20 TRIBUNAL

Der Gerichtssaal war nicht größer als ein Schulraum. An dem einen Ende saßen Wachen und Wärter auf vier oder fünf Bänken, die man dort aufgestellt hatte, und zwischen ihnen die Zuschauer: Mitglieder des Präsidiums und ausgewählte Funktionäre. Am anderen Ende hatten die drei Mitglieder des Gerichtes auf hochlehnigen Stühlen an einem unpolierten Eichenholztisch Platz genommen. Über ihnen hing an Drahtschlingen ein großer roter Stern aus Sperrholz von der Decke herab. Die Wände des Gerichtssaales waren weiß wie die Wände in der Zelle von Leamas.

Etwas vor dem Tisch, aber durch seine ganze Länge voneinander getrennt, saßen sich auf Stühlen zwei Männer gegenüber. Der eine war mittleren Alters, vielleicht sechzig, und trug einen schwarzen Anzug mit grauem Schlips, jene Art Kleidung, wie sie in deutschen Dörfern zum Kirchgang getragen wird. Der andere war Fiedler.

Leamas saß zwischen zwei Wächtern an der Rückwand des Raumes. Zwischen den Köpfen der Zuschauer hindurch konnte er Mundt sehen, der ebenfalls von Polizei umgeben war. Sein blondes Haar war sehr kurz geschnitten, und seine breiten Schultern steckten unter dem vertrauten Tuch eines Häftlingsanzuges.

Es schien Leamas ein bezeichnender Hinweis auf die Einstellung des Gerichtes - oder auf den Einfluß Fiedlers - zu sein, dass er selbst Zivilkleidung tragen durfte, während Mundt in der Gefangenenkluft dasaß.

Leamas saß noch nicht lange auf seinem Platz, als der Vorsitzende des Tribunals, der den Mittelplatz am Tisch einnahm, seine Glocke läutete. Dieser Klang lenkte den Blick von Leamas auf den Vorsitzenden, und ein Schauer lief ihm über die Haut, als er nun bemerkte, dass es eine Frau war. Es war verständlich, dass er dies nicht schon früher bemerkt hatte, denn sie war um die Fünfzig, mit kleinen Augen, und ihr dunkles Haar war männlich kurz geschnitten, während ihre Kleidung aus jener Art schwarzem Waffenrock bestand, den manche Sowjetfrauen bevorzugen. Sie ließ einen scharfen Blick durch den Raum schweifen, bedeutete dann einem Posten durch Kopfnicken, die Tür zu schließen, und wandte sich sofort, ohne weiteres Zeremoniell, an die Versammelten:

»Sie alle wissen, warum wir hier sind. Das Verfahren ist geheim, beachten Sie das. Dies ist ein Gericht, das vom Präsidium einberufen wurde, und allein dem Präsidium sind wir verantwortlich. Wir werden die Beweise würdigen, wie wir es für richtig halten.« Sie zeigte mit einer Routinebewegung ihrer Hand auf Fiedler: »Genosse Fiedler, es ist am besten, wenn Sie beginnen.«

Fiedler stand auf. Während er sich kurz zum Tisch hin verbeugte, zog er aus seiner Aktentasche einen Stoß Papiere, der von einem Stück schwarzer Schnur zusammengehalten wurde.

Er sprach ruhig und mühelos, mit einer Zurückhaltung, wie Leamas sie an ihm vorher noch nicht wahrgenommen hatte. Leamas empfand es als eine große Leistung, wie sich Fiedler der Rolle eines Mannes anpaßte, der mit Bedauern einen Vorgesetzten hängt.

»Falls Sie nicht bereits darüber informiert sind, möchte ich Sie zunächst darauf hinweisen«, begann Fiedler, »dass ich an demselben Tag, an dem das Präsidium meinen Bericht über die Umtriebe des Genossen Mundt erhielt, zusammen mit dem Informanten Leamas verhaftet worden bin. Wir wurden beide eingesperrt und - nun, sagen wir - aufgefordert, und zwar unter äußerstem Druck, ein Geständnis darüber abzulegen, dass die in meinem Bericht erhobene schreckliche Anklage nichts anderes als ein faschistisches Komplott gegen einen treuen Genossen sei.

