10 DER DRITTE TAG

An diesem Nachmittag erschien Peters nicht mehr, auch nicht am nächsten Morgen. Leamas blieb im Haus und wartete mit wachsender Unruhe auf eine Nachricht. Aber es kam keine. Er fragte die dicke Haushälterin, aber sie lächelte nur und zuckte mit den Achseln. Ungefähr um elf Uhr am nächsten Morgen entschloß er sich, einen Spaziergang am Strand zu machen. Er kaufte Zigaretten und starrte verdrossen auf die See hinaus.

Ein Mädchen am Strand warf den Möwen Brot hin. Sie drehte ihm den Rücken zu. Der vom Meer herwehende Wind spielte mit ihrem langen schwarzen Haar, blähte ihren Mantel und ließ ihren Körper als einen Bogen erscheinen, der sich der See entgegenneigte. Da wurde ihm bewußt, was ihm Liz gegeben hatte: etwas, um dessentwillen er zurückkommen mußte, sollte er je wieder nach England heimkehren. Es war die Liebe zu den kleinen Dingen - der Glaube an das alltägliche Leben. Einfach etwas Brot in kleine Stücke brechen, es in einer Papiertüte an den Strand hinunternehmen, um es an die Möwen zu verfüttern. Es war seine Sehnsucht, einmal jene Nebensächlichkeiten tun zu dürfen, die ihm bisher verwehrt gewesen waren, was auch immer es betraf: Brot für die Möwen oder Liebe. Er würde heimkehren und es finden; er würde Liz es für ihn finden lassen: in ein, zwei Wochen vielleicht konnte er schon wieder daheim sein. Der Chef hatte gesagt, dass er alles behalten könne, was man ihm hier zahlen würde - und das würde genügen. Mit fünfzehntausend Pfund, einer Abfindung und der Pension vom Rondell konnte es sich ein Mann leisten, aus der Kälte hereinzukommen, wie der Chef das zu nennen pflegte.

Er machte einen Umweg und kam Viertel vor zwölf zum Bungalow zurück. Die Frau ließ ihn wortlos ein, aber er hörte, dass sie den Telefonhörer abnahm und eine Nummer wählte, sobald er in das Zimmer gegangen war. Sie sprach nur einige Sekunden. Um halb eins brachte sie ihm das Mittagessen und, zu seiner Freude, einige englische Zeitungen, in die er sich zufrieden bis drei Uhr vertiefte. Bücher las Leamas normalerweise nie, aber Zeitungen studierte er immer langsam und sorgfältig. Er behielt viele Einzelheiten im Gedächtnis, wie Namen und Adressen von Menschen, die in irgendeiner kleinen Meldung einmal erwähnt worden waren. Er prägte sich solche Dinge fast unbewußt ein, als sei es eine Art privates Gedächtnistraining, und es nahm ihn vollkommen in Anspruch.

Um drei Uhr kam Peters. Sobald Leamas ihn sah, wußte er, dass irgend etwas los war. Sie setzten sich nicht an den Tisch; Peters zog nicht einmal seinen Regenmantel aus.

»Ich habe schlechte Nachrichten für Sie«, sagte er. »Sie werden in England gesucht. Ich hörte es heute morgen. Die Häfen werden beobachtet.«

Leamas fragte unbeteiligt: »Mit welcher Begründung?«

»Sie hätten sich nach der Gefängnishaft nicht innerhalb der vorgeschriebenen Zeit bei der Polizei gemeldet.«

»Und in Wirklichkeit?«

»Es wird gemunkelt, dass Sie gegen das Gesetz über den Schutz von Staatsgeheimnissen verstoßen hätten. Ihr Foto ist in allen Londoner Abendblättern. Die Bildunterschriften sagen nicht viel aus.«

Leamas stand ganz still. Das hatte der Chef veranlaßt. Der Chef hatte diese Hetzjagd angekurbelt. Es gab keine andere Erklärung. Selbst wenn Ashe und Kiever hineingezogen worden waren und wenn sie etwas gesagt haben sollten - auch dann lag die Verantwortung für die Treibjagd noch immer beim Chef. »Ein paar Wochen …«, hatte er gesagt. »Ich nehme an, man wird Sie irgendwo anders befragen - es könnte sogar sein, dass man Sie ins Ausland bringt. Nach einigen Wochen müßte die Sache für Sie aber erledigt sein. Danach sollte alles von selbst weiterlaufen. Sie werden sich hier verborgen halten müssen, bis sich unsere Chemie ausgewirkt hat; aber ich bin sicher, dass Sie nichts dagegen haben werden. Ich habe zugestimmt, dass man Ihnen die aktiven Dienstbezüge solange weiterzahlt, bis Mundt beseitigt ist: das schien die gerechteste Lösung zu sein.«

Und jetzt dies.

