8 LE MIRAGE

Es war ein kalter Morgen. Der leichte Nebel war feucht und grau, er prickelte auf der Haut. Der Flughafen erinnerte Leamas an den Krieg: Maschinen warteten, halb im Nebel verborgen, geduldig auf ihre Herren, laut tönende Stimmen und ihr Echo, ein plötzlicher Ruf, das unpassende Klick-Klack, das die Absätze eines Mädchens auf dem Steinboden machten, das Aufheulen einer Maschine, die unmittelbar neben einem zu stehen schien. Überall jene Verschwörerstimmung, die zwischen Menschen entsteht, die seit dem Morgengrauen auf sind - fast ein Gefühl gemeinsamer Überlegenheit, da man zusammen erlebt hat, dass die Nacht entschwand, und man den Tag hatte kommen sehen. Das Personal trug jene Mienen zur Schau, die vom Mysterium des Tagesanbruches geformt und von der Kälte belebt werden, und sie behandelten die Passagiere und ihr Gepäck mit dem inneren Abstand, den Männer haben, die von der Front zurückgekehrt sind: Gewöhnliche Sterbliche gab es an diesem Morgen nicht für sie.

Kiever hatte Leamas mit Handgepäck versehen. Das war ein nettes Detail und erregte Leamas' Bewunderung: Passagiere ohne Gepäck erregten Aufmerksamkeit, und das gehörte sicher nicht zu Kievers Plan. Sie ließen sich am Schalter ihrer Fluggesellschaft abfertigen und folgten den Wegweisern zur Paßkontrolle. Es gab einen seltsamen Augenblick, als sie sich verliefen und Kiever zu einem Träger grob wurde. Leamas nahm an, dass Kiever wegen des Passes nervös war. Er braucht das nicht zu sein, dachte Leamas, es ist alles in Ordnung.

Der Paßbeamte war ein jugendlicher kleiner Mann mit einem geheimnisvollen Abzeichen an seinem Rockaufschlag. Er hatte einen rötlichen Schnurrbart und einen nordenglischen Akzent, den er vergeblich zu unterdrücken versuchte.

»Werden Sie lange weg sein, Sir?« fragte er Leamas. »Sie müssen achtgeben, Sir. Der Paß läuft diesen Monat ab.«

»Ich weiß«, sagte Leamas.

Sie gingen Seite an Seite in den Wartesaal für Passagiere. Auf dem Weg dorthin sagte Leamas: »Sie sind ein argwöhnischer Gauner, was, Kiever?«, und der andere lachte erleichtert.

»Müssen Sie ein bißchen an der Leine halten, nicht wahr? Gehört zum Vertrag«, antwortete Kiever.

Sie hatten noch zwanzig Minuten zu warten. Sie setzten sich an einen Tisch und bestellten Kaffee. »Und nehmen Sie das hier mit«, sagte Kiever zum Kellner, indem er auf gebrauchte Tassen, Untertassen und Aschenbecher auf dem Tisch zeigte.

»Es kommt ein Abservierwagen vorbei«, erwiderte der Kellner.

»Nehmen Sie es weg«, wiederholte Kiever, der schon wieder gereizt war. »Es ist widerlich, schmutziges Geschirr herumstehen zu lassen.«

Der Kellner drehte sich um und ging weg. Er ging weder zur Theke noch bestellte er ihren Kaffee. Kiever war weiß im Gesicht, krank vor Ärger.

»Hören Sie um Gottes willen auf«, murmelte Leamas. »Das Leben ist zu kurz.«

»Ein frecher Lümmel ist das«, sagte Kiever.

»Gut, gut. Machen Sie ruhig eine Szene. Es wäre der richtige Moment dafür. Man wird uns hier nie vergessen.«

Die Formalitäten auf dem Flughafen in Den Haag verursachten keine Probleme. Kiever schien sich von seinen Ängsten erholt zu haben. Er wurde munter und gesprächig, als sie die kurze Entfernung vom Flugzeug zur Zollabfertigung zurücklegten. Der junge holländische Beamte widmete ihrem Gepäck und den Pässen nur einen oberflächlichen Blick und verkündete in ungeschicktem, gutturalem Englisch: »Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt in den Niederlanden.«

»Danke«, sagte Kiever fast zu leutselig, »danke vielmals.«

Vom Zoll gingen sie durch den Korridor zur Eingangshalle auf der anderen Seite der Flughafengebäude hinüber. Kiever steuerte auf den Hauptausgang zu, durch kleine Menschengruppen hindurch, die geistesabwesend auf die Auslagen von Parfümerie-, Foto- und Obstkiosken starrten. Als sie ihren Weg durch die Drehglastür nahmen, schaute Leamas zurück. Am Zeitungskiosk, vertieft in eine Ausgabe der Continental Daily Mail, stand eine kleine froschartige Gestalt mit einer großen Brille: ein ernster, mit Sorgen beladener kleiner Mann. Er sah aus wie ein Staatsbeamter. Oder so etwas Ähnliches.

Auf dem Parkplatz wurden sie von einem Volkswagen mit einer holländischen Nummer erwartet. Die Frau, die hinter dem Steuer saß, nahm keine Notiz von ihnen. Sie fuhr langsam und hielt an Verkehrsampeln immer schon bei gelbem Licht. Leamas zog daraus den Schluß, dass man ihr diese Fahrweise vorgeschrieben hatte, damit ein anderer Wagen folgen konnte. Er beobachtete den Außenrückspiegel rechts und versuchte, den Wagen zu erkennen, aber ohne Erfolg. Er sah einmal einen schwarzen Peugeot mit einer CD-Nummer, aber als sie dann um die Ecke bogen, war nur noch ein Möbeltransporter hinter ihnen. Er kannte Den Haag ziemlich gut vom Krieg her, und er versuchte herauszubekommen, wo es hinging. Er schätzte, dass sie auf eine Stelle nordwestlich von Scheveningen zufuhren. Sie hatten bald die Vororte passiert und näherten sich einer Villenkolonie, die zwischen Dünen und Meer lag. Hier hielten sie. Die Frau stieg aus und läutete an der Tür des ersten von einer Reihe kleiner, cremefarbener Bungalows. Sein Name, Le Mirage, stand in blaßblauen gotischen Schriftzeichen auf einer Eisentafel über der Tür. Im Fenster stand ein Schild, dass alle Zimmer besetzt seien.

