2 DAS RONDELL

Er beobachtete, wie die Startbahn von Tempelhof unter ihm wegsank.

Leamas war kein nachdenklicher Mann und nicht besonders philosophisch veranlagt. Er wußte, dass er abgeschrieben war - eine Tatsache, mit der er von jetzt an würde leben müssen, wie jemand mit seinem Krebsgeschwür oder in dem Bewußtsein leben muß, dass er eingesperrt ist. Er wußte, dass es kein Mittel gab, mit dessen Hilfe er die Kluft zwischen seinem bisherigen Dasein und der gegenwärtigen Situation hätte überbrücken können. Er nahm den Mißerfolg, wie er eines Tages wahrscheinlich den Tod hinnehmen würde: mit zynischem Groll und dem Mut des Einsamen. Er hatte länger als die meisten durchgehalten. Jetzt war er geschlagen worden. Man sagt, ein Hund lebe ebensolange wie seine Zähne. Im übertragenen Sinn waren Leamas die Zähne gezogen worden - und es war Mundt, der sie gezogen hatte.

Zehn Jahre früher hätte er den anderen Weg gehen können, hätte in dem anonymen Regierungsgebäude am Cambridge Circus, dem Rondell, einen Schreibtischposten einnehmen und so lange behalten können, bis er weiß Gott wie alt geworden wäre. Aber er war nicht von dieser Sorte. Ebensogut, wie man von Leamas erwarten konnte, dass er seine Außenarbeit gegen das einseitige Theoretisieren und das verstohlene Selbstinteresse Whitehalls eintauschen würde, hätte man einen Jockey ersuchen können, Angestellter bei der Wettannahme zu werden. Im vollen Bewußtsein, dass die Personalabteilung seinen Akt bereits für die Überprüfung am Ende eines jeden Jahres vorgemerkt hatte, war er in Berlin geblieben: eigensinnig, trotzig, unempfänglich für Belehrungen, immer in der Hoffnung, dass sich irgend etwas ergeben würde. Geheimdienstarbeit kennt nur einen moralischen Grundsatz - sie wird allein durch ihre Resultate gerechtfertigt. Selbst die Sophisterei Whitehalls ehrte dieses Gesetz - Leamas erzielte Resultate. Bis Mundt kam.

Es war seltsam, wie schnell Leamas begriffen hatte, dass Mundts Erscheinen ein böses Vorzeichen für ihn war.

Hans-Dieter Mundt, vor zweiundvierzig Jahren in Leipzig geboren: Leamas kannte seinen Akt, kannte das Lichtbild auf der Innenseite des Einbanddeckels, dies leere, harte Gesicht unter dem strohblonden Haar. Er wußte die Geschichte von Mundts Aufstieg zur Macht, zum zweiten Mann in der »Abteilung« und zum eigentlichen Leiter der Operationen auswendig. Mundt war sogar innerhalb seines Amtes verhaßt.

Leamas wußte all dies aus den Aussagen von Überläufern und von Riemeck, der als Mitglied des SED-Präsidiums gemeinsam mit Mundt in verschiedenen Sicherheitsausschüssen saß und ihn fürchtete. Zu Recht, wie sich später herausstellte, als Mundt ihn umbringen ließ.