Sie können aus dem vorliegenden Bericht ersehen, auf welche Weise wir auf Leamas aufmerksam geworden sind: Wir selbst haben ihn ausgewählt, dazu überredet, Verrat zu begehen, und ihn schließlich ins Demokratische Deutschland gebracht. Nichts könnte klarer die Unvoreingenommenheit von Leamas demonstrieren, als dass er es noch immer bestreitet, dass Mundt ein britischer Agent war. Die Gründe, die er für die Ablehnung angibt, werde ich noch erläutern. Es ist deshalb grotesk, anzunehmen, dass Leamas ein Werkzeug in fremder Hand sei: die Initiative ging von uns aus, und die fragmentarische, aber wesentliche Aussage von Leamas liefert nur den endgültigen Beweis in einer ganzen Kette von Verdachtsmomenten, die sich innerhalb der letzten Jahre ergeben haben.

Sie haben die Niederschrift dieses Falles vor sich. Ich brauche Ihnen deshalb nur noch Tatsachen zu erläutern, die Ihnen bereits bekannt sind.

Die Anklage gegen den Genossen Mundt lautet auf Spionage für eine imperialistische Macht. Ich hätte die Anklage anders vorbringen können - dass er Informationen an den britischen Geheimdienst lieferte, dass er seine Dienststelle zum ahnungslosen Lakaien eines bourgeoisen Staates machte, dass er mit voller Überlegung revanchistische und parteifeindliche Gruppen deckte und als Entgelt Beträge in ausländischer Währung annahm. Diese anderen Beschuldigungen sind alle in dem ersten Anklagepunkt zusammengefaßt: dass Hans-Dieter Mundt nämlich der Agent einer imperialistischen Macht sei. Die Strafe für dieses Verbrechen ist der Tod. Es gibt nach unserem Strafgesetz kein schwereres Verbrechen, keines, das unseren Staat mehr gefährdet oder unseren Parteiorganisationen größere Wachsamkeit abverlangt …«

Hier legte er die Papiere nieder.

»Genosse Mundt ist zweiundvierzig Jahre alt. Er ist stellvertretender Leiter des Amtes für Staatssicherheit. Er ist unverheiratet. Er ist stets als Mann von außerordentlichen Fähigkeiten angesehen worden, der unermüdlich den Parteiinteressen gedient und sie ohne Rücksichtnahme beschützt hat.

Lassen Sie mich einige Einzelheiten aus seiner Laufbahn berichten. Er trat mit achtundzwanzig Jahren in den Dienst dieser Behörde ein und erhielt die übliche Ausbildung. Nach Ablauf der Probezeit erfüllte er Sonderaufträge in skandinavischen Ländern - insbesondere in Norwegen, Schweden und Finnland -, wo es ihm gelang, durch Errichtung eines Aufklärungsnetzes den Kampf gegen die faschistischen Agitatoren in das Feindeslager vorzutragen. Er führte seinen Auftrag gut aus, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass er zu dieser Zeit etwas anderes gewesen sein soll als ein fleißiges Mitglied seiner Behörde. Aber, Genossen, Sie sollten diese frühe Verbindung zu Skandinavien nicht aus dem Auge verlieren. Denn diese Netze, die von Genossen Mundt bald nach dem Krieg aufgebaut wurden, lieferten ihm viele Jahre später den Vorwand für Reisen nach Finnland und Norwegen. Nun benutzte er seine Verbindungen nur noch als Deckmantel, unter dessen Schutz er bei ausländischen Banken Tausende von Dollar als Lohn für sein verräterisches Handeln in Empfang nehmen konnte. Geben Sie sich keinem Irrtum hin: Genosse Mundt ist nicht etwa ein Opfer jener Leute geworden, die der überzeugenden Gesetzmäßigkeit des historischen Geschehens entgegenzutreten versuchen. Erst Feigheit, dann Schwäche, dann Habgier: das sind seine Motive gewesen. Sein Traum war es, Reichtümer zu raffen. Ironischerweise wurde die Macht der Gerechtigkeit gerade durch das ausgeklügelte System auf seine Spur gebracht, durch das seine Geldgier befriedigt werden sollte.«

Fiedler machte eine Pause und schaute sich im Raum um. Seine Augen glühten vor Leidenschaft. Leamas war von ihm fasziniert.

»Es soll all jenen Feinden des Staates eine Lehre sein«, rief Fiedler erregt, »deren Verbrechen so schmutzig sind, dass sie ihre Pläne in den geheimen Stunden der Nacht schmieden müssen.«

Ein pflichteifrig zustimmendes Murmeln stieg aus der Zuschauergruppe am Ende des Raumes auf.

»Sie alle werden der Wachsamkeit des Volkes, dessen Blut sie verkaufen möchten, nicht entgehen!« Es hörte sich an, als wollte Fiedler zu einer großen Menschenmenge sprechen, und nicht zu dieser Handvoll von Funktionären und Posten, die in dem kleinen Zimmer versammelt war.