Das war nicht Teil der Abmachung; das war etwas anderes. Wie, zum Teufel, sollte er sich jetzt verhalten? Wenn er jetzt ausstieg und sich weigerte, mit Peters zu gehen, würde er damit die Operation zerstören. Es bestand die Möglichkeit, dass Peters log, dass dies eine Probe war - um so mehr ein Grund, jetzt mit ihm zu gehen. Aber wenn er mit in den Osten ging, nach Polen, in die Tschechoslowakei oder Gott weiß wohin, so gab es keinen vernünftigen Grund, weshalb sie ihn je wieder herauslassen sollten, ja es gab nicht einmal eine vernünftige Begründung für seinen Wunsch, herausgelassen zu werden - es lief ja im ganzen Westen eine Fahndung nach ihm.

Der Chef hatte es getan - dessen war er sicher. Die Bedingungen waren ihm schon die ganze Zeit verdächtig großzügig vorgekommen. Das Rondell warf nicht grundlos derartig mit dem Geld herum - es sei denn, sie hätten von Anfang an heimlich mit der Möglichkeit gerechnet, dass sie ihn verlieren könnten. Geld in dieser Menge war ein Pflaster für Härten und Gefahren, deren Existenz der Chef nicht offen zugeben wollte. Die Großzügigkeit des Angebotes hätte eine Warnung sein sollen; aber Leamas hatte diese Warnung nicht beachtet.

»Wie, zum Teufel«, fragte er ruhig, »sind sie darauf gekommen?« Ein Gedanke schien ihm durch den Kopf zu gehen und er sagte: »Ihr Freund Ashe hätte sie natürlich informieren können, oder Kiever …«

»Die Möglichkeit besteht«, erwiderte Peters. »Sie wissen genausogut wie ich, dass solche Dinge immer vorkommen können. Es gibt in unserem Beruf keine Sicherheit. Tatsache ist«, fügte er etwas ungeduldig hinzu, »dass inzwischen jedes Land in Westeuropa nach Ihnen Ausschau hält.«

Leamas hatte Peters kaum gehört.

»Sie haben mich jetzt fest am Haken, nicht wahr, Peters?« sagte er. »Ihre Leute müssen sich krank lachen. Oder stammt der Tip vielleicht von Ihnen?«

»Sie überschätzen Ihre Bedeutung«, sagte Peters säuerlich.

»Dann verraten Sie mir, weshalb Sie mich beschatten lassen. Als ich heute morgen einen Spaziergang machte, blieben mir dauernd zwei kleine Männer in braunen Anzügen auf den Fersen. Einer zehn Meter hinter dem anderen, den ganzen Strand entlang. Als ich zurückkam, rief die Haushälterin Sie an.«

»Bleiben wir doch bei dem, was wir wissen«, schlug Peters vor.

»Es kann uns doch im Augenblick ziemlich gleichgültig sein, auf welche Weise Ihre Dienststelle Ihnen auf die Spur gekommen ist. Tatsache ist, sie sind Ihnen draufgekommen.«

»Haben Sie die Londoner Abendzeitung mitgebracht?«

»Natürlich nicht. Man kann sie hier nicht bekommen. Wir erhielten ein Telegramm aus London.«

»Das ist eine Lüge. Sie wissen sehr gut, dass Ihre Stellen nur mit der Zentrale Verbindung aufnehmen dürfen.«

»In diesem Fall wurde ein direkter Kontakt zwischen zwei Außenstellen gestattet«, erwiderte Peters ärgerlich.

»Nun gut«, sagte Leamas mit einem gezwungenen Lächeln. »Sie müssen eine große Nummer sein. Oder - ein Gedanke schien ihm plötzlich durch den Kopf zu schießen - ist die Zentrale an dieser Angelegenheit nicht beteiligt?«

Peters überging diese Frage.