Bis 1959 war Mundt in der »Abteilung« ein untergeordneter Funktionär gewesen, der in London unter dem Deckmantel der ostdeutschen Stahlmission operierte. Nachdem er zwei seiner besten Agenten ermordet hatte, um seine eigene Haut zu retten, kehrte er Hals über Kopf nach Ostdeutschland zurück, und länger als ein Jahr hörte man nichts mehr von ihm. Ganz plötzlich tauchte er im Leipziger Hauptquartier der »Abteilung« wieder auf, und zwar als Verantwortlicher für die Zuteilung von Geldmitteln, Ausrüstungsmaterial und Personal für Sonderaufgaben. Am Ende desselben Jahres fand der große Machtkampf innerhalb der »Abteilung« statt. Zahl und Einfluß der sowjetischen Verbindungsoffiziere wurden drastisch reduziert, man baute einige von der alten Garde aus ideologischen Gründen ab, und drei neue Männer stiegen auf: Fiedler als Chef der Abwehr, Jahn, der das Zuteilungsamt von Mundt übernahm, und - mit einundvierzig Jahren zum stellvertretenden Leiter der Operationen ernannt - Mundt selbst, der damit den größten Sprung getan hatte. Dann begann der neue Stil. Der erste Agent, den Leamas verlor, war ein Mädchen. Sie war nur ein kleines Glied in der Kette; sie wurde bei Kurierdiensten eingesetzt. Sie erschossen sie auf der Straße, als sie ein Westberliner Kino verließ. Die Polizei fand den Mörder nie, und Leamas neigte anfangs zu der Annahme, dass der Vorfall nicht im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit stand. Einen Monat später fand man einen ehemaligen Agenten aus Peter Guillams Netz - einen Dresdner Gepäckträger - tot und verstümmelt neben einem Eisenbahngleis. Leamas wußte, dass dies kein Zufall mehr war. Bald darauf wurden zwei Mitglieder unter Leamas' Kontrolle verhaftet und kurz und bündig zum Tode verurteilt. So ging es weiter: erbarmungslos und entnervend. Und jetzt hatten sie Karl, und Leamas verließ Berlin so, wie er gekommen war -ohne einen einzigen Agenten, der einen Groschen wert gewesen wäre. Mundt hatte gewonnen.

Leamas war ein kleiner Mann mit dichtem eisengrauen Haar und der Statur eines Schwimmers. Er war sehr kräftig, wie man an seinem Rücken und an seinen Schultern erkennen konnte, an seinem Nacken und den klobigen Händen und Fingern.

In Fragen der Kleidung ging er ebenso wie bei den meisten anderen Dingen allein vom Standpunkt der Nützlichkeit aus, und so hatte selbst die Brille, die er gelegentlich trug, eine stählerne Fassung. Er trug meist Anzüge aus Kunstfaserstoff, von denen keiner eine Weste besaß. Er bevorzugte Hemden mit Knöpfen auf den Kragenspitzen und weiche Lederschuhe mit Gummisohlen. Sein markantes Gesicht mit dem eigensinnigen Zug um den schmalen Mund wirkte anziehend. Seine Augen waren braun und klein, manche Leute sagten, sie seien irisch. Wäre er in einen Londoner Klub hineinspaziert, so hätte der Pförtner sicherlich nicht den Irrtum begangen, ihn für ein Mitglied zu halten. In einem Berliner Nachtklub gab man ihm gewöhnlich den besten Tisch. Er sah wie ein Mann aus, der Schwierigkeiten machen konnte, der auf sein Geld sah und nicht ganz ein Gentleman war. Die Stewardeß im Flugzeug dachte, dass er interessant sei. Sie tippte darauf, dass er aus Nordengland stamme, was möglich gewesen wäre und dass er reich sei, was er nicht war. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre, was ungefähr stimmte. Sie nahm an, dass er ledig sei, was nur halb der Wahrheit entsprach. Irgendwo, vor langer Zeit, hatte es eine Scheidung gegeben; irgendwo gab es inzwischen halbwüchsige Kinder, die ihr Taschengeld von einer etwas seltsamen Privatbank in der City bekamen.

»Wenn Sie noch einen Whisky wünschen«, sagte die Stewardeß, »wäre es besser, Sie würden sich beeilen. Wir werden auf dem Londoner Flugplatz in zwanzig Minuten landen.«

»Keinen mehr.« Er schaute sie nicht an; er blickte aus dem Fenster auf die graugrünen Felder von Kent.

Fawley holte ihn vom Flugplatz ab und fuhr ihn nach London.

»Der Chef ist ziemlich verärgert wegen Karl«, sagte er und schaute Leamas von der Seite an. Leamas nickte. »Wie geschah es?« fragte Fawley. »Er wurde abgeschossen. Mundt erwischte ihn.« »Tot?«

»Ich denke schon, inzwischen. Das wäre das beste für ihn. Er schaffte es fast. Er hätte nie Eile zeigen dürfen, sie konnten ja nicht sicher sein. Die ›Abteilung‹ erreichte den Kontrollpunkt erst, als man ihn gerade durchgelassen hatte. Sie setzten die Sirene in Gang, und ein Vopo schoß auf ihn, zehn Meter vor der Linie. Auf dem Boden bewegte er sich noch etwas, dann lag er still.«

»Armer Kerl.«

»Genau«, sagte Leamas.