In diesem Augenblick begriff Leamas, dass Fiedler kein Risiko eingehen wollte: Die Haltung des Gerichtes, der Staatsanwaltschaft und der Zeugen mußte politisch untadelig sein. Da sich Fiedler zweifellos im klaren darüber war, dass in solchen Fällen wie diesem immer die Gefahr einer anschließenden Gegenklage schlummerte, versuchte er schon jetzt, seinen Rücken zu decken: Seine Rede wurde ja Bestandteil des Protokolls, und es hätte eines sehr tapferen Mannes bedurft, wenn jemand sie später widerlegen wollte.

Fiedler öffnete nunmehr die Akte, die auf dem Tisch vor ihm lag.

»Ende 1956 wurde Mundt als Mitglied der Deutschen Stahlmission nach London geschickt. Er hatte zusätzlich den Sonderauftrag, Maßnahmen gegen die Umtriebe von Exilgruppen zu treffen. Im Verlauf dieser Tätigkeit setzte er sich großen Gefahren aus - darüber besteht kein Zweifel - und er erzielte wertvolle Ergebnisse.«

Leamas' Aufmerksamkeit wurde wieder auf die drei Personen am Mitteltisch gelenkt. Links von der Vorsitzenden ein ziemlich junger Mann, dunkler Typ. Seine Augen schienen halb geschlossen zu sein. Er hatte strähniges, widerspenstiges Haar und die blaßgraue Gesichtsfarbe eines Asketen. Seine schlanken Finger spielten unermüdlich mit der Ecke eines vor ihm liegenden Aktenstapels. Leamas nahm an, dass er auf Mundts Seite stand, ohne dass er einen Grund für diese Vermutung hätte angeben können. Auf der anderen Seite des Tisches saß ein etwas älterer Mann mit angehender Glatze und offenem, angenehmem Gesicht. Ein ziemlicher Esel, dachte Leamas. Er vermutete, Mundt werde im Fall eines Zweifels an seiner Schuld von dem jungen Mann verteidigt und von der Frau verurteilt werden. Der zweite Mann würde dann durch diese Meinungsverschiedenheit in Verlegenheit geraten und sich der Vorsitzenden anschließen.

Fiedler sprach wieder.

»Am Ende seiner Dienstzeit in London wurde er vom Gegner angeworben. Ich sagte schon, dass er sich großen Gefahren aussetzte. Dabei geriet er in Konflikt mit der britischen Geheimpolizei, und man erließ einen Haftbefehl gegen ihn. Mundt, der nicht unter diplomatischer Immunität stand - der NATO-Staat England erkennt unsere Souveränität nicht an -, mußte untertauchen, denn alle Häfen wurden beobachtet, und seine Fotografie mit einer Personenbeschreibung überall auf den Britischen Inseln verbreitet. Dennoch nahm Genosse Mundt nach zwei Tagen im Versteck ein Taxi zum Londoner Flughafen und flog nach Berlin. ›Brillant‹, werden Sie sagen, und so war es auch. Angesichts der ganzen alarmierten britischen Polizei, trotz ständiger Überwachung der Straßen, Eisenbahnen, Schifffahrts- und Luftlinien besteigt Genosse Mundt auf dem Londoner Flughafen ein Flugzeug. Brillant, in der Tat. Oder vielleicht werden Sie fühlen, Genossen, wenn Sie die Sache nachträglich überlegen, dass Mundts Flucht aus England ein wenig zu brillant, ein wenig zu leicht war, ja, dass sie ohne Duldung der britischen Behörden überhaupt nie möglich gewesen wäre!« Wieder erhob sich im hinteren Teil des Raumes ein Murmeln, spontaner als zuvor.

»Die Wahrheit ist dies: Mundt ist von den Engländern gefaßt worden. In einem kurzen, entscheidenden Verhör boten sie ihm die klassische Alternative an. Sollte er Jahre in einem britischen Gefängnis verbringen, seine glänzende Laufbahn auf diese Art beendet sehen, oder würde er entgegen allen Erwartungen auf dramatische Weise in seine Heimat zurückkehren und dadurch die kühnen, in ihn gesetzten Hoffnungen seiner Vorgesetzten noch übertreffen? Freilich setzten die Engländer vor seine Rückkehr noch eine Bedingung: er sollte versprechen, sie mit Informationen zu versehen. Und sie sagten zu, ihm dafür große Geldbeträge zukommen zu lassen. Mundt ist also mit Zucker von vorn und der Peitsche von hinten angeworben worden.

