11 FREUNDE VON ALEC

Am selben Abend erhielt Liz den Besuch der Männer.

Liz Golds Zimmer war am Nordende von Bayswater. Darin standen eine Schlafcouch und ein Gasofen, ein recht hübscher, anthrazitgrauer, der auf eine moderne Art zischte, statt altmodisch zu rauschen. Sie hatte manchmal in seine Flammen gestarrt, wenn Leamas bei ihr war und das Gasfeuer als einzige Lichtquelle den Raum erhellte. Er lag dann auf der Couch, und sie saß neben ihm und küßte ihn oder hatte ihren Kopf an seinen gelehnt und beobachtete das Feuer. Sie vermied es, zuviel an ihn zu denken, weil sein Bild in ihrer Erinnerung dann immer zu verschwimmen begann. Deshalb ließ sie ihre Gedanken immer nur für kurze Augenblicke bei ihm verweilen, so wie man seine Augen über einen fernen Horizont schweifen läßt, und dann fielen ihr kleine Dinge ein, die er gesagt oder getan hatte, die Art, in der er sie bisweilen angesehen oder - was öfter vorgekommen war - nicht beachtet hatte. Das war das Schreckliche, wenn sie dachte: sie besaß nichts, wodurch sie sich an ihn hätte erinnern können - keine Fotografie, kein Souvenier, nichts. Nicht einmal einen gemeinsamen Freund - nur Miß Crail in der Bücherei, deren Haß auf ihn nachträglich durch sein auffallendes Fortbleiben gerechtfertigt worden war. Einmal war Liz in seinem Zimmer gewesen und hatte den Vermieter gesprochen. Sie konnte nicht genau sagen, warum sie das tat, aber sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging hin. Der Vermieter sprach sehr nett von Alec; Mr. Leamas hatte seine Miete wie ein Gentleman bezahlt. Und ein Restbetrag, für die beiden letzten Wochen, war von einem Freund von Mr. Leamas großzügig und ohne weitere Fragen beglichen worden.

Er hatte es immer schon gesagt und würde es auch in Zukunft stets sagen: Mr. Leamas war ein Gentleman. Keine Public-School, wohlgemerkt, nicht dies affige Gehabe, aber ein echter Gentleman. Er sah ja manchmal ziemlich gereizt aus, und er trank auch mehr, als er vertragen konnte - freilich benahm er sich nie daneben, wenn er besoffen nach Hause kam. Aber dieser kleine Kerl, der herkam - übrigens ein komischer, schüchterner Mensch mit Brille -, hatte extra betont, dass Mr. Leamas es war, der ihn gebeten habe, die Mietschuld zu begleichen. Wenn das nicht vornehm war, dann wollte der Vermieter verdammt sein. Der Himmel mochte wissen, woher Leamas das Geld hatte: ein undurchsichtiger Mann, ohne Zweifel. Aber mit Ford, dem Lebensmittelhändler hatte er nur das gemacht, was seit dem Krieg schon eine ganze Menge Leute gern mit ihm gemacht hätte. Die Wohnung? Ja, die Wohnung war schon wieder vermietet - an einen Herrn aus Korea, zwei Tage, nachdem sie Mr. Leamas geholt hatten.