Fawley mochte Leamas nicht, und wenn Leamas das wußte, so war es ihm gleichgültig. Fawley war ein Mann, der als Mitglied verschiedenen Klubs angehörte und repräsentative Krawatten trug. Er traf gern endgültige Feststellungen über das Können von Sportlern und legte Wert darauf, dass man ihn im internen Dienstverkehr mit seinem Rang anredete. Er betrachtete Leamas als verdächtig, während dieser ihn für einen Esel hielt.

»Welcher Abteilung gehören Sie an?« fragte Leamas.

»Personal.«

»Gefällt's Ihnen?«

»Faszinierend.«

»Wohin komme ich jetzt? Auf Eis?«

»Besser, Sie warten, bis es der Chef Ihnen sagt, alter Junge.«

»Wissen Sie es?«

»Freilich.«

»Weshalb sagen Sie es mir dann nicht, zum Teufel?«

»Tut mir leid, alter Junge«, antwortete Fawley, und Leamas war plötzlich nahe daran, seine Beherrschung zu verlieren. Dann sagte er sich, dass Fawley ihn höchstwahrscheinlich ohnehin anlügen würde.

»Gut, aber sagen Sie mir eines, wenn's Ihnen nichts ausmacht: Muß ich mich in London um eine Wohnung kümmern?«

Fawley kratzte sich am Ohr. »Ich glaube nicht, alter Junge, nein.«

»Nein? Gott sei Dank.«

Sie stellten den Wagen unweit des Cambridge Circus an einer Parkuhr ab und betraten gemeinsam das Gebäude.

»Sie haben keinen Passierschein, nicht wahr? Es wäre besser, Sie füllten einen Zettel aus.«

»Seit wann müssen wir Passierscheine haben? McCall kennt mich so gut wie seine eigene Mutter.«

»Neue Anweisung. Das Rondell wächst, wissen Sie.«

Leamas erwiderte nichts, nickte McCall zu und bestieg den Lift ohne Passierschein.

Der Chef schüttelte ihm die Hand, mit der vorsichtigen Geste eines Arztes, der die Knochen betastet.

»Sie müssen schrecklich müde sein«, sagte er entschuldigend. »Nehmen Sie doch Platz.« Die gleiche langweilige Stimme. Derselbe überhebliche Ton.

Leamas setzte sich in einen Sessel, der einem olivgrünen Ofen gegenüberstand, auf dem eine Schale Wasser balancierte.

»Finden Sie es kalt?« fragte der Chef. Er beugte sich, seine Hände reibend, über den elektrischen Ofen. Er trug eine schäbige braune Strickweste unter seiner schwarzen Jacke. Leamas erinnerte sich nun an die Frau des Chefs, eine dumme kleine Person namens Mandy, die anscheinend glaubte, ihr Mann sitze in der Kohlenbehörde. Leamas nahm an, sie habe die Weste gestrickt.

»Es ist so trocken, das ist der Haken«, fuhr der Chef fort. »Vertreibe die Kälte, und du versengst die Luft; das ist genauso gefährlich.«

Er ging zum Schreibtisch und drückte einen Knopf. »Wir wollen versuchen, etwas Kaffee zu bekommen«, sagte er. »Ginnie hat Urlaub, das ist Pech. Man hat mir irgendein neues Mädchen gegeben. Wirklich zu dumm.«

Er war kleiner, als ihn Leamas in Erinnerung hatte, aber sonst war er derselbe geblieben. Dieselbe affektierte Art, Abstand zu wahren, dieselbe steife Überheblichkeit, dieselbe Angst vor der Zugluft. Er war auf eine Weise höflich, die Leamas' Wesen völlig fremd war. Er hatte dasselbe nichtssagende Lächeln wie immer, die gleiche Geziertheit, und er klammerte sich noch immer um Entschuldigung bittend an einer Etikette fest, die er doch angeblich so lächerlich fand. Er schwatzte dasselbe abgedroschene Zeug.

