22 DIE VORSITZENDE

Sie betrat den Gerichtssaal langsam und schaute sich mit weit offenen Augen um, wie ein halbwaches Kind, das einen hellerleuchteten Raum betritt. Leamas hatte vergessen, wie jung sie war. Als sie ihn zwischen zwei Wachen sitzen sah, blieb sie stehen.

»Alec.«

Der Posten neben ihr legte seine Hand auf ihren Arm und geleitete sie zu der Stelle, wo Leamas gestanden hatte. Es war sehr still im Saal.

»Wie ist Ihr Name, Kind?« fragte die Vorsitzende sachlich. Liz schwieg. Ihre Arme mit den langen Händen und gestreckten Fingern hingen hilflos an ihrem Körper herunter.

»Wie ist Ihr Name?« wiederholte die Vorsitzende, diesmal lauter.

»Elisabeth Gold.«

»Sie sind Mitglied der britischen Kommunistischen Partei?«

»Ja.«

»Und Sie haben sich in Leipzig aufgehalten?«

»Ja.«

»Wann sind Sie der Partei beigetreten?«

»1955. Nein - 1954 - glaube ich, war es -«

Sie wurde durch den Lärm einer Bewegung im Raum unterbrochen. Stühle wurden zur Seite gestoßen, und Leamas' Stimme füllte heiser und hoch und häßlich den Raum: »Ihr Saukerle! Laßt sie in Ruhe!«

Liz drehte sich angsterfüllt um und sah ihn dort mit blutendem weißem Gesicht stehen, ein Posten versetzte ihm einen Faustschlag, so dass er beinahe fiel, dann waren sie beide über ihm, rissen ihn hoch, indem sie seine Arme hinter dem Rücken nach oben stießen. Sein Kopf fiel nach vorn auf die Brust und dann vor Schmerz auf die Seite.

»Schaffen Sie ihn hinaus, wenn er sich wieder rührt«, ordnete die Vorsitzende an, wobei sie Leamas warnend zunickte und ergänzte: »Sie können dann später sprechen, wenn Sie wollen.« Sie wandte sich wieder an Liz und sagte in scharfem Ton: »Sicher können Sie angeben, wann Sie der Partei beigetreten sind?«

Liz sagte nichts, und die Vorsitzende zuckte mit den Achseln, nachdem sie einen Moment gewartet hatte. Dann lehnte sie sich vor, um ihrer Frage mehr Eindringlichkeit zu verleihen: »Elisabeth Gold, sind Sie je in der Partei über die Notwendigkeit der Verschwiegenheit belehrt worden?«

Liz nickte.

»Und es ist Ihnen gesagt worden, niemals einen anderen Genossen nach Organisation und Einrichtungen der Partei zu fragen?«

Liz nickte wieder. »Ja«, sagte sie, »natürlich.«

»Heute werden Sie eine ernste Bewährungsprobe ablegen müssen, ob Sie sich dieser Parteiregel aufrichtig unterwerfen. Es ist besser für Sie, viel besser, dass Sie nichts wissen - nichts«, fügte sie mit plötzlichem Nachdruck hinzu. »Lassen wir es mit folgendem genügen: Wir drei an diesem Tisch nehmen eine sehr hohe Stellung in der Partei ein. Wir handeln mit Wissen unseres Präsidiums, im Interesse der Parteisicherheit. Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen, und Ihre Antworten sind von größter Bedeutung. Durch wahrheitsgemäße und mutige Antworten können Sie der Sache des Sozialismus dienen.«

»Aber wer«, flüsterte Liz, »wer steht hier vor Gericht? Was hat Alec getan?«

Die Vorsitzende sah an ihr vorbei auf Mundt und sagte: »Vielleicht steht hier niemand vor Gericht. Das ist der springende Punkt. Vielleicht nur die Ankläger.« Sie setzte hinzu: »Es ist belanglos, wer angeklagt ist. dass Sie es nicht wissen können, garantiert uns Ihre Unparteilichkeit.«

In dem kleinen Raum breitete sich Stille aus, und dann fragte Liz mit so leiser Stimme, dass die Vorsitzende instinktiv den Kopf wandte, um ihre Worte verstehen zu können: »Ist es Alec? Ist es Leamas?«