Wahrscheinlich ging Liz nur deshalb weiterhin in die Bibliothek zur Arbeit - weil er wenigstens dort noch existierte: er hatte die Leitern, die Regale, die Bücher, den Kartenindex gekannt und berührt, und zu ihnen mochte er eines Tages vielleicht zurückkehren. Er hatte gesagt, er werde nie mehr zurückkommen, aber das wollte sie nicht glauben. Es hätte bedeutet, jede Hoffnung aufzugeben, dass es eines Tages doch noch eine Wende zum Besseren geben könnte. Miß Crail glaubte sicher, dass er zurückkommen werde: sie hatte entdeckt, dass sie ihm etwas zuwenig Gehalt ausbezahlt hatte, und es machte sie wütend, dass dieses Ungeheuer darauf verzichtete, sich den Rest des Geldes abzuholen. Nachdem Leamas verschwunden war, stellte sich Liz immer wieder die Frage, weshalb er Mr. Ford geschlagen hatte? Sie wußte, dass er schrecklich jähzornig war, aber das hatte mit dieser Geschichte nichts zu tun. Er hatte von Anfang an geplant gehabt, Ford niederzuschlagen, sobald er sein Fieber los war. Warum hätte er sonst in der vorausgehenden Nacht von Abschied geredet? Da mußte er schon gewußt haben, dass er am folgenden Tag Mr. Ford schlagen würde. Die einzige andere mögliche Erklärung wollte sie vor sich selbst nicht gelten lassen: dass er nämlich ihrer überdrüssig geworden war, ihr deshalb die Trennung vorgeschlagen, und dann am nächsten Tag, als er noch unter der Gefühlsbelastung dieses Abschieds stand, seine Beherrschung verloren und Mr. Ford geschlagen hatte. Sie war niemals in der Zeit ihrer Bekanntschaft das Gefühl losgeworden, dass Alec eine bestimmte Aufgabe ausführen mußte. Er selbst hatte es ihr ja einmal gesagt. Sie konnte freilich nur Vermutungen darüber anstellen, was das sein mochte.

Zuerst dachte sie, er könne einen Streit mit Mr. Ford gehabt haben oder einen Jahre zurückreichenden, tief verwurzelten Haß. Vielleicht hing es mit einem Mädchen zusammen oder mit Alecs Familie. Aber es genügte, Mister Ford einmal nur anzusehen, um diese Erklärung lächerlich zu finden. Er war das Urbild eines Spießers: vorsichtig, selbstgefällig. Aber selbst wenn eine Art Blutrache zwischen Alec und Mr. Ford bestanden hätte, wäre es von Alec doch töricht gewesen, ihn im Gedränge des Samstagvormittags in seinem Laden anzugreifen, wo jedermann zusehen konnte.

Man hatte sich über den Fall bei einer Sitzung ihrer Parteiorganisation unterhalten. George Hanby, der Kassierer, war gerade an dem Laden vorbeigekommen, als es geschah. Er hatte der vielen Menschen wegen nicht viel sehen können, aber ein Augenzeuge des Vorfalls hatte ihm alles erzählt, und Hanby war davon so beeindruckt gewesen, dass er den Worker anrief, der daraufhin einen Reporter zur Gerichtsverhandlung geschickt hatte. So kam es, dass der Worker die Angelegenheit in seinem Lokalteil breittrat.

Der Worker erläuterte den Fall als eindeutigen Protest, als Äußerung eines plötzlich erwachten Klassenbewußtseins und als Ausbruch von Haß gegen die Ausbeuterklasse. Hanbys Gewährsmann, ein brillentragender Durchschnittsbürger, wahrscheinlich ein kleiner Angestellter, hatte ihm erzählt, dass es »so plötzlich gewesen« sei - er meinte natürlich »spontan« -, und für Hanby war dies nur ein weiterer Beweis dafür, wie leicht entflammbar die Masse unter dem System des Kapitalismus ist. Liz war ruhig geblieben, während Hanby sprach. Natürlich war hier niemandem ihre Beziehung zu Leamas bekannt. Dann wurde ihr bewußt, dass sie George Hanby haßte. Er war ein aufgeblasener kleiner Schmutzfink, der ständig zu ihr herüberschielte und dabei versuchte, sie zu berühren.

Dann erschienen die Männer bei ihr.