Von nun an lag es im Interesse der Briten, Mundts Karriere zu fördern. Wir können noch nicht nachweisen, ob Mundts Erfolge bei der Liquidierung von unbedeutenderen Agenten des Westens auf die Hilfe seiner imperialistischen Herren zurückgehen, die ihre eigenen, entbehrlicheren Mitarbeiter opferten, um Mundts Prestige zu erhöhen. Wir können es nicht nachweisen, das vorliegende Material legt uns diese Annahme aber nahe.

Seit 1960 - dem Jahre, da Genosse Mundt Leiter des Abwehramtes geworden ist - haben uns fortwährend Hinweise aus aller Welt erreicht, dass ein hochgestellter Spion in unseren Reihen sein müsse. Sie alle wissen, dass Karl Riemeck ein Spion war. Wir glaubten, dass mit ihm das Übel ausgerottet sein werde. Aber die Gerüchte hielten sich weiter.

Gegen Ende des Jahres 1960 nahm ein früherer Mitarbeiter von uns im Libanon Kontakt zu einem Engländer auf, von dem bekannt war, dass er Verbindung zum Secret Service hatte. Er bot ihm, wie wir bald danach erfuhren, einen vollständigen Aufriß jener beiden Büros der ›Abteilung‹ an, für die er früher gearbeitet hatte. Sein Angebot wurde nach einer Rückfrage in London abgewiesen. Eine sonderbare Sache: es konnte nur heißen, dass die Engländer dieses Material bereits besaßen.

Von Mitte 1960 an verloren wir im Ausland Mitarbeiter in alarmierendem Ausmaß. Sie wurden oft wenige Wochen nach ihrer Entsendung verhaftet. Manchmal versuchte der Feind, unsere Leute umzudrehen. Aber nicht oft. Es schien, als habe man daran kaum Interesse.

Und dann - es war im Frühjahr 1961, wenn mein Gedächtnis nicht trügt - hatten wir Glück. Wir erhielten auf Wegen, über die ich mich nicht auslassen möchte, eine Zusammenfassung der Informationen, die das Secret Service bisher über die ›Abteilung‹ bekommen hatte. Diese Informationen waren vollständig, genau und sie entsprachen in verblüffender Weise dem neuesten Stand. Ich zeigte es natürlich Mundt, da er mein Vorgesetzter war. Er sagte mir, es sei keine Überraschung für ihn: Er habe schon gewisse Ermittlungen eingeleitet, und ich solle nichts unternehmen, da sich das störend auswirken könne. Ich gestehe, dass mir in diesem Moment der Gedanke durch den Kopf ging, abwegig und phantastisch wie er war, dass Mundt womöglich selbst die Informationen geliefert habe. Es gab auch noch andere Hinweise …

Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, dass der allerletzte Mann, den man der Spionage verdächtigen würde, der Leiter der Abwehr ist. Der Gedanke ist so entsetzlich, so bombastisch, dass nur wenige ihn fassen würden, geschweige denn, dass sie ihn auszusprechen wagen. Ich gestehe, dass ich mich selbst eines übermäßigen Widerstrebens schuldig gemacht habe, als ich mich weigerte, eine scheinbar so phantastische Folgerung zu ziehen. Das war leider ein Irrtum.

Aber, Genossen, der endgültige Beweis ist uns in die Hand gegeben worden. Ich beantrage, diesen Zeugen jetzt einzuvernehmen.« Er wandte sich um und blickte zum hinteren Teil des Raumes. »Bringt Leamas nach vorn.«

Die Posten beiderseits von ihm erhoben sich, und Leamas quetschte sich an seinen Banknachbarn vorbei zu dem Gang, der in der Breite eines halben Meters zwischen den Bänken freigelassen worden war. Ein Posten bedeutete ihm, dass er sich mit dem Gesicht zu den Richtern vor den Tisch stellen solle. Fiedler stand nicht mehr als zwei Meter von ihm entfernt. Zunächst richtete die Vorsitzende das Wort an ihn.

»Zeuge, wie ist Ihr Name?« fragte sie.

»Alec Leamas.«

»Wie alt sind Sie?«

»Fünfzig.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Aber Sie waren es.«

»Jetzt bin ich es nicht.«

»Ihr Beruf?«

»Bibliotheksassistent.«

Fiedler intervenierte verärgert. »Sie waren aber früher beim britischen Geheimdienst angestellt, oder?« stieß er hervor.

