18 FIEDLER

Leamas machte eine Bestandsaufnahme seiner Umgebung. Ein Bett mit Laken. Ein Einzelzimmer, ohne Gitter vor den Fenstern. Nur Vorhänge und Milchglas. Blaßgrüne Wände, dunkelgrünes Linoleum. Und Fiedler, der ihn rauchend betrachtete.

Eine Schwester brachte ihm Essen: ein Ei, etwas dünne Suppe und Obst. Er fühlte sich sterbenselend, aber er dachte sich, es sei gut, wenn er etwas esse. Fiedler schaute ihm zu.

»Wie geht es Ihnen?« fragte er.

»Verdammt schlecht«, antwortete Leamas.

»Aber besser?«

»Ich glaube, ja.« Er zögerte. »Diese Kerle haben mich fertiggemacht.«

»Sie haben einen Posten getötet, wissen Sie das?«

»Ich dachte es mir. Aber was erwartet man sich, wenn man eine Aktion derart blödsinnig aufzieht? Warum hat man uns nicht sofort verhaftet? Wozu drehen sie überall das Licht ab? Wenn irgend etwas überorganisiert war, dann war es das.«

»Ich fürchte, dass wir als ganze Nation zum Überorganisieren neigen. Im Ausland heißt das dann Gründlichkeit.« Wieder gab es eine Pause.

»Was war mit Ihnen?« fragte Leamas.

»Ich wurde auch für's Verhör präpariert.«

»Von Mundts Leuten?«

»Von Mundts Leuten und Mundt. Es war ein sehr eigenartiges Gefühl.«

»So kann man es auch ausdrücken.«

»Nein, nein. Nicht physisch. Physisch war es ein Alptraum. Aber, sehen Sie, Mundt hatte ein bestimmtes Interesse, mich zusammenzuschlagen. Ganz unabhängig vom Geständnis.«

»Weil Sie sich diese Geschichte ausgedacht haben, von ….«

»Weil ich Jude bin.«

»Großer Gott«, sagte Leamas weich.

»Allein deshalb bekam ich die Sonderbehandlung. Er sprach während der ganzen Zeit leise zu mir. Es war sehr eigenartig.«

»Was sagte er?«

Fiedler gab keine Antwort. Schließlich murmelte er:

»Das ist alles vorüber.«

»Warum? Was ist geschehen?«

»Am Tag unserer Verhaftung hatte ich beim Präsidium einen Haftbefehl gegen Mundt beantragt. Er sollte als Feind des Volkes verhaftet werden.«

»Aber Sie sind verrückt - ich habe es Ihnen gesagt, Sie sind wahnsinnig, Fiedler! Er wird niemals -«

»Es gab außer Ihrem Material andere Beweismittel gegen ihn. Material, das ich Stück für Stück während der letzten drei Jahre zusammengetragen habe. Ihre Aussage schloß die Beweiskette nur, das war alles. Sobald mir das klargeworden war, schrieb ich einen Bericht und schickte ihn außer an Mundt an jedes Mitglied des Präsidiums. Er ging beim Präsidium zusammen mit meinem Antrag auf den Haftbefehl ein.«

»Das war an dem Tag, an dem wir festgenommen wurden.«

»Ja. Ich wußte, dass Mundt kämpfen würde. Ich wußte, dass er im Präsidium Freunde hatte oder zumindest Jasager - Leute, die genügend eingeschüchtert waren, um mit meinem Bericht sofort zu ihm zu laufen. Und ich wußte, dass er am Ende verlieren würde. Das Präsidium hatte die Waffe zu seiner Vernichtung in Händen: es hatte den Bericht. Während der paar Tage, als Sie und ich verhört wurden, haben sie ihn wieder und wieder gelesen, bis sie überzeugt waren, dass alles der Wahrheit entsprach, und bis jeder wußte, dass es auch die anderen wußten. Schließlich handelten sie. Die gemeinsame Angst, ihre gemeinsame Schwäche und das gemeinsame Wissen hat sie zueinander getrieben, bis sie Front gegen ihn machten und ein Gerichtsverfahren befahlen.«

»Ein Gerichtsverfahren?«

»Geheim, natürlich. Das Gericht tritt morgen zusammen. Mundt steht unter Arrest.«

»Woraus besteht Ihr anderes Beweismaterial? Die Beweise, die Sie gesammelt haben?«

»Warten Sie ab«, entgegnete Fiedler mit einem Lächeln. »Das werden Sie morgen sehen.«

Fiedler schwieg eine Weile, während er Leamas beim Essen zusah.

»Wie wird diese Gerichtsverhandlung geführt?« fragte Leamas.