Liz fand, dass sie für Polizisten etwas zu elegant wären: sie kamen mit einem kleinen schwarzen Wagen, der eine Antenne auf dem Dach hatte. Der eine war klein und ziemlich dick. Er trug eine Brille und war sonderbar, aber sicherlich teuer gekleidet - ein freundlicher, sorgenvoll dreinschauender kleiner Mann, dem Liz irgendwie vertraute, ohne zu wissen, weshalb. Das Auftreten des anderen war glatter, doch ohne schmierig zu sein, er hatte etwas Jungenhaftes an sich, obwohl Liz ihn auf mindestens vierzig schätzte. Beide sagten, sie kämen von einer Behörde, und sie zeigten gedruckte, in Cellophanhüllen steckende Lichtbildausweise vor.

Der Dicke führte die Unterhaltung.

»Ich glaube, Sie waren mit Alec Leamas befreundet?« begann er. Liz wollte schon ärgerlich werden, aber der dicke Mann wirkte so ernst, dass es ihr töricht schien.

»Ja«, antwortete sie. »Woher wissen Sie das?«

»Wir sind neulich durch Zufall draufgekommen. Häftlinge müssen im Gefängnis ihre nächsten Verwandten angeben, Leamas sagte, er habe niemanden. Was, nebenbei bemerkt, eine Lüge war. Daraufhin fragte man ihn, wen man benachrichtigen solle, falls ihm etwas zustoßen sollte. Er nannte Sie.«

»Ich verstehe.«

»Weiß sonst noch jemand, dass sie in engen Beziehungen zu ihm standen?«

»Nein.«

»Sind Sie zur Verhandlung gegangen?«

»Nein.«

»War kein Journalist bei Ihnen, kein Gläubiger, überhaupt niemand?«

»Nein. Ich sagte es doch schon. Niemand hat etwas davon gewußt. Nicht einmal meine Eltern, niemand. Wir haben zusammen in der Bibliothek gearbeitet, aber das weiß nur Miß Crail, die Bibliothekarin. dass darüber hinaus etwas zwischen uns war, wird auch Miß Crail kaum gemerkt haben. Sie ist ziemlich verschroben«, fügte Liz schlicht hinzu.

Der kleine Mann betrachtete sie für einen Augenblick sehr eindringlich. Dann fragte er:

»Waren Sie überrascht, als Leamas Mr. Ford zusammenschlug?«

»Ja. Natürlich.«

»Weshalb, glauben Sie, tat er es?«

»Ich weiß nicht. Weil Ford ihm keinen Kredit geben wollte, nehme ich an. Aber ich glaube, dass er es schon länger vorhatte.« Sie fragte sich, ob sie wohl zuviel sagte, aber es drängte sie, mit jemandem darüber zu sprechen, und welchen Schaden sollte sie schon damit anrichten können?

»Denn in der Nacht vorher unterhielten wir uns. Es war bei einem Abendessen - einem besonderen Abendessen, Alec wollte es so. Ich wußte gleich, dass es unsere letzte Nacht sein sollte. Er hatte irgendwoher eine Flasche Rotwein. Er schmeckte mir nicht besonders. Alec trank das meiste davon. Ich fragte ihn: ›Bedeutet das unsere Trennung?‹«

»Was sagte er?«

»Er sprach von einer Arbeit, die er noch zu machen habe. Ich hab's nicht ganz verstanden. Nicht wirklich.«

Es entstand ein sehr langes Schweigen, und der kleine Mann sah bekümmerter denn je aus. Schließlich fragte er: »Glauben Sie das?«

»Ich weiß nicht.« Sie hatte plötzlich große Angst um Alec, und sie wußte nicht, weshalb.

Der Mann fragte: »Leamas hat zwei Kinder aus seiner Ehe. Hat er davon etwas erzählt?«

Liz sagte nichts.

»Dennoch hat er Ihren Namen als den der nächsten Anverwandten angegeben. Warum, glauben Sie, hat er das getan?« Der kleine Mann schien durch seine eigene Frage in Verlegenheit zu geraten. Er schaute seine dicken Hände an, die über seinem Bauch gefaltet waren. Liz errötete.

»Ich liebte ihn«, erwiderte sie.