Er holte eine Packung Zigaretten vom Schreibtisch und bot Leamas eine an.

»Sie werden feststellen, dass diese hier teurer sind«, sagte er, und Leamas nickte pflichtbewußt. Der Chef steckte die Zigaretten in seine Tasche und setzte sich. Es entstand eine Pause; schließlich sagte Leamas: »Riemeck ist tot.«

»Tatsächlich«, bemerkte der Chef, als ob Leamas eine sehr treffende Bemerkung gemacht hätte. »Es ist sehr bedauerlich, außerordentlich … Ich nehme an, das Mädchen ließ ihn hochgehen - Elvira?«

»So wird es wohl sein.« Leamas würde ihn nicht fragen, woher er das Wissen über Elvira hatte.

»Und Mundt ließ ihn erschießen?«

»Ja.«

Der Chef stand auf und schlenderte auf der Suche nach einem Aschenbecher durchs Zimmer. Er fand einen und stellte ihn unbeholfen zwischen ihren Stühlen auf den Boden. »Was haben Sie empfunden? Als Riemeck erschossen wurde, meine ich. Sie beobachteten es, nicht wahr?«

Leamas zuckte mit den Achseln. »Ich war verdammt ärgerlich«, sagte er.

Der Chef legte den Kopf auf die Seite und schloß halb die Augen. »Sie haben sicher mehr als das empfunden? Sie waren gewiß aus der Fassung gebracht? Das wäre nur natürlich.«

»Ich war aus der Fassung gebracht. Wer würde das nicht sein?«

»Mochten Sie Riemeck als Mensch?«

»Ich glaube ja«, sagte Leamas hilflos. Dann fügte er hinzu: »Es hat nicht viel Sinn, sich mit diesen Dingen zu befassen.«

»Wie verbrachten Sie die Nacht oder was davon übrigblieb, nachdem Riemeck erschossen worden war?«

»Hören Sie, was soll das?« fragte Leamas aufgebracht, »worauf wollen Sie hinaus?«

»Riemeck war der letzte«, überlegte der Chef, »der letzte in einer Reihe von Todesfällen. Wenn ich mich recht erinnere, begann es mit dem Mädchen, das sie am Wedding erschossen, außerhalb des Kinos. Dann kamen der Mann in Dresden und die Verhaftungen in Jena. Wie die zehn kleinen Negerlein. Jetzt Paul, Viereck und Landser - alle tot. Und schließlich Riemeck.« Er lächelte abweisend. »Das ist ein ziemlich hoher Verschleiß. Ich habe mich schon gefragt, ob Sie nicht vielleicht genug hätten.«

»Was meinen Sie - genug?«

»Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht müde geworden sind. Ausgebrannt?«

Es entstand ein langes Schweigen.

»Das müssen Sie beurteilen«, sagte Leamas schließlich.

»Wir müssen ohne Gefühl leben, ist es nicht so? Das ist freilich unmöglich. Wir spielen es uns gegenseitig vor, all diese Härte. Aber so sind wir in Wirklichkeit gar nicht. Ich meine, man kann nicht die ganze Zeit draußen in der Kälte sein; man muß auch einmal aus der Kälte hereinkommen … verstehen Sie, was ich meine?«

Leamas verstand. Er sah die lange Straße außerhalb Rotterdams, die lange, gerade Straße neben den Dünen, und den Strom von Flüchtlingen, der sich dort bewegte. Er sah - noch weit entfernt - das kleine Flugzeug, sah die Prozession anhalten und zu ihm hinaufschauen und dann das Flugzeug elegant über die Dünen einschwenken, er sah das Chaos, die nackte Hölle, als die Bomben auf die Straße schlugen.

»Ich kann darüber nicht reden, Chef«, sagte Leamas schließlich. »Was haben Sie mit mir vor?«

»Ich möchte, dass Sie noch etwas länger in der Kälte aushalten.« Leamas sagte nichts, deshalb fuhr der Chef fort: »Die Ethik unserer Arbeit, wie ich sie verstehe, basiert auf einer einzigen Voraussetzung: dass wir nie die Angreifer sein werden. Glauben Sie, dass das in Ordnung ist?«

Leamas nickte. Alles war gut, wenn er dabei das Sprechen vermeiden konnte.