Die Tür wurde von einer freundlichen, dicken Frau aufgemacht, die an der Fahrerin vorbei nach dem Wagen schaute. Sie kam freudestrahlend die Auffahrt herunter. Sie erinnerte Leamas an seine Kindheit, an eine alte Tante, die ihn geschlagen hatte, weil er Bindfaden vergeudete.

»Wie schön, dass Sie gekommen sind!« erklärte sie. »Wir freuen uns schrecklich.«

Kiever ging voran. Die Fahrerin stieg wieder in den Wagen. Leamas blickte die Straße zurück, die sie gerade gekommen waren. Hundert Meter entfernt hielt ein schwarzer Wagen, ein Fiat vielleicht, oder ein Peugeot. Ein Mann in einem Regenmantel stieg aus.

In der Diele schüttelte die Frau herzlich Leamas' Hand. »Willkommen in Le Mirage. Schöne Reise gehabt?«

»Sehr schön«, erwiderte Leamas.

»Sind Sie geflogen oder mit dem Schiff gekommen?«

»Wir sind geflogen«, sagte Kiever; »ein ausgezeichneter Flug.« Er hätte Inhaber der Fluggesellschaft sein können.

»Ich werde Ihr Mittagessen machen«, erklärte sie, »etwas Besonderes. Ich werde Ihnen etwas besonders Gutes machen. Was soll ich Ihnen bringen?«

»Guter Gott«, sagte Leamas leise, und die Türglocke läutete. Die Frau ging schnell in die Küche. Kiever öffnete die Eingangstür.

Er trug einen Regenmantel mit Lederknöpfen. Er hatte ungefähr Leamas' Größe, war aber älter. Leamas schätzte ihn auf ungefähr fünfundfünfzig. Sein Gesicht hatte eine ungesunde graue Farbe und scharfe Furchen. Er hätte Soldat sein können. Er streckte die Hand aus.

»Mein Name ist Peters«, sagte er. Seine Finger waren schlank und gepflegt.

»Hatten Sie eine gute Reise?«

»Ja«, sagte Kiever schnell, »ziemlich ereignislos.«

»Mr. Leamas und ich haben eine Menge zu besprechen. Ich glaube nicht, dass wir dich brauchen, Sam. Du könntest mit dem Volkswagen zur Stadt zurückfahren.«

Kiever lächelte. Leamas sah, wie erleichtert er war. »Auf Wiedersehen, Leamas«, sagte Kiever mit scherzender Stimme. »Viel Glück, alter Junge.«

Leamas nickte, ohne Kievers Hand zu beachten.

»Auf Wiedersehen«, wiederholte Kiever und ging still zur Eingangstür hinaus.

Leamas folgte Peters in einen rückwärtigen Raum. Vor den Fenstern hingen schwere, mit Fransen verzierte und kunstvoll in Falten geraffte Vorhänge. Das Fensterbrett war mit Topfpflanzen überladen, mit Kakteen, Tabakpflanzen und einem seltsamen Baumgewächs mit breiten weichen Blättern. Die Möbel waren schwer und pseudoantik. In der Mitte des Raumes standen ein Tisch und zwei geschnitzte Stühle. Auf dem Tisch lag eine schwere, rostrote Decke, die fast wie ein Teppich wirkte, und auf ihr waren vor jedem Stuhl Bleistifte und Papier bereitgelegt. Auf einer Anrichte standen Whisky und Soda. Peters ging hin und machte ihnen einen Drink.

»Hören Sie«, sagte Leamas plötzlich, »von jetzt an komme ich ohne Ihre Aufmerksamkeiten aus. Sie verstehen, was ich meine? Wir beide wissen, woran wir sind: wir sind Fachleute. Sie haben einen bezahlten Überläufer bekommen - viel Erfolg mit ihm. Aber tun Sie um Himmels willen nicht so, als wären Sie in mich verliebt.«

Es klang nervös, als ob er seiner selbst nicht ganz sicher sei.

Peters nickte. »Kiever sagte mir schon, Sie seien ein stolzer Mann«, bemerkte er unbefangen. Dann fügte er ohne Lächeln hinzu: »Warum sonst sollte sich ein Mann an Ladenbesitzern vergreifen?«

Leamas vermutete, Peters sei Russe, aber er war nicht ganz sicher. Peters' Englisch war nahezu vollkommen, er hatte die Ungezwungenheit und das Benehmen eines Mannes, der schon lange an zivilisierten Komfort gewöhnt ist.

Sie setzten sich an den Tisch.

»Kiever hat Ihnen gesagt, was ich Ihnen zahlen will?« erkundigte sich Peters.

»Ja. Fünfzehntausend Pfund, abzuheben auf einer Berner Bank.«

»Ja.«

»Er sagte, Sie würden im Lauf des nächsten Jahres vielleicht weitere Fragen haben«, sagte Leamas. »Sie seien zur Zahlung weiterer fünftausend bereit, wenn ich mich zur Verfügung hielte.«

Peters nickte.