»Liebte er sie?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht.«

»Lieben Sie ihn noch immer?«

»Ja.«

»Sagte er je, dass er zurückkommen würde?« fragte der jüngere Mann.

»Nein.«

»Aber er sagte Ihnen Lebewohl?« fragte der kleine Mann schnell. Er wiederholte seine Frage langsam und freundlich: »Sagte er Ihnen Lebewohl? Es kann ihm nichts mehr geschehen, das verspreche ich ihnen. Aber wir wollen ihm helfen, und wenn Sie irgendeine Idee haben, warum er Ford schlug, wenn Sie sich durch irgend etwas, das er gesagt oder getan hat, die leiseste Vorstellung davon machen können, dann sagen Sie es uns. Um Alecs willen.«

Liz schüttelte den Kopf. »Gehen Sie, bitte«, sagte sie. »Bitte, stellen Sie keine Fragen mehr. Bitte, gehen Sie jetzt.«

Als er zur Tür kam, zögerte der ältere Mann, nahm eine Karte aus seiner Brieftasche und legte sie vorsichtig auf den Tisch, als ob er Lärm machen könnte. Liz dachte, dass er ein sehr vorsichtiger Mann sei.

»Wenn Sie jemals Hilfe brauchen - wenn irgendwas mit Leamas sein sollte - oder … Rufen Sie mich einfach an«, sagte er. »Verstehen Sie?«

»Wer sind Sie?«

»Ich bin ein Freund von Alec.« Er zögerte. »Noch etwas anderes«, fügte er hinzu, »eine letzte Frage. Wußte Alec, dass Sie … wußte Alec von der Partei?«

»Ja«, antwortete sie bekümmert, »ich erzählte es ihm.«

»Weiß die Partei von Ihnen und Alec?«

»Ich sagte ja schon: Niemand hat etwas gewußt.« Dann schrie sie ihn mit plötzlich weiß gewordenem Gesicht an: »Wo ist er? Sagen Sie mir, wo er ist. Warum wollen Sie es mir nicht sagen? Ich könnte ihm helfen, sehen Sie das nicht? Ich könnte mich doch um ihn kümmern … Wenn er verrückt geworden ist - mir macht das doch nichts. Ich schwöre, ich … Ich habe ihm ins Gefängnis geschrieben. Ich weiß, dass ich das nicht hätte tun sollen. Aber ich schrieb ihm nur, er könne jederzeit zurückkommen. Ich würde immer auf ihn warten …« Sie konnte nicht mehr sprechen, sondern stand schluchzend mitten im Zimmer und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Der kleine Mann betrachtete sie.

»Er ist ins Ausland gegangen«, sagte er gütig. »Wir wissen nicht genau, wo er ist. Er ist nicht wahnsinnig, aber er hätte Ihnen das alles nicht erzählen sollen. Es ist schade.«

Der jüngere Mann sagte: »Wir werden dafür sorgen, dass man sich um Sie kümmert, wegen Geld und so weiter.«

»Wer sind Sie?« fragte Liz noch einmal.

»Freunde von Alec«, wiederholte der jüngere Mann. »Gute Freunde.«

Sie hörte sie ruhig die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus gehen. Von ihrem Fenster aus sah sie, wie sie in einen kleinen schwarzen Wagen stiegen und in Richtung des Parks davonfuhren.

Dann erinnerte sie sich der Karte. Sie ging zum Tisch, nahm sie auf und hielt sie ans Licht. Es war eine Karte von der teuren Sorte. Solche Karten kosteten mehr, als ein Polizist sich leisten konnte, dachte sie. Prägedruck. Kein Dienstrang vor dem Namen, keine Polizeistation oder sonst etwas. Nur der Name. Wer hatte schon von einem Polizisten gehört, der in Chelsea wohnte? »Mister George Smiley. 9 Bywater Street, Chelsea.« Darunter die Telefonnummer.

Das alles war sehr merkwürdig.

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