»Sie kennen die Alternative: entweder Sie überlassen es uns, für Sie zu sorgen und Ihren sicheren Übergang zu arrangieren, oder Sie sind auf sich selbst angewiesen - mit der Gewißheit, schließlich doch gefaßt zu werden. Sie haben keine falschen Papiere, kein Geld, nichts. Ihr britischer Paß wird in zehn Tagen ungültig.«

»Es gibt eine dritte Möglichkeit. Geben Sie mir einen Schweizer Paß und etwas Geld und lassen Sie mich laufen. Ich kann selbst für mich sorgen.«

»Ich fürchte, das wird man nicht für wünschenswert halten.«

»Sie meinen, Sie haben die Befragung nicht beendet? Vorher kann ich nicht freikommen?«

»Das ist, grob ausgedrückt, die Lage.«

»Was werden Sie mit mir machen, wenn das Verhör beendet ist?«

Peters zuckte die Achseln. »Was schlagen Sie vor?«

»Einen neuen Ausweis. Skandinavischen Paß vielleicht. Geld.«

»Es ist reine Theorie, aber ich will es meinen Vorgesetzten empfehlen. Kommen Sie mit?«

Leamas zögerte, dann lächelte er ein wenig unsicher und fragte: »Wenn ich nicht mitkäme, was würden Sie tun? Schließlich habe ich eine ganz nette Geschichte zu erzählen, wie?«

»Geschichten dieser Art sind schwer nachzuweisen. Ich werde diese Nacht nicht mehr hier sein. Ashe und Kiever …«, er zuckte mit den Achseln, »was ergibt sich schon daraus?«

Leamas ging zum Fenster.

Ein Sturm kam über der grauen Nordsee auf. Er sah den Möwen zu, wie sie unter den dunklen Wolken kreisten. Das Mädchen war verschwunden.

»Gut«, sagte er schließlich, »organisieren Sie es.«

»Es gibt vor morgen kein Flugzeug in den Osten. Aber in einer Stunde fliegt eines nach Berlin. Das werden wir nehmen. Es wird sehr knapp werden.«

Die passive Rolle, die Leamas an diesem Abend spielen mußte, ermöglichte es ihm, wieder einmal die trotz größter Einfachheit ungemein wirksamen Vorbereitungen zu bewundern, die Peters getroffen hatte. Der Paß war schon lange vorher ausgestellt worden. Die Zentrale mußte das arrangiert haben. Er war auf den Namen Alexander Thwaite, Reisender, ausgestellt und mit Visa und Grenzstempeln vollgepflastert - der alte, vielbenützte Paß eines Berufsreisenden. Der holländische Grenzbeamte auf dem Flugplatz nickte bloß und stempelte ihn achtlos, einfach weil es die Vorschrift verlangte. Peters war in der Reihe drei oder vier Plätze hinter ihm und nahm kein Interesse an den Formalitäten.

Als er in die »Nur für Passagiere« reservierte Absperrung kam, erblickte Leamas einen Zeitungsstand. Dort war eine Anzahl internationaler Zeitungen ausgehängt: Figaro, Le Monde, Neue Zürcher Zeitung, Die Welt und ein halbes Dutzend britischer Tages- und Wochenblätter. Gerade als er hinsah, kam die Verkäuferin um den Kiosk herum nach vorn und steckte einen Evening Standard in den Zeitungsständer. Leamas ging schnell hinüber und nahm die Zeitung heraus.

»Wieviel?« fragte er. Als er in seine Hosentasche griff, fiel ihm plötzlich ein, dass er kein holländisches Geld hatte.

»Dreißig Cents«, erwiderte das Mädchen. Sie war ziemlich hübsch, mit dunklem Haar und einem lustigen Gesicht.

»Ich habe nur zwei englische Shilling. Nehmen Sie das an?«

»Ja, bitte«, antwortete sie, und Leamas gab ihr das Zweishillingstück. Er schaute sich um. Peters war noch an der Paßabfertigung und hatte Leamas den Rücken zugewandt. Ohne Zögern ging Leamas weiter zur Herrentoilette. Dort blätterte er schnell, aber sorgfältig die Zeitung durch, schob sie dann in den Abfallkorb und ging weiter nach draußen. Es stimmte: Sein Bild war zusammen mit einer kleinen, recht allgemein gehaltenen Unterschrift in der Zeitung. Er fragte sich, ob Liz das gesehen hatte. In Gedanken versunken ging er in den Warteraum hinüber. Zehn Minuten später bestiegen sie das Flugzeug nach Hamburg und Berlin. Zum erstenmal seit Beginn des Unternehmens hatte Leamas Angst.

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