»Auf diese Weise tun wir unangenehme Dinge, aber wir sind in der Verteidigung. Das, glaube ich, ist noch recht. Wir tun unangenehme Dinge, damit hier und anderswo gewöhnliche Menschen nachts sicher in ihren Betten schlafen können. Ist das zu romantisch? Freilich, gelegentlich tun wir sehr böse Dinge«, er grinste wie ein Schuljunge. »Und indem wir die moralischen Aspekte gegeneinander aufwiegen, lassen wir uns auf unehrliche Vergleiche ein; man kann schließlich nicht die Ideale der einen Seite mit den Methoden der anderen in Vergleich setzen, geben Sie mir recht?«

Leamas fühlte sich verloren. Er hatte gehört, dass der Mann eine Menge faselte, bevor er das Messer einstieß, aber er hatte nie zuvor etwas wie dies hier gehört.

»Ich meine, man muß Methode mit Methode vergleichen, und Ideal mit Ideal. Ich möchte sagen, dass sich unsere Methoden seit dem Krieg weitgehend denen des Gegners angeglichen haben. Ich meine, wir sollten nicht rücksichtsvoller als der Gegner sein, wenn es dafür keinen anderen Grund gibt als den, dass die Politik der eigenen Regierung ehrlicher ist. So ist es doch, oder?« Er lachte vor sich hin. »Das würde nie genügen«, sagte er.

Himmel, dachte Leamas, das ist, als arbeite man für einen verdammten Pfarrer. Worauf will er hinaus?

»Darum«, fuhr der Chef fort, »meine ich, wir sollten versuchen, Mundt loszuwerden … Oh, wirklich«, sagte er, sich nervös nach der Tür umwendend, »wo bleibt dieser elende Kaffee?«

Der Chef ging zur Tür hinüber, öffnete sie und sprach zu einem im Vorzimmer unsichtbar bleibenden Mädchen. Als er zurückkehrte, sagte er: »Ich denke wirklich, wir sollten ihn loswerden, wenn sich das bewerkstelligen ließe.«

»Warum? Es bleibt uns nichts in Ostdeutschland, überhaupt nichts. Sie sagten gerade selbst - Riemeck war der letzte. Es bleibt uns nichts zu beschützen.«

Der Chef setzte sich und schaute eine Weile seine Hände an.

»Das stimmt nicht ganz«, sagte er schließlich, »aber ich glaube nicht, dass ich Sie mit Einzelheiten zu langweilen brauche.«

Leamas zuckte die Achseln.

»Sagen Sie«, fuhr der Chef fort, »haben Sie genug von der Spionage? - Entschuldigen Sie, wenn ich die Frage wiederhole. Aber ich glaube, dass wir dieses Phänomen verstehen, wissen Sie? Wie Flugzeugkonstrukteure … die Bezeichnung ist dafür wohl Metallermüdung. Sagen Sie's mir doch, wenn es bei Ihnen so ist.«

Leamas erinnerte sich daran, wie er an diesem Morgen nach Hause geflogen war, und er machte sich seine Gedanken.

»Wenn es so wäre«, fügte der Chef hinzu, »müßten wir einen anderen Weg finden, uns mit Mundt auseinanderzusetzen. Was mir vorschwebt, ist ein wenig ungewöhnlich.«

Das Mädchen kam mit dem Kaffee herein. Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch und schenkte zwei Tassen ein. Der Chef wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte.

»So ein dummes Ding«, sagte er fast zu sich selbst. »Es ist mir unverständlich, dass es unmöglich sein soll, noch gute Mädchen zu finden. Ich wünschte, Ginnie wäre nicht gerade jetzt auf Urlaub gegangen.« Er rührte eine Weile in seinem Kaffee herum.

»Wir müssen Mundt wirklich in Mißkredit bringen«, sagte er. »Sagen Sie, trinken Sie viel Whisky und ähnliches Zeug?«

Leamas war der Meinung gewesen, er kenne seinen Chef.