»Diese Bedingung nehme ich nicht an«, fuhr Leamas fort. »Sie wissen so gut wie ich, dass sich das nicht machen läßt. Ich möchte in der Lage sein, die Fünfzehntausend abheben und dann verschwinden zu können. Ihre Leute haben eine rauhe Art, mit abgesprungenen Agenten umzugehen, und genauso ist es bei uns. Ich werde mich nicht in St. Moritz auf meine vier Buchstaben setzen, während Sie jedes Netz aufrollen, das ich Ihnen gegeben habe. Meine Leute sind keine Idioten. Es wäre ihnen klar, nach wem sie zu suchen hätten. Soviel Sie und ich wissen, sind sie jetzt hinter uns her.«

Peters nickte: »Sie könnten doch aber … wohin gehen, wo es sicher ist?«

»Hinter den Vorhang?«

Ja.«

Leamas schüttelte nur den Kopf und sagte:

»Ich denke, Sie werden für die einleitende Befragung drei Tage brauchen. Dann wollen Sie sicherlich nach Hause berichten, um genaue Instruktionen zu erhalten.«

»Nicht unbedingt«, antwortete Peters.

Leamas sah ihn interessiert an.

»Ich verstehe«, sagte er. »Man hat den Experten geschickt. Oder ist die Moskauer Zentrale nicht mit im Spiel?«

Peters schwieg. Er sah Leamas nur abschätzend an. Schließlich nahm er den Bleistift in die Hand und sagte: »Wollen wir mit Ihrem Kriegseinsatz beginnen?«

Leamas zuckte mit den Schultern: »Das ist Ihre Sache.«

»Richtig. Wir fangen mit dem Kriegseinsatz an. Sprechen Sie.«

»Neununddreißig kam ich zu den Pionieren. Ich war gerade am Ende meiner Ausbildung, als man durch einen Aufruf nach Leuten mit Sprachkenntnissen suchte. Sie sollten sich für Spezialeinsätze im Ausland melden. Ich konnte Holländisch und Deutsch und ziemlich gut Französisch. Außerdem hatte ich vom Soldatendasein genug. Also meldete ich mich. Ich kannte Holland gut. Mein Vater hatte in Leyden eine Vertretung für Werkzeugmaschinen, und ich habe neun Jahre dort gelebt. Ich wurde auf die übliche Weise ausgefragt und kam dann auf eine Schule in der Nähe von Oxford, wo man mir die bekannten Tricks beibrachte.«

»Wer leitete die Schule?«

»Am Anfang wußte ich's nicht. Dann lernte ich Steed-Asprey kennen, und einen Oxforddozenten namens Fielding. Sie leiteten sie. Einundvierzig wurde ich in Holland abgesetzt, dort blieb ich fast zwei Jahre. Wir verloren die Agenten damals schneller, als sie zu finden waren. Es war reiner Mord. Holland ist für diese Art Arbeit eine verflucht schlechte Gegend - es gibt keine einsamen Landstriche und keine abseits gelegenen Stellen, wo man eine Zentrale errichten oder ein Funkgerät aufbauen könnte. Immer in Bewegung, immer auf der Flucht. Es war eine scheußliche Sache. Dreiundvierzig kam ich raus und war einige Monate in England. Dann versuchte ich mich in Norwegen - verglichen mit Holland eine Landpartie. Fünfundvierzig wurde ich ausgezahlt und ging nach Holland zurück, um das alte Geschäft meines Vaters wieder aufzumachen. Es war nichts. Also tat ich mich mit einem alten Freund zusammen, der ein Reisebüro in Bristol hatte. Das dauerte achtzehn Monate, dann waren wir pleite. Plötzlich kam aus heiterem Himmel ein Brief vom Geheimdienst: Ob ich nicht zurückkommen wollte? Aber ich meinte, ich hätte inzwischen von diesem Kram genug gehabt. Deshalb antwortete ich, ich würde es mir überlegen. Ich mietete mir ein Landhaus auf Lundy Island. Dort blieb ich ein Jahr und dachte über meine Verdauung nach, bis mir auch das langweilig geworden war. Ich schrieb ihnen also. Ende neunundvierzig stand ich wieder auf der Gehaltsliste. Unterbrochener Dienst freilich - verminderter Pensionsanspruch und die üblichen Einschränkungen. Mache ich zu schnell?«

»Im Augenblick nicht«, antwortete Peters und schenkte ihm noch etwas Whisky ein. »Wir werden das alles freilich noch einmal genau, mit Namen und Datum, besprechen.«

Es wurde an die Tür geklopft, und die Frau brachte das Essen herein, eine enorme Mahlzeit aus kaltem Fleisch, Brot und Suppe. Peters schob seine Notizen beiseite. Sie aßen schweigend.

Das Geschirr wurde abgeräumt. »Sie sind also ins Rondell zurückgekehrt«, sagte Peters.

»Ja. Eine Weile beschäftigten sie mich mit Schreibtischarbeit, Bearbeitungen von Berichten, Schätzungen über das Militärpotential in Ostblockländern, Beobachtung von Truppen Verschiebungen und derlei Dinge.«

»Welche Abteilung?«

»Ostblock vier. Ich war dort von Februar fünfzig bis Mai einundfünfzig.«

»Wer waren Ihre Kollegen?«

»Peter Guillam, Brian de Grey und George Smiley. Smiley verließ uns Anfang einundfünfzig und ging zur Abwehr. Im Mai einundfünfzig wurde ich als stellvertretender Gebietschef nach Berlin versetzt. Das heißt, dass ich für die ganze praktische Arbeit verantwortlich war.«

»Wen hatten Sie unter sich?«

Peters schrieb jetzt schnell. Leamas vermutete, dass er sich für den Hausgebrauch eine Art Kurzschrift zugelegt hatte.

»Hackett, Sarrow und de Jong. De Jong starb neunundfünfzig bei einem Verkehrsunfall. Wir waren der Meinung, dass er ermordet worden ist, konnten es aber nie beweisen. Sie hatten alle ihre Netze und standen unter meinem Befehl. Wünschen Sie Einzelheiten?« fragte er trocken.