»Ich sage Ihnen«, beharrte die Vorsitzende, »es ist besser für Sie - viel besser -, dass Sie nichts wissen. Sie müssen die Wahrheit sagen und gehen. Das ist das Klügste, was Sie tun können.«

Liz mußte eine Geste gemacht oder einige Worte geflüstert haben, die die anderen nicht verstehen konnten, denn die Vorsitzende beugte sich wieder vor und sagte mit großer Eindringlichkeit: »Hören Sie, Kind, wollen Sie wieder heimfahren? Tun Sie, was ich Ihnen sage, und Sie werden es. Aber wenn Sie …« Sie brach ab, wies mit der Hand auf Karden und fügte geheimnisvoll hinzu: »Dieser Genosse will Ihnen einige Fragen stellen, nicht viele. Dann können Sie gehen. Sagen Sie die Wahrheit.«

Karden stand wieder auf und zeigte sein freundliches Lächeln, das an einen Kirchenvorstand erinnerte.

»Elisabeth«, erkundigte er sich, »Alec Leamas war Ihr Geliebter, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Sie lernten ihn in der Bibliothek in Bayswater kennen, wo Sie arbeiteten?«

»Ja.«

»Sie waren ihm vorher nicht begegnet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir lernten uns in der Bibliothek kennen.«

»Haben Sie viele Liebhaber gehabt, Elisabeth?«

Ihre Antwort wurde von dem Schrei Leamas' übertönt: »Karden, Sie Schwein!«, aber Liz drehte sich um und sagte ziemlich laut: »Alec, nicht. Sie werden dich abführen.«

»Ja«, bemerkte die Vorsitzende trocken, »das werden sie.«

»Sagen Sie mir«, fuhr Karden geschmeidig fort, »war Alec ein Kommunist?«

»Nein.«

»Wußte er, dass Sie Kommunistin waren?«

»Ja. Ich sagte es ihm.«

»Was sagte er da, als Sie es ihm erzählten, Elisabeth?«

Sie wußte nicht, ob sie lügen sollte, das war das Schreckliche. Die Fragen kamen so schnell, dass sie keine Gelegenheit zum Nachdenken hatte. Die ganze Zeit hörte man ihr zu, beobachtete sie, wartete auf ein Wort oder vielleicht auch nur eine Geste, die Alec schrecklichen Schaden zufügen konnte. Wie sollte sie aber lügen, wenn sie nicht wußte, warum es ging? Sie würde weiter im dunkeln tappen, und Alec würde sterben müssen - denn sie hatte keinen Zweifel daran, dass Leamas in Gefahr war.

»Was sagte er also?« wiederholte Karden.

»Er lachte. Er stand über all dem.«

»Glauben Sie, dass er darüberstand?«

»Natürlich.«

Der junge Mann am Richtertisch sprach zum zweitenmal. Seine Augen waren halb geschlossen: »Sehen Sie das als wertvolles Urteil über ein menschliches Wesen an? Dass es über dem Gang der Geschichte und über den zwingenden Forderungen der Dialektik steht?«

»Ich weiß nicht. Es kam mir einfach so vor, nichts weiter.«

»Lassen wir das«, sagte Karden. »Sagen Sie mir, ob er ein glücklicher Mensch war, viel lachte und so weiter?«

»Nein. Er lachte nicht oft.«

»Aber er lachte, als Sie ihm sagten, dass Sie in der Partei waren. Wissen Sie, warum?«

»Ich glaube, er verachtete die Partei.«

»Meinen Sie, dass er sie haßte?« fragte Karden nebenbei.

»Ich weiß nicht«, antwortete Liz verschüchtert.

»War er ein Mann mit starken Neigungen oder Abneigungen?«

»Nein … nein, das war er nicht.«

»Aber er hat einen Kaufmann angegriffen. Warum wohl tat er das?«

Liz hatte plötzlich kein Vertrauen mehr zu Karden. Sie traute der schmeichelnden Stimme und dem gütigen Engelsgesicht nicht.