»Ich trinke etwas. Mehr als die meisten, glaube ich.«

Der Chef nickte verstehend. »Was wissen Sie von Mundt?«

»Er ist ein Totschläger. Er war vor ein oder zwei Jahren mit der ostdeutschen Stahlmission hier. Wir hatten damals ›Beratung‹: der Mann hieß Maston.«

»Richtig.«

»Mundt unterhielt eine Agentin, die Frau eines Foreign-Office-Mannes. Er brachte sie um.«

»Er versuchte, George Smiley umzubringen, und natürlich erschoß er den Ehemann dieser Frau. Er ist ein widerwärtiger Kerl. Früher bei der Hitlerjugend und diese Art Sachen. Er ist das Gegenteil des intellektuellen Kommunisten. Ein Praktiker des kalten Krieges.«

»Wie wir«, bemerkte Leamas trocken.

Der Chef zeigte keinerlei Lächeln. »George Smiley kannte den Fall gut. Er ist nicht mehr bei uns, aber ich meine, Sie sollten ihn aufstöbern. Er schreibt etwas über das Deutschland des 17. Jahrhunderts. Er lebt in Chelsea, gleich hinter dem Sloane Square. Bywater Street, kennen Sie die?«

»Ja.«

»Und auch Guillam hatte mit dem Fall zu tun. Er ist in Abteilung Ost vier im ersten Stock. Ich fürchte, es hat sich hier seit Ihrer Zeit einiges verändert.«

»Ja.«

»Verbringen Sie einen oder zwei Tage mit ihnen. Sie wissen, was ich im Sinne habe. Dann habe ich mich gefragt, ob Sie wohl Lust hätten, das Wochenende bei mir zu verleben. Meine Frau«, fügte er schnell hinzu, »versorgt leider ihre Mutter. Nur gerade Sie und ich.«

»Danke, gern.«

»Wir können dann die Dinge in Ruhe besprechen. Das wäre hübsch. Ich glaube, Sie können eine Menge Geld mit der Sache machen. Sie können behalten, was immer Sie auch herausholen.«

»Danke.«

»Vorausgesetzt freilich, Sie sind entschlossen, mitzumachen. Keine Metallermüdung oder etwas Ähnliches?«

»Wenn es sich darum handelt, Mundt zu vernichten, bin ich bereit.«

»Empfinden Sie wirklich so?« erkundigte sich der Chef höflich. Dann bemerkte er, nachdem er Leamas einen Augenblick angeschaut hatte: »Ja, ich glaube wirklich, Sie empfinden so. Aber Sie dürfen nicht glauben, Sie müßten es aussprechen. Ich glaube, dass man in dieser Umgebung hier sehr rasch gefühllos wird. Haß oder Liebe gehören zu einer Tonleiter, die wir sehr bald nicht mehr wahrnehmen können. So wie das Ohr eines Hundes gewisse Töne nicht mehr vernehmen kann. Alles, was am Schluß übrigbleibt, ist eine Art Übelkeit. Zum Schluß hat man nur noch den Wunsch, nie wieder Leid zu verursachen. Verzeihen Sie mir, aber haben Sie nicht genau dies gefühlt, als Karl Riemeck erschossen wurde? Weder Haß auf Mundt noch Liebe zu Karl, sondern einen widerwärtigen Stoß, wie den Schlag auf einen betäubten Körper … Man hat mir gesagt, Sie seien die ganze Nacht spazierengegangen, nur durch die Straßen von Berlin gegangen. Stimmt das?«

»Es stimmt, dass ich spazierengegangen bin.«

»Die ganze Nacht?«

»Ja.«

»Was geschah mit Elvira?«

»Weiß der Himmel … Ich würde gern Mundt einen Schwinger geben«, sagte Leamas.

»Gut … gut. Übrigens, wenn Sie inzwischen irgendwelche alte Freunde treffen sollten: ich glaube nicht, dass es Sinn hätte, mit ihnen darüber zu diskutieren. Ich würde sogar«, setzte der Chef nach einer Weile hinzu, »ziemlich kurz angebunden sein. Lassen Sie sie glauben, wir hätten Sie schlecht behandelt. Wenn man schon weitermachen will, ist es wohl das beste, gleich damit anzufangen, meinen Sie nicht?«

Загрузка...