»Jawohl. Bis vor einem Jahr.«

»Das Gericht hat den Bericht Ihres Verhörs gelesen«, fuhr Fiedler fort. »Ich möchte, dass Sie dem Gericht nochmals die Unterhaltung schildern, die Sie mit Peter Guillam irgendwann im Mai letzten Jahres hatten.«

»Sie meinen, als wir von Mundt sprachen?«

»Ja.«

»Ich habe es Ihnen erzählt: Im Rondell, das ist unsere Zentrale in London, lief mir Peter auf dem Korridor in den Weg. Ich wußte, dass er mit dem Fall Fennan zu tun gehabt hatte. Ich fragte ihn, was aus George Smiley geworden wäre. Wir kamen dann auf Dieter Frey zu sprechen, der gestorben, und Mundt, der in den Fall verwickelt war. Peter sagte, nach seiner Meinung habe Maston nicht gewünscht, dass Mundt gefaßt werde - Maston war es, der damals die Sache unter sich hatte.«

»Wie erklären Sie sich das?« fragte Fiedler.

»Ich wußte, dass Maston den Fall Fennan ziemlich verwirrt hatte. Ich nahm an, er wolle vermeiden, dass durch Mundts Erscheinen vor Gericht Staub aufgewirbelt würde.«

»Wäre Mundt im Fall seiner Verhaftung vor einem regulären Gericht angeklagt worden?« schaltete sich wieder die Vorsitzende ein.

»Das wäre darauf angekommen, wer ihn faßte. Wenn die Polizei ihn erwischt hätte, wäre ans Innenministerium Meldung gemacht worden. Danach hätte keine Macht der Erde mehr die Anklage gegen ihn unterdrücken können.«

»Und wenn Ihr Geheimdienst ihn gefaßt hätte?« erkundigte sich Fiedler.

»Oh, das ist etwas anderes. Wahrscheinlich hätte man ihn verhört und dann gegen einen unserer hochgegangenen Leute auszutauschen versucht. Oder man hätte ihm gleich eine Fahrkarte gegeben.«

»Was heißt das?«

»Man hätte ihn abgestoßen.«

»Ihn liquidiert?« Fiedler stellte jetzt alle Fragen, und die Mitglieder des Gerichtes schrieben eifrig in ihren Akten.

»Ich weiß nicht, was man da macht. Ich habe mit solchen Dingen nie etwas zu tun gehabt.«

»Ist es nicht möglich, dass man versucht hat, ihn umzudrehen?«

»Möglich schon. Aber sie hatten keinen Erfolg.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ach, du meine Güte, ich habe Ihnen das immer wieder erklärt. Ich bin schließlich nicht nur ein untergeordneter Mann gewesen. Ich war viele Jahre lang Leiter der Berliner Organisation. Wenn Mundt einer von unseren Leuten gewesen wäre, hätte ich das gewußt. Ich hätte gar nicht anders gekonnt, als es zu wissen.«

»Ganz recht.«

Fiedler schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, vielleicht weil er davon überzeugt war, dass der Rest des Gerichtes nicht damit zufrieden sein konnte. Er wandte sich nun der Operation »Rollstein« zu, ließ Leamas eine Schilderung der besonderen Sicherheitsmaßnahmen geben, die für die Bearbeitung des Aktes erlassen worden waren, fragte ihn nach den Briefen an die Banken in Stockholm und Helsinki, und berichtete von der Antwort, die darauf eingetroffen war.

Indem er sich an das Gericht wandte, erklärte er dann: »Aus Helsinki haben wir keine Antwort bekommen. Ich weiß nicht, warum. Aber erlauben Sie mir, dass ich den ganzen Vorgang noch einmal zusammenfassend wiederhole: Leamas deponierte am 15. Juni Geld. Unter den Papieren, die Sie vor sich haben, befindet sich das Faksimile eines Briefes der Königlich-Skandinavischen Bank, adressiert an Robert Lang. Robert Lang war der Name, unter dem Leamas das Kopenhagener Depositenkonto eröffnete. Aus diesem Brief (er trägt die Nummer zwölf in Ihren Akten) geht hervor, dass die ganze Summe von zehntausend Dollar eine Woche nach Eröffnung des Kontos vom zweiten Verfügungsberechtigten wieder abgehoben worden ist. Ich denke«, fuhr Fiedler fort, wobei er mit dem Kopf auf die bewegungslose Gestalt Mundts in der vorderen Reihe deutete, »es wird vom Angeklagten nicht bestritten werden, dass er am 21. Juni in Kopenhagen war, angeblich zur Ausführung eines Geheimauftrages der ›Abteilung‹.«

Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:

»Leamas' Reise nach Helsinki - die zweite, die er machte, um Geld zu deponieren - fand um den 24. September herum statt.« Er erhob seine Stimme und blickte direkt auf Mundt. »Am 3. Oktober unternahm Genosse Mundt eine geheime Reise nach Finnland - angeblich wieder im Interesse der ›Abteilung‹.« Es war still. Fiedler drehte sich langsam um und sprach nun wieder direkt zu den Richtern. In gedämpftem und zugleich drohendem Ton fragte er: »Haben Sie den Eindruck, dass dies nur Indizienbeweise seien? Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen noch etwas ins Gedächtnis rufe.«

Er wandte sich wieder an Leamas: »Zeuge, während Ihrer Tätigkeit in Berlin kamen Sie mit Karl Riemeck, dem früheren Sekretär beim Präsidium der Sozialistischen Einheitspartei, in Verbindung. Welchen Charakter hatte diese Verbindung?«

»Er war mein Agent, bis er von Mundts Leuten erschossen wurde.«

»Ganz richtig. Er wurde von Mundts Leuten erschossen. Einer von mehreren Spionen, die kurz und bündig von dem Genossen Mundt liquidiert wurden, noch ehe sie verhört werden konnten. Aber bevor er von Mundts Leuten erschossen wurde, war er Agent des britischen Geheimdienstes?«

Leamas nickte.

»Schildern Sie Riemecks Zusammenkunft mit dem Mann, den Sie ›Chef‹ nennen.«

»Der Chef kam von London nach Berlin herüber, um Karl zu sprechen. Karl war wohl einer der ergiebigsten unserer Agenten, und der Chef wollte ihn treffen.«

Fiedler schaltete ein: »Ihm wurde wohl auch am meisten vertraut?«

»Ja. In London wurde Karl direkt geliebt, es gab nichts, was er hätte falsch machen können. Als der Chef herüberkam, arrangierte ich ein Treffen in meiner Wohnung. Wir aßen dort zu dritt. Mir war es eigentlich nicht recht, dass Karl in meine Wohnung kam, aber das konnte ich dem Chef nicht sagen. Es ist schwer zu erklären, aber in London sitzt man so weit vom Schuß, und es bilden sich ganz bestimmte Vorstellungen heraus - ich hatte entsetzliche Angst, sie würden plötzlich irgendeine Ausrede finden, um die Führung Karls selbst zu übernehmen. Sie sind durchaus imstande, so etwas zu machen.«

»So haben Sie also eine Zusammenkunft zu dritt arrangiert«, unterbrach Fiedler kurz angebunden. »Was geschah?«

»Der Chef bat mich vorher, ihn unauffällig mit Karl eine Viertelstunde allein zu lassen. Deshalb tat ich dann irgendwann im Laufe des Abends so, als hätten wir keinen Scotch mehr. Ich verließ die Wohnung und ging zu de Jong. Ich nahm dort noch einige Drinks, borgte mir eine Flasche aus, und kehrte zurück.«

»Wie fanden Sie sie vor?«

»Was meinen Sie?«

»Sprachen der Chef und Riemeck noch miteinander? Wenn ja, worüber sprachen sie?«

»Sie sprachen überhaupt nicht, als ich zurückkam.«

»Danke. Sie können sich setzen.«

Leamas kehrte auf seinen Platz zurück.