»Ich weiß nicht.«

»Aber Sie haben darüber nachgedacht.«

»Ja.«

»Nun, zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«

»Zu keinem«, sagte Liz einfach. Karden schaute sie nachdenklich, vielleicht auch ein wenig enttäuscht an, so als habe sie ihren Katechismus nicht gelernt.

»Wußten Sie vorher, dass Leamas den Kaufmann schlagen würde?«

»Nein«, erwiderte Liz. Ihre Antwort kam etwas zu schnell, so dass Kardens Lächeln in der nun folgenden Pause einer Miene belustigter Neugier Platz machte. Schließlich fragte er: »Wann haben Sie Leamas vor der heutigen Begegnung zum letztenmal gesehen?«

»Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er ins Gefängnis ging«, antwortete Liz.

»Wann sahen Sie ihn also zuletzt?« - Die Stimme war liebenswürdig, aber beharrlich. dass Liz dem Saal ihren Rücken zukehren mußte, war ihr sehr unangenehm. Am liebsten hätte sie sich umgewandt, um Leamas sehen zu können. Vielleicht hätte sie in seinem Gesicht einen Hinweis oder irgendein Zeichen entdeckt, das ihr sagte, wie sie antworten sollte. Auch begann sie sich nun zu fürchten - diese Fragen wurzelten in Anklagen und Verdächtigungen, von denen sie keine Ahnung hatte. Die Leute mußten doch wissen, dass sie Alec zu helfen wünschte und dass sie selbst Angst hatte, aber niemand unterstützte sie. Warum kam ihr niemand zu Hilfe?

»Elisabeth, wann waren Sie zum letztenmal mit Leamas zusammen?« Oh, diese Stimme. Oh, wie sie diese seidige Stimme haßte!

»Am Abend, bevor es geschah«, antwortete sie. »Am Abend, bevor er den Kampf mit Mr. Ford hatte.«

»Den Kampf? Es war kein Kampf, Elisabeth. Der Kaufmann hat nicht zurückgeschlagen. Er hatte keine Gelegenheit dazu. Sehr unsportlich!« Karden lachte, und es klang besonders entsetzlich, weil niemand mitlachte.

»Sagen Sie mir, wo Sie Leamas an diesem letzten Abend getroffen haben.«

»In seiner Wohnung. Er war krank und nicht zur Arbeit gekommen. Er war im Bett geblieben. Ich hatte nach ihm gesehen und für ihn gekocht.«

»Und die Lebensmittel gekauft? Besorgungen gemacht?«

»Ja.«

»Wie nett. Das muß Sie eine Menge Geld gekostet haben«, bemerkte Karden teilnahmsvoll. »Konnten Sie es sich leisten, ihn auszuhalten?«

»Ich habe ihn nicht ausgehalten. Ich bekam das Geld von Alec. Er …«

»Oh«, unterbrach Karden scharf, »er hat also doch etwas Geld?«

O Gott, dachte Liz, o Gott, o lieber Gott, was habe ich jetzt gesagt?

»Nicht viel«, sagte sie schnell, »nicht viel. Ich weiß das. Ein Pfund, zwei Pfund, nicht mehr. Mehr hatte er nicht. Er konnte seine Rechnungen nicht bezahlen - sein elektrisches Licht und die Miete -, sie wurden alle hinterher von einem Freund bezahlt, nachdem er gegangen war, sehen Sie. Ein Freund mußte bezahlen, nicht Alec.«

»Natürlich«, sagte Karden gelassen. »Ein Freund bezahlte. Kam eigens und bezahlte alle seine Rechnungen. Irgendein alter Freund von Leamas, den er vielleicht schon kannte, bevor er nach Bayswater kam. Sind Sie diesem Freund jemals begegnet, Elisabeth?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe. Welche Rechnungen hat dieser gute Freund sonst noch bezahlt, wissen Sie das?«

»Nein … nein.«

»Warum zögern Sie?«

»Ich sagte doch, ich weiß es nicht«, erwiderte Liz wütend.