»Natürlich, aber erst später. Fahren Sie fort.«

»Gegen Ende vierundfünfzig zogen wir in Berlin den ersten großen Fisch an Land: Fritz Feger, zweiter Mann im DDR-Verteidigungsministerium. Bis dahin war es nur sehr zäh gegangen. Aber im November kamen wir an Fritz heran. Er hielt sich fast zwei Jahre. Dann plötzlich hörten wir nichts mehr von ihm. Ich habe erfahren, er sei im Gefängnis gestorben. Es dauerte drei Jahre, ehe wir wieder jemanden fanden, der ihm gleichkam. Das war neunundfünfzig, als Karl Riemeck auftauchte. Er war im Präsidium der ostdeutschen KP. Er war der beste Agent, den ich jemals gekannt habe.«

»Er ist jetzt tot«, bemerkte Peters.

Leamas' Gesicht schien für einen Augenblick den Ausdruck fast schlechten Gewissens anzunehmen: »Ich war dort, als er erschossen wurde«, murmelte er. »Er hatte eine Freundin, die, kurz ehe er starb, herüberkam. Er hatte ihr alles erzählt. Sie kannte das ganze verdammte Netz. Kein Wunder, dass er erwischt wurde.«

»Wir kommen später auf Berlin zurück. Sagen Sie: Nachdem Karl gestorben war, flogen Sie doch nach London zurück. Sind Sie für den Rest Ihrer Dienstzeit dort geblieben?«

»Was davon übrigblieb, ja.«

»Welche Aufgaben hatten Sie?«

»Bankabteilung: Überprüfung von Agentengehältern, geheime Auslandszahlungen. Ein Kind hätte es bewältigen können. Wir hatten unsere Befehle und danach unterschrieben wir die Überweisungsaufträge. Gelegentlich machte uns die Sicherheitsfrage Kopfzerbrechen.«

»Haben Sie mit Agenten direkt verhandelt?«

»Wie hätten wir können? Unser ständiger Mann in einem bestimmten Land forderte für irgend etwas eine Summe an, die Direktion gab ihre Genehmigung, und wir erhielten den Auftrag, die Überweisung vorzunehmen. In den meisten Fällen transferierten wir das Geld an eine geeignete ausländische Bank, wo es sich unser Mann abholen und dem Agenten geben konnte.«

»Wie wurden Agenten bezeichnet? Mit Decknamen?«

»Mit Kennziffern. Im Rondell heißt das ›Kombinationen‹. Jedem Netz ist eine Kombination zugewiesen: der Agent ist durch eine Zahl gekennzeichnet, die an die Kombination angehängt wird. Karls Kombination war 8 a/1.«

Leamas schwitzte. Peters beobachtete ihn gelassen. Wie ein Berufsspieler schätzte er ihn über den Tisch hinweg. Was war Leamas wert? Womit konnte man ihn brechen, was zog ihn an, was stieß ihn ab? Was haßte er? Vor allem: was wußte er? Würde er seine beste Karte bis zuletzt behalten, um sie teuer zu verkaufen? Peters glaubte das nicht. Leamas war zu sehr aus dem Gleichgewicht, um herumspielen zu können. Er war uneins mit sich selbst, ein Mann, der bisher nur ein Leben und einen Glauben gekannt hatte. Daran war er nun zum Verräter geworden. Peters hatte so etwas schon öfter gesehen, sogar bei Männern, die eine völlige ideologische Wandlung durchgemacht hatten. Obwohl sie in einsamen Nachtstunden einen neuen Glauben gefunden hatten und allein von der inneren Kraft ihrer neuen Überzeugung zum Verrat an ihrem Beruf, ihrer Familie, ihrem Vaterland gebracht worden waren, hatten selbst sie, die doch gleichsam mit neuem Eifer und neuer Hoffnung erfüllt waren, gegen das Stigma des Verrates zu kämpfen gehabt. Selbst sie rangen mit der physischen Pein, die ihnen das Aussprechen jener Dinge bereitete, die niemals, niemals zu offenbaren, sie gelehrt worden waren. Wie abtrünnige Christen, die sich scheuten, das Kreuz zu verbrennen, zögerten sie zwischen ihrem Instinkt und der Vernunft. Und Peters, der in demselben Gegensatz gefangen war, mußte ihnen Beruhigung geben und ihren Stolz zerstören. Es war eine Situation, die ihnen beiden bewußt war. Deshalb wehrte sich Leamas leidenschaftlich gegen eine menschliche Beziehung zu Peters, die sein Stolz nicht zugelassen hätte. Und Peters wußte, dass Leamas aus diesen Gründen lügen würde, vielleicht nur durch Verschweigen, aber trotz allem lügen - aus Stolz, aus Trotz oder auch nur aus der Perversität, die zur Natur seines Berufes gehörte. Peters' Aufgabe war es, diese Lügen zu erkennen. Ihm war klar, dass schon allein die Berufserfahrung von Leamas gegen seine Interessen wirkte, da sie ihn automatisch zur Auslese von Informationen verführen würde, während Peters keine Auslese wünschte. Leamas hatte bestimmte Vorstellungen darüber, welche Art Auskünfte Peters brauchte, und diese Vorstellungen mochten ihn dazu verleiten, nicht in sie hineinpassende Dinge in seinem Bericht zu übergehen, obwohl sie womöglich von größtem Interesse für die Auswerter waren. Zu all dem mußte Peters noch die launischen Eitelkeiten eines alkoholischen Wracks hinzurechnen.

»Ich denke«, sagte er, »wir sollten jetzt Ihren Berlineinsatz im Detail besprechen. Das wäre also die Zeit von Mai 1951 bis März 1961. Nehmen Sie noch einen Drink!«

Leamas beobachtete ihn, als er eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch nahm und sie anzündete. Er registrierte, dass Peters Linkshänder war und dass er die Zigaretten stets so in den Mund steckte, dass sich der Markenaufdruck am anderen Ende befand und also verbrannte. Es war eine Entdeckung, die Leamas gefiel: sie zeigte, dass Peters wie er selbst vom Fach war.