Fiedler wandte sich den drei Mitgliedern des Gerichtes zu und begann: »Ich möchte zuerst über den Spion Riemeck sprechen, der erschossen wurde: Sie haben eine nach der Erinnerung von Leamas zusammengestellte Liste aller jener Informationen vor sich, die Riemeck in Berlin an Alec Leamas übergeben hat, soweit sich Leamas noch daran erinnern kann. Es ist ein beachtliches Dokument des Verrates. Lassen Sie mich das Material für Sie zusammenfassen. Riemeck gab seinen Herren einen detaillierten Überblick über die Arbeit und das Personal der gesamten »Abteilung«. Er war in der Lage, wenn man Leamas Glauben schenken darf, die Vorgänge in unseren geheimsten Sitzungen zu berichten. Als Sekretär beim Präsidium gab er Protokolle von den geheimsten Verhandlungen preis. Das war leicht für ihn; er stellte selbst den Bericht über jede Sitzung zusammen. Aber wie Riemeck Zugang zu den Geheimsachen der Abteilung gefunden hat, ist eine andere Frage. Wer brachte Ende 1959 Riemeck in den Ausschuß für Staatssicherheit, diesen wichtigen Unterausschuß des Präsidiums, der die Angelegenheiten unserer Sicherheitsorgane koordiniert und behandelt? Wer machte den Vorschlag, dass Riemeck das Recht auf Zugang zu den Akten der ›Abteilung‹ bekommen solle? Wer wählte ihn während jeder Etappe seiner Laufbahn seit 1959 (dem Jahr, da Mundt aus England zurückkehrte, Sie erinnern sich) für Stellungen von außerordentlicher Verantwortlichkeit aus? - Ich will es Ihnen sagen«, rief Fiedler: »Derselbe Mann, der durch seine Stellung einzigartige Möglichkeiten hatte, ihn in seiner Spionagearbeit decken zu können: Hans-Dieter Mundt! Wir wollen uns noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen, wie Riemeck den Kontakt zum britischen Geheimdienst in Berlin aufnahm - wie er den Wagen de Jongs bei einem Picknick aufstöberte, um den Film hineinzulegen. Sind Sie nicht erstaunt über Riemecks hellseherische Fähigkeiten? Wie konnte er herausbekommen haben, wo dieser Wagen zu finden war und an welchem Tag? Riemeck hatte selbst keinen Wagen, er konnte de Jong nicht von dessen Haus in Westberlin aus gefolgt sein. Es gab nur eine Möglichkeit, woher er es wissen konnte - durch die Vermittlung unserer eigenen Sicherheitspolizei, die de Jongs Anwesenheit routinemäßig zu melden hatte, sobald der Wagen den Sektorenübergang passiert hatte. Dieses Wissen war Mundt zugänglich, und Mundt stellte es Riemeck zur Verfügung. Dies ist der Beweis gegen Hans-Dieter Mundt. Ich versichere Ihnen: Riemeck war seine Kreatur, das Bindeglied zwischen Mundt und seinen imperialistischen Auftraggebern.« Nach einer Pause setzte Fiedler ruhig hinzu: »Mundt-Riemeck-Leamas: das war die Kette, und es ist ein Grundsatz der Aufklärungsarbeit in der ganzen Welt, dass jedes Glied der Kette so wenig wie möglich von den anderen weiß. Es ist deshalb ganz in Ordnung, wenn Leamas behauptet, er wisse nichts über eine Mitarbeit von Mundt: Das ist nichts anderes als ein Beweis dafür, wie gut man in London die einzelnen Stationen gegeneinander abzuschirmen verstand.

Sie sind weiter davon unterrichtet worden, dass der ganze Fall ›Rollstein‹ mit besonderen Sicherheitsmaßnahmen umgeben wurde, und ferner, dass Leamas in sehr ungenauen Vorstellungen von der Abteilung Peter Guillams vermutete, sie befasse sich mit der wirtschaftlichen Situation in unserer Republik. Es klingt überraschend, dass eine angeblich nur mit Wirtschaftsfragen befaßte Abteilung auf der Verteilerliste von ›Rollstein‹ stand. Erlauben Sie mir den Hinweis, dass derselbe Peter Guillam einer von jenen britischen Sicherheitsoffizieren war, die Mundts Tätigkeit in England zu untersuchen hatten.«

Der junge Mann am Tisch hob seinen Bleistift und fragte, indem er Fiedler mit harten, kalten, weit offenen Augen ansah: »Warum wurde Riemeck dann von Mundt liquidiert, wenn Riemeck doch sein Agent war?«

»Mundt konnte nicht anders. Riemeck stand unter Verdacht. Seine Freundin hatte ihn durch indiskrete Prahlerei verraten. Mundt gab den Befehl, ihn bei seinem Auftauchen sofort zu erschießen, und veranlaßte Riemeck zur Flucht. Damit war für Mundt die Gefahr, verraten zu werden, ausgeschaltet. Später ließ Mundt dann die Frau ermorden.