»Aber Sie zögerten«, erklärte Karden. »Ich habe nur überlegt, ob Ihnen nicht vielleicht gerade etwas eingefallen ist.«

»Nein.«

»Sprach Leamas irgendwann von diesem Freund? Von einem Freund mit Geld, der seine Adresse kannte?«

»Er hat überhaupt nie einen Freund erwähnt. Ich war der Meinung, er habe gar keinen Freund.«

»Ah.«

Die Stille im Gerichtssaal war für Liz besonders schrecklich, weil sie - ähnlich einem blinden Kind unter Sehenden - von den Menschen in ihrer Umgebung abgeschnitten war. Die anderen konnten jede ihrer Antworten an irgendwelchen geheimen Maßstäben prüfen, während ihr selbst dies schreckliche Schweigen nicht verriet, zu welchen Ereignissen sie dabei kamen.

»Wieviel Geld, verdienen Sie, Elisabeth?«

»Sechs Pfund in der Woche.«

»Haben Sie Ersparnisse?«

»Etwas. Einige Pfund.«

»Wie hoch ist die Miete Ihrer Wohnung?«

»Fünfzig Shilling die Woche.«

»Das ist eine ganze Menge, nicht wahr, Elisabeth? Haben Sie kürzlich Ihre Miete bezahlt?«

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

»Warum nicht?« fuhr Karden fort. »Haben Sie kein Geld?«

Flüsternd erwiderte sie: »Ich habe einen Mietvertrag. Jemand kaufte den Vertrag und schickte ihn mir.«

»Wer?«

»Ich weiß nicht.« Über ihr Gesicht liefen nun Tränen. »Ich weiß nicht … Bitte fragen Sie nicht mehr. Ich weiß nicht, wer es war … Vor sechs Wochen schickten sie ihn, eine Bank in der City … Irgendeine Wohltätigkeitsstiftung war es … für tausend Pfund. Ich schwöre, dass ich nicht weiß, wer … Eine Schenkung von einer Wohltätigkeitsstiftung. Sie wissen doch schon alles, sagen Sie mir doch, wer …«

Sie weinte, während sie ihr Gesicht in den Händen verbarg. Noch immer kehrte sie dem Saal ihren Rücken zu. Das Schluchzen ließ ihre Schultern zucken und schüttelte ihren Körper. Niemand regte sich, und schließlich ließ sie die Hände sinken, ohne jedoch den Kopf zu heben.

»Warum haben Sie sich nicht erkundigt?« fragte Karden. »Oder sind Sie gewohnt, anonyme Geschenke in Höhe von tausend Pfund zu bekommen?«

Sie sagte nichts, und Karden fuhr fort: »Sie haben sich nicht erkundigt, weil Sie es erraten hatten. Habe ich nicht recht?«

Sie nickte und hob ihre Hand wieder ans Gesicht.

»Sie errieten, dass es von Leamas oder von seinem Freund kam, nicht wahr?«

»Ja.« Die Antwort kam mühsam über ihre Lippen.

»In der Straße hieß es, dass der Kaufmann Geld bekommen habe. Von irgendwoher nach der Verhandlung eine Menge Geld. Es wurde viel darüber gesprochen, und ich dachte, dass es sicher von Alecs Freund sei …«

»Das ist sehr seltsam «, sagte Karden fast zu sich selbst. »Wie merkwürdig.« Und dann: »Sagen Sie mir, Elisabeth, sind Sie von jemandem besucht worden, nachdem Leamas ins Gefängnis gekommen war?«

»Nein«, log sie. Sie wußte jetzt ganz sicher, dass man Alec irgend etwas nachweisen wollte, das mit dem Geld oder seinen Freunden zusammenhing. Es hatte sicher mit dem Kaufmann zu tun.

»Sind Sie sicher?« fragte Karden, während er seine Augenbrauen über die goldenen Brillenränder emporzog.

»Ja.«

»Ihr Nachbar, Elisabeth«, wandte Karden geduldig ein, »behauptet aber, dass zwei Männer gekommen seien, und zwar ziemlich bald, nachdem Leamas verurteilt worden war. Oder waren das nur Liebhaber, Elisabeth? Gelegentliche Liebhaber, wie Leamas einer war, der Ihnen Geld gab?«

»Alec war kein gelegentlicher Liebhaber«, rief sie, »wie können Sie …«

»Aber er gab Ihnen Geld. Haben diese Männer Ihnen auch Geld gegeben?«

»O Gott«, schluchzte sie.