Peters hatte ein merkwürdiges Gesicht. Es war ausdruckslos und grau. Die Farbe mußte es längst verlassen haben - vielleicht in einem Gefängnis während der frühen Tage der Revolution -, und jetzt waren seine Züge geformt, Peters würde dieses Aussehen behalten, bis er starb. Nur das borstige graue Haar mochte vielleicht weiß werden, aber sein Gesicht würde so bleiben. Leamas fragte sich, wie der wirkliche Name von Peters wohl lauten mochte und ob er verheiratet sei. Es war etwas sehr Strenggläubiges an ihm, das Leamas schätzte. Es war der Glaube an die eigene Stärke, ein großes Selbstvertrauen. Wenn Peters log, dann nicht ohne guten Grund. Seine Lüge würde kalkuliert und notwendig sein und sehr weit entfernt von der linkischen Unehrlichkeit eines Ashe.

Ashe, Kiever, Peters: das war eine unübersehbare Steigerung der Qualität, der Autorität, was für Leamas das Wesentliche an der Rangordnung eines Spionagenetzes darstellte. Er nahm an, dass mit dieser Steigerung ein Fortschritt im Bereich des Moralischen verbunden war: Ashe, der Söldling; Kiever, der Mitläufer; und jetzt Peters, für den sich die Mittel allein aus dem Ziel rechtfertigten.

Leamas begann über Berlin zu sprechen. Peters unterbrach ihn kaum, stellte selten eine Frage oder machte eine Bemerkung. Aber wenn er es tat, so zeigte er eine technische Wißbegier und eine Gewandtheit, die vollkommen der Art von Leamas entsprach. Leamas schien sich von der leidenschaftslosen, berufsmäßigen Sachlichkeit seines Befragers sogar angenehm angesprochen zu fühlen - es war die Art, die ihnen beiden gemeinsam war.

Es habe viel Zeit in Anspruch genommen, ein brauchbares Netz von Berlin aus in der Ostzone aufzubauen, erklärte Leamas. In den ersten Jahren war die Stadt von zweitklassigen Agenten überschwemmt: Die Nachrichtenbeschaffung in Berlin war entwertet und zu einer so alltäglichen Sache gemacht worden, dass man einen neuen Mann bei einer Cocktailparty anwerben und beim Abendessen instruieren konnte, und bis zum Frühstück war er dann schon hochgegangen. Für einen Fachmann war es ein Alptraum: Dutzende verschiedener Organisationen, von denen die Hälfte mit Gegenagenten durchsetzt war, Tausende von losen Enden, zu viele Hinweise, zu wenig ernsthafte Quellen, zu wenig Raum, um operieren zu können. Wohl gab es mit Feger 1954 einen vielversprechenden Anfang, aber ausgerechnet 1956, als jede Geheimdienstabteilung nach erstklassigen Informationen schrie, steckten sie in einer ausgesprochenen Flaute. Feger hatte sie finanziell ausgeplündert, aber nur zweitklassiges Material dafür geliefert, das den allgemeinen Nachrichten nur um eine Nasenlänge voraus war. Sie hätten die eigentlichen, entscheidenden Informationen gebraucht - und sie mußten weitere drei Jahre warten, ehe sie diese Art Sachen bekamen.

Sie stießen auf die Quelle, als de Jong eines Tages einen Picknickausflug in die Wälder am Rande Ostberlins machte. Er fuhr einen Wagen mit britischer Militärnummer, den er auf einem Weg neben dem Kanal abgeschlossen parkte. Nach dem Picknick liefen die Kinder mit dem Korb voraus. Als sie den Wagen erreichten, blieben sie stehen, zögerten, ließen den Korb fallen und rannten zurück. Jemand hatte die Wagentür aufgebrochen. Der Griff war beschädigt und die Tür leicht geöffnet. De Jong fluchte, weil er sich erinnerte, dass er die Kamera im Handschuhfach gelassen hatte. Er ging hin und untersuchte den Wagen. Der Türgriff war abgebrochen. De Jong nahm an, dass man ein Stück Stahlrohr verwendet hatte, wie man es im Ärmel verstecken kann. Aber die Kamera war noch da, ebenso sein Jacke und einige Pakete, die seiner Frau gehörten. Auf dem Fahrersitz lag eine Tabakbüchse, und in der Büchse eine kleine Nickelpatrone. De Jong wußte genau, was sie enthielt; es war die Filmpatrone einer Kleinstbildkamera, wahrscheinlich einer Minox.

De Jong fuhr heim und entwickelte den Film. Er enthielt das Protokoll der letzten Präsidialsitzung der SED. Durch einen kuriosen Zufall hatten sie Vergleichsmaterial aus einer anderen Quelle - die Aufnahmen waren echt.

Leamas übernahm den Fall. Er hatte einen Erfolg dringend nötig. Seit seiner Ankunft in Berlin hatte er praktisch noch nichts erreicht und er stand schon nahe an der für hauptberufliche Organisationsarbeit üblichen Altersgrenze. Genau eine Woche später fuhr er mit de Jongs Wagen zum selben Platz und machte einen Spaziergang.

Es war ein trostloser Fleck, den sich de Jong für sein Picknick ausgesucht hatte: ein Stück Kanal, daneben die Trümmer von einigen gesprengten Bunkern, ringsum ausgedörrte, sandige Felder und auf der Ostseite - ungefähr siebzig Meter von dem am Kanal entlangführenden Schotterweg entfernt - ein spärlicher Kiefernwald. Aber der Fleck hatte den Vorteil, einsam zu liegen - etwas, das in Berlin selten zu finden war. Eine heimliche Überwachung war hier ausgeschlossen. Leamas ging in den Wald. Weil er nicht wußte, aus welcher Richtung die Annäherung erfolgen würde, machte er keinen Versuch, den Wagen zu beobachten. Er fürchtete, das Vertrauen seines Informanten zu erschüttern, wenn er ihn heimlich zu beobachten versuchte und dabei gesehen würde. Freilich war diese Sorge nicht nötig.