»Das ist Sache des Vorsitzenden. Es ist kein Volksgericht, das muß man im Auge behalten. Es hat mehr den Charakter eines Untersuchungsgerichtes. Wie eine Untersuchung, die von einem Ausschuß geführt wird. Ja, das ist es. Der Ausschuß wird vom Präsidium zu dem Zweck ernannt, eine bestimmte Sache zu untersuchen und darüber zu berichten. Sein Bericht enthält dann eine Empfehlung. In diesem Fall ist eine Empfehlung soviel wie ein Urteil, sie bleibt aber als Teil der Präsidialakten geheim.«

»Wie ist die Verfahrensweise? Gibt es Anwälte und Richter?«

»Es gibt drei Richter«, sagte Fiedler, »und praktisch auch eine Art Verteidigung. Ich persönlich werde morgen die Anklage gegen Mundt vertreten. Karden wird ihn verteidigen.«

»Wer ist Karden?«

Fiedler zögerte. »Ein sehr hartnäckiger Mann«, sagte er. »Sieht aber aus wie ein Landarzt, klein und gutmütig. Er war in Buchenwald.«

»Warum kann Mundt sich nicht selbst verteidigen?«

»Er wollte es lieber so. Man sagt, dass Karden einen Zeugen aufrufen wird.«

Leamas zuckte die Achseln.

»Das ist Ihre Sache«, sagte er. Dann war wieder Stille.

Schließlich sagte Fiedler nachdenklich: »Ich würde ja gar nichts sagen, wenn er mich nur aus Haß oder Eifersucht gegen meine Person gequält hätte, verstehen Sie? Dieser endlose Schmerz, während man sich die ganze Zeit sagt: Entweder werde ich ohnmächtig oder ich kann den Schmerz ertragen, dafür wird die Natur schon sorgen. Und der Schmerz wächst; man hat dasselbe Gefühl wie ein Geiger, der die E-Saite hinaufklettert: Man meint, höher könne es nun einfach nicht mehr gehen, aber es geht immer höher - so ist es mit dem Schmerz. Er wächst und wächst, und die Natur tut nichts, als einen von Ton zu Ton weiterzuführen, als sei man ein taubes Kind, dem das Hören beigebracht wird. Und die ganze Zeit wispert er: ›Jude … Jude.‹ Ich könnte es bestimmt verstehen, wenn er es für die Idee oder für die Partei getan hätte oder einfach aus persönlichem Haß. Aber all das war es nicht. Er haßte …«

»Nun gut«, sagte Leamas kurz, »schließlich sollten Sie wissen, dass er ein Saukerl ist.«

»Ja«, sagte Fiedler, »das ist er.« Er schien erregt zu sein. Leamas hatte das Gefühl, Fiedler habe das Bedürfnis, vor jemandem zu prahlen.

»Ich habe viel an Sie gedacht«, setzte Fiedler hinzu. »Ich habe an das Gespräch gedacht, das wir hatten - Sie erinnern sich -, über den Motor?«

»Welchen Motor?«

Fiedler lächelte. »Entschuldigen Sie, das ist wörtlich übersetzt. Ich meine den Antrieb, den Geist, die Triebkraft - wie immer es Christen nennen.«

»Ich bin kein Christ.«

Fiedler zuckte die Achseln. »Sie wissen aber, was ich meine.« Er lächelte wieder. »Der Umstand, der Sie verwirrt … oder, ich will es lieber anders ausdrücken: Nehmen wir an, Mundt sei im Recht. Sie müssen wissen, dass er mich aufforderte, ein Geständnis abzulegen. Ich sollte gestehen, dass ich mit britischen Spionen im Bunde sei, die Mundts Ermordung planten. Sie verstehen die Beweisführung: dass die ganze Angelegenheit vom britischen Secret Service aufgezogen worden ist, um uns dahin zu bringen, dass wir den besten Mann in der ›Abteilung‹ liquidieren. Das ganze sei nichts anderes, als der Versuch des Rondells, seinen Kampf gegen uns mit unseren eigenen Waffen zu führen.«

»Mundt hat das bei mir auch versucht«, sagte Leamas gleichgültig. Und er fügte hinzu: »Als ob die ganze verdammte Geschichte von mir ausgeheckt worden wäre.«

»Aber, was ich meine, ist folgendes: Nehmen wir an, Sie hätten wirklich so gehandelt - ich sage es nur als Beispiel, Sie verstehen -, aber nehmen wir einmal an, es wäre wahr: Würden Sie einen Mann töten - einen unschuldigen Mann?«

»Mundt ist nicht unschuldig. Er ist selbst ein Totschläger.«

»Nehmen wir an, er sei nicht gemeint. Nehmen wir an, ich sei das Opfer, auf das man es abgesehen hat: Würde London so etwas tun?«

»Es kommt darauf an … Es kommt auf die Notwendigkeit an …«

»Ah«, sagte Fiedler zufrieden, »es kommt also auf die Notwendigkeit an. Das ist genau wie Stalin. Sein Beispiel vom Verkehrsunfall und der Statistik. Das ist eine große Erleichterung.«

»Warum?«

»Sie müssen etwas schlafen«, sagte Fiedler. »Bestellen Sie sich zu essen, was Sie wollen. Man wird Ihnen jeden Wunsch erfüllen. Morgen können Sie erzählen.«

Als er an der Tür war, sah er zurück und sagte: »Es ist keinerlei Unterschied zwischen uns - das ist der eigentliche Witz, wissen Sie!«

Leamas war bald mit der zufriedenen Gewißheit eingeschlafen, dass Fiedler sein Verbündter war und dass sie schon bald Mundt in den Tod schicken würden. Das war etwas, worauf er sich schon lange gefreut hatte.

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