»Wer war das?« Sie antwortete nicht.

Plötzlich brüllte Karden, es war das erstemal, dass er seine Stimme erhob: »Wer?«

»Ich weiß nicht. Sie kamen im Auto. Freunde von Alec.«

»Weitere Freunde? Was wollten sie?«

»Ich weiß nicht. Sie fragten mich immer wieder, was er mir erzählt habe … Sie sagten mir, ich solle mich an sie wenden, wenn …«

»Wie? Wie sollten Sie sich an sie wenden?«

Schließlich antwortete Liz: »Er wohnte in Chelsea … sein Name war Smiley … George Smiley … ich sollte ihn anrufen.«

»Und taten Sie das?«

»Nein.«

Karden legte seine Akten weg.

Eine tödliche Stille breitete sich im Saal aus. Endlich sagte Karden mit völlig beherrschter Stimme, und deshalb besonders eindrucksvoll, während er auf Leamas dteutete: »Smiley wollte wissen, ob Leamas ihr zuviel erzählt hatte. Denn dieses eine, das Leamas getan hatte, hätte der britische Geheimdienst niemals von ihm erwartet: Er hatte sich ein Mädchen genommen, um sich an ihrer Schulter auszuweinen.« Dann lachte Karden leise, als sei das alles ein netter Scherz: »Genau wie Karl Riemeck, er hat den gleichen Fehler gemacht.«

»Sprach Leamas jemals über sich selbst?« fuhr Karden fort.

»Nein.«

»Sie wissen nichts von seiner Vergangenheit?«

»Nein. Ich wußte, dass er etwas in Berlin getan hatte. Etwas für die Regierung.«

»Er sprach also doch von seiner Vergangenheit, nicht wahr? Sagte er Ihnen, dass er verheiratet gewesen war?«

Es entstand ein langes Schweigen. Liz nickte.

»Warum haben Sie ihn nicht im Gefängnis besucht? Sie hätten ihn besuchen können.«

»Ich glaube nicht, dass er mich sehen wollte.«

»Ich verstehe. Sie haben ihm aber geschrieben?«

»Nein. Ja, doch, einmal … Ich wollte ihm nur sagen, dass ich warten würde. Ich dachte, er könnte nichts dagegen haben.«

»Sie dachten nicht, dass er das auch wollte?«

»Nein.«

»Und nachdem er seine Zeit abgesessen hatte, machten Sie da keinen Versuch, mit ihm in Verbindung zu kommen?«

»Nein.«

»Hatte er irgend jemanden, zu dem er gehen konnte, wartete ein Arbeitsplatz auf ihn, hatte er Freunde, die ihn aufnehmen wollten?«

»Ich weiß es nicht.«

»Also hatten Sie Schluß mit ihm gemacht, nicht wahr?« fragte Karden höhnisch. »Hatten Sie einen neuen Geliebten gefunden?«

»Nein! Ich wartete auf ihn … Ich werde immer auf ihn warten.« Sie dachte nach. »Ich wollte, dass er zu mir zurückkommt.«

»Warum schrieben Sie ihm dann nicht? Warum versuchten Sie nicht, ihn zu finden?«

»Er wollte das nicht haben, verstehen Sie nicht?

Ich mußte ihm versprechen … ihm nie zu folgen … nie zu …«

»Er hat also vorausgesehen und erwartet, dass er am nächsten Tag eingesperrt werden würde, so ist es doch?« verlangte Karden mit triumphierender Stimme zu wissen.

»Nein … Ich weiß es nicht. Wie kann ich Ihnen sagen, was ich nicht weiß …«

»Verlangte er an diesem letzten Abend, bevor er den Kaufmann zusammenschlug, eine Erneuerung Ihres Versprechens? … Nun, tat er das?« Karden sprach jetzt barsch und einschüchternd.

Liz nickte erschöpft. Es war eine ergreifende Geste der Selbstaufgabe.