Als er zurückkam, war nichts im Wagen, und er fuhr nach Westberlin zurück, wobei er sich für seine Dummheit hätte ohrfeigen mögen: für weitere zwei Wochen stand keine Präsidialsitzung auf dem Programm. Nach drei Wochen borgte er sich wieder de Jongs Wagen und nahm diesmal tausend Dollar in Zwanzigern in seinem Picknickkoffer mit. Er ließ den Wagen unabgeschlossen zwei Stunden stehen, und als er zurückkehrte, lag eine Tabakbüchse im Handschuhfach. Der Picknickkoffer war verschwunden.

Die Filme waren erstklassiges Dokumentarmaterial. In den nächsten sechs Wochen fuhr er noch zweimal. Jedesmal mit dem gleichen Ergebnis.

Leamas wußte, dass er auf eine Goldader gestoßen war. Er gab der Quelle den Decknamen »Mayfair« und schickte einen pessimistischen Brief nach London. Hätte er London Appetit auf die Sache gemacht, hätte man dort nicht gezögert, den Fall an sich zu ziehen und ihn direkt zu kontrollieren. Leamas wußte dies und er war verzweifelt bemüht, es zu verhindern, denn die Operation »Mayfair« war wohl die einzige Möglichkeit, mit der er sich vor der Pensionierung schützen konnte, aber es bestand die Gefahr, dass man ihn ausbooten würde, weil die Sache für London groß genug war, um sie selbst zu übernehmen. Auch wenn er das Rondell auf Armlänge davon weghielt, bestand noch immer die Gefahr, dass es Theorien aufstellen, Vorschläge machen, zur Vorsicht drängen, bestimmte Aktionen befehlen würde. Sie hätten zum Beispiel verlangen können, dass er nur mit neuen Dollarnoten zahlte, deren Spur man folgen konnte. Sie wären imstande gewesen, sich die Filmpatronen zur Untersuchung nach London schicken zu lassen. Sie hätten schwerfällige Beschattungsoperationen planen und die anderen Abteilungen davon unterrichten können. Vor allem hätten sie die anderen Abteilungen informieren wollen, und das, sagte sich Leamas, hätte alles für immer verdorben. Drei Wochen arbeitete er verbissen daran, die Personalakten des Parteipräsidiums durchzukämmen. Er hoffte, auf diesem Weg einen Hinweis auf die Person seines Informanten zu bekommen, ehe das Rondell Blut geleckt hatte. Er legte eine Liste aller Büroangestellten an, die möglicherweise Zugang zu den Protokollen haben könnten. Auf Grund der Verteilerliste, die zusammen mit der letzten Seite des Sitzungsprotokolls fotografiert war, belief sich die Gesamtzahl möglicher Informanten auf einunddreißig Personen, Sekretäre und Büroangestellte eingeschlossen.

Die Aufgabe, einen Informanten aus den unvollständigen Akten von einunddreißig Kandidaten herauszufinden, war so gut wie unmöglich. Also kehrte Leamas zur Analyse des ursprünglichen Materials zurück, was er - wie er sagte - schon früher hätte tun sollen.

Es gab ihm zu denken, dass in keinem der fotografierten Protokolle die Seiten numeriert waren, dass keines den Stempel »geheim« trug und dass in der zweiten und vierten Kopie Blei- oder Farbstiftkorrekturen angebracht waren. Das brachte ihn schließlich zu einer wichtigen Schlußfolgerung: dass Fotokopien nicht von den Protokollen selbst gemacht worden waren, sondern von den Entwürfen. Wenn das so war, so mußte die Informationsquelle im Sekretariat zu suchen sein, und das Sekretariat war sehr klein. Die Entwürfe waren sehr gut und sorgfältig fotografiert worden: der Fotograf hatte also Zeit und einen eigenen Raum gehabt. Leamas nahm sich wieder das Personenverzeichnis vor. Da gab es im Sekretariat einen Mann namens Karl Riemeck, einen früheren Sanitätsunteroffizier, der als Kriegsgefangener drei Jahre in England gewesen war. Seine Schwester hatte bei Kriegsende und dem Einmarsch der Russen in Pommern gelebt, und Karl hatte seitdem nichts mehr von ihr gehört. Er war verheiratet und hatte eine Tochter namens Carla.

Leamas beschloß, auf dieser Fährte sein Glück zu versuchen.

Er ließ in London die Kriegsgefangenennummer Riemecks feststellen. Sie lautete 29012. Das Datum seiner Entlassung war der 10. November 1945. Er kaufte ein ostdeutsches Kinderbuch und malte mit kindlicher Handschrift auf die Innenseite des Deckels: »Dieses Buch gehört Carla Riemeck, geboren am 10. Dezember 1945 in Bideford, North Devon, gezeichnet: Mondraumfrau 29012.« Darunter schrieb er: »Bewerber, die Raumflüge machen wollen, melden sich zur Instruktion bei C. Riemeck persönlich. Ein Bewerbungsformular ist beigefügt. Lang lebe die Volksrepublik des demokratischen Weltraumes!«

Er versah ein Blatt liniierten Papiers mit Spalten für Name, Anschrift und Alter, und schrieb darunter: »Jeder Kandidat wird persönlich befragt. Schreiben Sie an die übliche Adresse und geben Sie an, wann und wo Sie zu sprechen sind. Anträge werden in sieben Tagen erledigt. C. R.«

Er legte das Blatt zusammen mit fünf gebrauchten Hundertdollarnoten in das Buch, das er bei der nächsten Fahrt mit de Jongs Wagen zum üblichen Platz auf dem Beifahrersitz liegenließ. Als Leamas von seinem Spaziergang zurückkam, war das Buch verschwunden. Statt dessen lag eine Tabakbüchse auf dem Sitz. Sie enthielt drei Filmrollen. Leamas entwickelte sie noch in derselben Nacht: Ein Film enthielt wie üblich die Protokolle der letzten Sitzung des Präsidiums; der zweite den Entwurf zu einer neugefaßten Darstellung der Beziehungen Ostdeutschlands zur COMECON; der dritte eine schematische Darstellung der ostzonalen Spionageorganisation, wobei die Aufgaben der einzelnen Abteilungen und besondere Merkmale ihrer Leiter angegeben waren.

