick schwieg.

»Gut«, sagte er schließlich, »ich spiele mit, Fiedler. Aber wenn Sie mich hinhalten, dann werde ich Ihnen irgendwie das Genick brechen.«

»Das wird wohl nicht nötig sein«, sagte Fiedler ruhig.

Ein Mann, der nicht nur anderen, sondern auch sich selbst eine Rolle vorlebt, ist offensichtlich psychologischen Gefahren ausgesetzt. An sich stellt die Tätigkeit des Täuschens keine übermäßigen Anforderungen an den Menschen. Es ist eine Frage der Erfahrung, des beruflichen Könnens, es ist eine Fähigkeit, die sich die meisten von uns aneignen können. Aber während ein Betrüger, ein Schauspieler oder ein Hasardeur nach seiner Vorstellung in die Reihen seiner Bewunderer zurücktreten kann, hat der Geheimagent keine Möglichkeit, sich diese Erleichterung zu verschaffen. Für ihn ist die Täuschung anderer in erster Linie eine Frage der Selbsterhaltung. Für ihn genügt es nicht, sich nur nach außen abzuschirmen, er muß sich auch vor seinem eigenen Inneren schützen, und zwar gegen die natürlichsten Impulse. Obwohl er vielleicht ein Vermögen verdient, kann es durchaus sein, dass ihm seine Rolle den Kauf eines Rasiermessers verbietet. Obwohl er gebildet sein mag, darf er möglicherweise nichts als Banalitäten murmeln. Sei er ein liebevoller Gatte und Vater: er muß sich unter allen Umständen gerade von jenen abkapseln, denen natürlicherweise sein Vertrauen gehört.

Da sich Leamas durchaus der fast unwiderstehlichen Versuchungen bewußt war, denen ein Mann angesichts der Tatsache ausgesetzt ist, dass er unter der Maske ständig allein mit seiner Lüge leben muß, nahm er zu einem Verhalten Zuflucht, das ihm den besten Schutz bot; er zwang sich, die Rolle der vorgetäuschten Persönlichkeit auch dann beizubehalten, wenn er allein war. Angeblich hat sich Balzac auf seinem Totenbett besorgt nach Gesundheit und Wohlergehen der von ihm selbst geschaffenen Figuren erkundigt. In ähnlicher Weise identifizierte sich Leamas, ohne auf Erfindungskraft zu verzichten, mit dem, was er erfunden hatte. Die Eigenarten, die er vor Fiedler entfaltete, seine rastlose Unberechenbarkeit, seine Arroganz, hinter der er das schlechte Gewissen zu verbergen trachtete, waren seinen eigenen, ursprünglichen Eigenschaften nicht etwa nur angenähert, sondern aus ihnen heraus durch eine gewisse Übertreibung entwickelt, also auch das leichte Schlurfen der Füße, die Vernachlässigung seiner äußeren Erscheinung, die Gleichgültigkeit, die er dem Essen gegenüber zeigte, und sein steigendes Bedürfnis nach Alkohol und Tabak. Auch wenn er allein war, blieb er diesen Gewohnheiten treu. Er pflegte sie dann sogar etwas zu übertreiben und er hielt Selbstgespräche über die Ungerechtigkeit, mit der ihn sein Geheimdienst behandelt habe.

Nur sehr selten, wie jetzt an diesem Abend, gestattete er sich während des Zubettgehens den gefährlichen Luxus, die große Lüge, die er lebte, vor sich selbst einzugestehen.

Der Chef hatte in erstaunlicher Weise recht gehabt. Fiedler stolperte mit schlafwandlerischer Sicherheit in das Netz, das ihm der Chef gelegt hatte. Es war unheimlich, die wachsende Gleichartigkeit der Interessen zwischen Fiedler und dem Chef zu beobachten: fast schien es, als hätten sie sich auf ein gemeinsames Vorhaben geeinigt und als sei Leamas zu seiner Durchführung ausgeschickt worden.

Vielleicht war das die Antwort. Vielleicht war Fiedler die geheime Informationsquelle, um deren Erhaltung der Chef so verzweifelt bemüht war. Aber Leamas vermied es, über diese Möglichkeit weiter nachzudenken. Er wollte es nicht wissen. In dieser Beziehung war er alles andere als neugierig. Er wußte, dass keinerlei Vorteil aus seinen möglichen Schlußfolgerungen erwachsen konnte. Trotzdem hoffte er zu Gott, dass es wahr sei. Es war möglich, gerade in diesem Fall war es möglich, dass er noch einmal nach Hause kommen könnte.

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