»Ja.«

»Und Sie sagten ihm Lebewohl?«

»Wir sagten uns Lebewohl.«

»Nach dem Abendessen, natürlich. Es war ziemlich spät. Oder verbrachten Sie die Nacht mit ihm?«

»Nach dem Essen. Ich ging heim … nicht geradewegs heim … Ich ging erst noch spazieren, ich weiß nicht, wohin. Eben nur so spazieren.«

»Womit begründete er denn diesen Abbruch Ihrer Beziehung?«

»Er hat die Beziehung doch gar nicht abgebrochen«, sagte sie. »Das hat er nie getan. Er sagte nur, dass er noch etwas tun müsse, dass da noch jemand ist, mit dem er unbedingt abzurechnen habe. Aber hinterher, wenn alles vorüber sei, käme er eines Tages vielleicht … wieder, wenn ich noch da wäre, und …«

»Und Sie sagten natürlich«, erklärte Karden ironisch, »dass Sie stets auf ihn warten würden? dass Sie ihn immer lieben würden?«

»Ja«, erwiderte Liz einfach.

»Sagte er, dass er Geld schicken wolle?«

»Er sagte … er sagte, die Dinge stünden gar nicht so schlecht, wie es aussähe, dass man sich um mich kümmern werde.«

»Und das war der Grund dafür, dass Sie später keine Rückfragen gestellt haben, als Ihnen eine Bank in der City nebenbei tausend Pfund zukommen ließ?«

»Ja, ja, das ist richtig! Jetzt wissen Sie alles - Sie haben es doch schon vorher gewußt. Warum ließen Sie mich holen, wenn doch schon alles klar war?«

Gelassen wartete Karden, bis ihr Schluchzen aufhörte.

»Dies«, bemerkte er schließlich zu den Richtern, »ist das Beweismaterial der Verteidigung. Ich bedaure es, dass unsere britischen Genossen ihre Parteiämter einem Mädchen anvertrauen, dessen Wahrnehmungsvermögen von Gefühlen getrübt ist, und dessen Wachsamkeit mit Geld eingeschläfert werden kann.«

Brutal fügte er hinzu, wobei er zuerst Leamas und dann Fiedler ansah: »Sie ist eine Närrin. Es war jedoch ein glücklicher Umstand, dass Leamas ihr begegnet ist. Es wäre jedoch nicht das erstemal gewesen, dass sich eine Revanchistenverschwörung durch die Dekadenz ihrer Drahtzieher selbst aufgedeckt hat.«

Nach einer kleinen, exakten Verbeugung vor dem Gericht setzte sich Karden nieder.

Als Leamas nun aufstand, ließen ihn die Wächter gewähren.

London mußte vollkommen verrückt geworden sein. Er hatte ihnen doch ausdrücklich gesagt - und dass war der Witz der Sache -, dass man Liz aus dem Spiel halten und sie in Ruhe lassen solle. Und jetzt stellte sich heraus, dass in demselben Augenblick, in dem er England verließ - oder sogar noch davor, nämlich als er im Gefängnis saß -, irgendein verdammter Idiot herumgelaufen war, um Ordnung zu machen, Rechnungen zu bezahlen, die Angelegenheit mit dem Kaufmann und mit dem Vermieter zu erledigen - und vor allen Dingen Liz. Das war Wahnsinn, das war unfaßbar. Was wollten sie eigentlich erreichen: Fiedler umlegen, ihren eigenen Agenten töten? Wollten sie ihre eigene Organisation sabotieren? War es Smiley allein - hatte ihn sein kleines, verderbtes Gewissen dazu getrieben? Jetzt hatte er nur noch eines zu tun: Liz und Fiedler herauszuholen, und alles auf sich zu nehmen. Er selbst war wohl so oder so schon abgeschrieben.

Wenn es ihm gelang, Fiedlers Haut zu retten, bestand eine kleine Hoffnung, dass auch Liz davonkam.

Woher, zum Teufel, wußte Karden soviel? Leamas war absolut sicher, dass ihm an jenem Nachmittag niemand zu Smileys Haus gefolgt war. Und das Geld - wie kamen sie auf die Geschichte von dem Geld, das er angeblich im Rondell gestohlen hatte? Das war doch nur für den inneren Gebrauch bestimmt … - Also wie? Wie, verdammt noch mal?

Verwirrt, zornig und bitter beschämt ging Leamas den Gang hinunter, langsam und starr wie ein Mann, der aufs Schafott steigt.

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