Peters unterbrach: »Augenblick«, sagte er, »wollen Sie mir weismachen, dass Riemeck all das geliefert haben soll?«

»Warum nicht? Sie wissen, wieviel er zu sehen bekam.«

»Es ist kaum möglich«, bemerkte Peters, als spräche er zu sich selbst. »Er muß Hilfe gehabt haben.«

»Das hatte er später. Ich komme noch darauf.«

»Ich weiß, was Sie mir erzählen werden. Aber hatten Sie nie das Gefühl, dass er auch Beihilfe von oben gehabt haben muß - nicht nur von den Leuten, die er dann später anwarb?«

»Nein! Nein, das Gefühl hatte ich nie. Mir kam nie der Gedanke.«

»Und wenn Sie jetzt darüber nachdenken: scheint es dann wahrscheinlich zu sein?«

»Nicht besonders.«

»Nachdem Sie all dies Material ins Rondell eingeschickt hatten - ist da nie darauf hingewiesen worden, dass selbst ein Mann in Riemecks Stellung kaum derart umfassende Informationen beschaffen konnte?«

»Nein.«

»Hat man sich jemals erkundigt, woher Riemeck seine Kamera hatte, und wer ihm die Technik der Dokumentarfotografie beigebracht hat?«

Leamas zögerte. »Nein … ich bin sicher, dass nie gefragt wurde.«

»Erstaunlich«, bemerkte Peters trocken. »Entschuldigen Sie, fahren Sie fort. Ich wollte Ihnen nicht vorgreifen.«

Genau eine Woche später fuhr Leamas wieder zum Kanal. Diesmal war er nervös. Als er in den Weg einbog, sah er drei Fahrräder im Gras liegen. Achtzig Meter weiter unten am Kanal saßen drei Männer und fischten. Er stieg wie üblich aus dem Wagen und begann, auf die Baumreihe jenseits des Feldes zuzugehen. Er hatte ungefähr zehn Meter zurückgelegt, als er einen Ruf hörte. Er drehte sich um und sah, dass ihm einer der Männer zuwinkte. Seine beiden Begleiter sahen ebenfalls zu ihm her. Leamas trug einen alten Regenmantel. Er hatte seine Hände in den Taschen, und es war zu spät, sie herauszunehmen. Ihm war klar, dass zwei der Männer den dritten in ihrer Mitte deckten und dass sie möglicherweise schießen würden, wenn er seine Hände aus den Taschen nahm, denn sie könnten der Meinung sein, dass er einen Revolver in der Tasche habe. Leamas blieb drei Meter vor dem Mann in der Mitte stehen.

»Wünschen Sie etwas?« fragte Leamas.

»Sind Sie Leamas?« Es war ein kleiner, dicker Mann, der sehr sicher auftrat. Er sprach englisch.

»Ja.«

»Welche Nummer hat Ihre britische Kennkarte?«

»P R T/L 58 003/1.«

»Wo verbrachten Sie die auf den Tag von Japans Kapitulation folgende Nacht?«

»In Leyden, Holland, in der Werkstatt meines Vaters, mit einigen holländischen Freunden.«

»Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen, Mr. Leamas? Sie werden Ihren Regenmantel nicht brauchen. Ziehen Sie ihn aus und lassen Sie ihn hier liegen. Meine Freunde werden darauf achten.«

Leamas zögerte, zuckte mit den Achseln und zog seinen Mantel aus. Dann gingen sie miteinander dem Wald zu.

»Sie wissen so gut wie ich, wer er war«, sagte Leamas müde: »dritter Mann im Innenministerium, Sekretär des SED-Präsidiums, Leiter des Koordinierungsausschusses für Staatssicherheit. Ich nehme an, dass er zu seinem Wissen über de Jong und mich auf diesem Posten gekommen war: er muß die Akten über uns bei der ›Abteilung‹ gesehen haben. Er hatte drei Eisen im Feuer: das Präsidium, die internen Berichte über innenpolitische und wirtschaftliche Vorgänge - das war die einfachste Art, sich zu informieren -, und schließlich hatte er Zugang zu den Akten des Sicherheitsdienstes.«

»Aber nur einen begrenzten Zugang. Ein Außenstehender bekommt niemals alle Akten zu sehen.«

Leamas zuckte mit den Schultern.

»Ihn ließen sie aber«, sagte er.

»Was machte er mit seinem Geld?«

»Nach diesem Nachmittag gab ich ihm keines mehr. Das Rondell übernahm das sofort. Es wurde in eine westdeutsche Bank eingezahlt. Er gab mir sogar zurück, was ich ihm bereits gegeben hatte. Das Rondell zahlte es für ihn ein.«

»Wieviel erzählten Sie London über die ganze Sache?«

»Danach alles. Ich mußte. Das Rondell informierte sofort alle Abteilungen.« Leamas setzte giftig hinzu: »Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich alles um die Quelle drängte. Mit den drängenden Abteilungen im Genick, wurde London immer habgieriger. Sie wollten immer mehr und mehr, boten ihm mehr Geld. Schließlich mußten wir Karl vorschlagen, weitere Quellen anzubohren, die wir dann übernahmen, um ein Netz zu bilden. Das alles war maßlos dumm, denn es legte Karl Belastungen auf, gefährdete ihn, untergrub sein Vertrauen zu uns. Es war der Anfang vom Ende.«

»Wieviel konnten Sie aus ihm herausholen?«

Leamas zögerte. »Wieviel? Ich weiß es nicht. Es lief eine unnatürlich lange Zeit. Ich glaube, er flog auf, lange bevor er gefaßt war. Schon Monate vor dem Ende wurde sein Material immer schlechter. Ich glaube, man verdächtigte ihn damals schon und ließ ihn deshalb nicht mehr an das gute Material heran.«

»Alles in allem: was gab er Ihnen?« beharrte Peters.