Ich möchte einmal kurz Mundts Technik beleuchten: Im Anschluß an seine Rückkehr nach Deutschland, im Jahre 1959, begann für den britischen Geheimdienst zunächst einmal ein Geduldspiel. Mundts Bereitschaft zur Zusammenarbeit mußte erst noch bewiesen werden. Man gab ihm deshalb Anweisungen und wartete. Man beschränkte sich darauf, das Geld zu zahlen und das Beste zu hoffen. Zu dieser Zeit war Mundt weder in unserem Amt noch in unserer Partei in leitender Stellung, aber er bekam doch eine Menge zu sehen, und was er sah, wurde weitergegeben. Natürlich hielt er die Verbindung zu seinen Herren ohne fremde Hilfe aufrecht. Wir müssen annehmen, dass man ihn in Westberlin traf, oder dass man bei seinen kurzen Reisen ins Ausland nach Skandinavien und anderswohin Fühlung mit ihm aufnahm. Die Engländer waren am Anfang sehr auf ihrer Hut - wer wäre das nicht -, sie prüften seine Informationen mit peinlicher Sorgfalt an dem, was sie schon wußten. Sie fürchteten zweifellos, dass er ein doppeltes Spiel treiben könnte. Aber allmählich merkten sie, dass sie eine Goldgrube erschlossen hatten. Mundt widmete sich seiner verräterischen Arbeit mit der systematischen Genauigkeit, für die er bekannt ist. Was jetzt folgt, Genossen, ist zwar nur eine Vermutung, aber sie basiert auf langjähriger Erfahrung mit dieser Art Arbeit und auf der Aussage von Leamas: In den ersten Monaten wagten die Engländer nicht, um Mundt herum ein Netz aufzubauen. Sie hielten ihn als einsamen Wolf in ihren Diensten und zahlten und unterwiesen ihn unabhängig von ihrer Berliner Organisation. Sie bildeten in London unter Guillam, der ja Mundt in London angeworben hatte, eine kleine Abteilung, deren Aufgaben sogar innerhalb der Organisation geheimgehalten wurden und außer einem beschränkten Personenkreis niemandem bekannt waren. Sie bezahlten Mundt mittels eines eigenen Systems, das sie ›Rollstein‹ nannten, und behandelten seine Informationen zweifellos mit äußerster Vorsicht. Die Beteuerungen von Leamas, dass ihm die Tätigkeit Mundts unbekannt gewesen sei, steht also keineswegs in Widerspruch zu der Tatsache, von der Sie gleich hören werden, dass er ihn nämlich nicht nur bezahlte, sondern dass es praktisch auch Mundts Material war, das er aus den Händen von Riemeck entgegennahm, um es nach London weiterzugeben.

Gegen Ende 1959 informierte Mundt seine Auftraggeber in London, dass er innerhalb des Präsidiums einen Mann gefunden habe, der als Vermittler zwischen ihm und London fungieren werde. Dieser Mann war Karl Riemeck.

Wie fand Mundt zu Riemeck? Wie konnte er es wagen, Riemeck zu einer derartigen Zusammenarbeit aufzufordern? Sie müssen sich die Ausnahmestellung Mundts vor Augen halten: Er hatte Zugang zu allen Sicherheitsakten, konnte Telefonleitungen anzapfen, Briefe öffnen, Beobachtungen machen lassen. Er konnte mit unbestrittenem Recht verhören, wen er wollte, und er hatte von allen ein bis ins Detail gehendes Bild ihres privaten Lebens. Vor allem konnte er sofort jeden Verdacht zum Verstummen bringen, indem er eben dieselbe Waffe gegen das Volk kehrte, die eigentlich für den Schutz des Volkes gedacht war.« Fiedlers Stimme zitterte vor Empörung.

Ohne Mühe kehrte er zu seiner sachlichen Sprechweise zurück und fuhr fort:

»Sie können jetzt erkennen, was London tat. Man behandelte Mundts Identität noch immer als strenges Geheimnis, stimmte stillschweigend der Anwerbung von Riemeck zu, und ermöglichte es, dass ein indirekter Kontakt zwischen Mundt und dem Berliner Büro hergestellt wurde. Darin liegt die Bedeutung von Riemecks Verbindung zu de Jong und Leamas. So sollten Sie Leamas' Aussagen interpretieren, so müssen Sie Mundts Verrat ermessen.« Er drehte sich um und rief, indem er Mundt voll ins Gesicht sah: »Dort sitzt der Saboteur, der Terrorist! Dort ist der Mann, der des Volkes Rechte verkauft hat!

Ich bin fast am Ende. Nur eines muß noch gesagt werden. Mundt hat sich den Ruf erworben, ein loyaler und aufrechter Beschützer des Volkes zu sein. Er hat für immer jene Zeugen zum Schweigen gebracht, die sein Geheimnis hätten verraten können. Er tötete also im Namen des Volkes, um seinen faschistischen Verrat zu decken und um seine eigene Karriere in unserem Amt zu fördern. Man kann sich kein schrecklicheres Verbrechen denken als dieses. Das ist der wahre Grund, warum er schließlich, nachdem er alles in seiner Macht Stehende zum Schutze des immer verdächtiger werdenden Karl Riemeck getan hatte, den Befehl zur sofortigen Erschießung Riemecks gab. Das ist der Grund, weshalb er Riemecks Geliebte ermorden ließ.

Wenn Sie dem Präsidium Ihr Urteil abgeben werden, dann schrecken Sie nicht davor zurück, die volle Abscheulichkeit der Verbrechen dieses Mannes zu erkennen. Für Hans-Dieter Mundt ist das Todesurteil eine Begnadigung.«

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