Stück für Stück zählte Leamas die von Karl Riemeck geleistete Arbeit auf. Peters registrierte voll Anerkennung, dass Leamas' Gedächtnis für einen Mann, der soviel trank, erstaunlich genau funktionierte. Er konnte Daten und Namen angeben, er konnte sich der Reaktion Londons erinnern und auf welche Weise Riemecks Material bestätigt worden war - soweit dies überhaupt geschah. Er konnte sich an geforderte und gezahlte Geldsummen erinnern, und an die Termine, zu denen andere Agenten für das Netz angeworben wurden.

»Es tut mir leid«, sagte Peters schließlich, »aber ich halte es einfach für ausgeschlossen, dass ein einzelner Mann, wenn auch noch so hochgestellt, noch so vorsichtig und noch so fleißig, über eine derartige Fülle detaillierten Wissens verfügt haben soll. Und selbst wenn Riemeck zu all diesen Dingen selbst Zugang gehabt hätte, so wäre er doch nie in der Lage gewesen, das alles zu fotografieren.«

»Er war in der Lage«, beharrte Leamas. Er war plötzlich verärgert. »Riemeck hat es nur allzugut fertiggebracht. Mehr ist darüber nicht zu sagen.«

»Und das Rondell hat Sie nie angewiesen, ihn einmal zu fragen, wie und wann er dies ganze Material eingesehen hat?«

»Nein«, fuhr ihn Leamas an. »Riemeck war in dieser Hinsicht empfindlich, und London war damit zufrieden, so wie es war.«

»Nun gut«, murmelte Peters. Dann sagte er: »Übrigens, Sie haben wohl von dieser Frau gehört?«

»Von welcher Frau?« fragte Leamas scharf.

»Karl Riemecks Freundin, die in der Nacht, als Riemeck erschossen wurde, herüberkam.«

»Und?«

»Sie wurde vor einer Woche tot aufgefunden. Ermordet. Man hat sie aus einem Wagen heraus erschossen, als sie ihre Wohnung verließ.«

»Einmal war es meine Wohnung«, sagte Leamas mechanisch.

»Vielleicht wußte sie mehr über Riemecks Netz als Sie«, meinte Peters.

»Was, zum Teufel, soll das heißen?« fragte Leamas.

Peters zuckte mit den Schultern. »Es ist alles sehr merkwürdig«, bemerkte er. »Ich möchte wissen, wer sie umgebracht hat.«

Nachdem sie den Fall Riemeck erschöpfend besprochen hatten, berichtete Leamas über andere, weniger wichtige Agenten, dann über die Arbeitsweise seines Berliner Büros, seine Verbindungen, sein Personal, seine geheimen Verästelungen - die Wohnungen, Transportmittel, sein Archiv und das Fotolabor. Sie arbeiteten bis tief in die Nacht hinein und den ganzen nächsten Tag, und als Leamas schließlich in der folgenden Nacht zu Bett ging, wußte er, dass er alles, was er von der alliierten Spionage in Berlin kannte, verraten und zwei Flaschen Whisky getrunken hatte.

Etwas gab ihm zu denken: Peters' Bestehen darauf, dass Karl Riemeck Hilfe, dass er einen hochgestellten Mitarbeiter gehabt haben müsse. Der Chef hatte ihn das gleiche gefragt. Ja, jetzt erinnerte er sich plötzlich daran: der Chef hatte ihn nach Riemecks Informationsmöglichkeiten gefragt. Wie konnten beide so sicher sein, dass Karl nicht allein gearbeitet hatte? Gewiß, er hatte Helfer gehabt, zum Beispiel die beiden Leibwächter, als er sich beim Kanal mit Leamas traf. Aber das waren kleine Fische, von denen Karl ihm später erzählt hatte. Peters weigerte sich nun also, zu glauben, dass Karl allein gearbeitet hatte - und Peters mußte schließlich genau beurteilen können, welche Art Informationen Karl in die Hände bekommen konnte und welche nicht. In diesem Punkt waren sich Peters und der Chef völlig einig.

Vielleicht war es wahr. Vielleicht war da noch jemand. Vielleicht war dies die besondere Quelle, die der Chef so ängstlich gegen Mundt zu schützen versuchte. Das würde heißen, dass Karl Riemeck mit dieser Quelle zusammengearbeitet hatte, und dass seine Lieferungen auch Material enthielten, das der andere beschafft hatte. Vielleicht war dies der Grund, weshalb der Chef an jenem Abend in Leamas' Berliner Wohnung allein mit Karl zu sprechen wünschte. Wie dem auch sei, der morgige Tag würde ihn klüger machen. Morgen wollte er seine Karten ausspielen.

Er fragte sich, wer wohl Elvira umgebracht hatte, vor allem aber: aus welchem Grund war sie getötet worden?

Allerdings gab es dafür eine mögliche Erklärung: gesetzt den Fall, Elvira habe etwas über Riemecks heimlichen Mitarbeiter gewußt, vielleicht sogar seinen Namen, dann war es denkbar, dass sie von diesem Mitarbeiter ermordet worden war. Nein, das war eine zu gewagte Spekulation. Sie übersah die Schwierigkeiten, die das Überwechseln von Ost nach West bereitete - und Elvira war ja in Westberlin ermordet worden.

Leamas fragte sich, warum ihm der Chef nichts von Elviras Tod gesagt hatte. Er hätte seine Reaktion auf diese Mitteilung aus dem Mund von Peters besser vorbereiten können. Aber das waren nutzlose Erwägungen. Der Chef hatte seine Gründe, und die waren im allgemeinen so elend verzwickt, dass es einer Woche angestrengten Grübeins bedurfte, sie herauszufinden.

Als Leamas einschlief, murmelte er: »Karl war ein großer Idiot. Dieses Weib hat ihn hereingelegt. Da bin ich ganz sicher.«

Elvira war tot, und das geschah ihr recht. Er dachte an Liz.

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