21 DER ZEUGE

Die Vorsitzende wandte sich an den kleinen Mann im schwarzen Anzug, der Fiedler gegenübersaß.

»Genosse Karden, Sie sprechen für den Genossen Mundt. Wünschen Sie den Zeugen Leamas zu verhören?«

»Gewiß, gewiß. Das möchte ich dann gleich nachher«, antwortete er, während er mühselig aufstand und sich die Bügel seiner goldgefaßten Brille über die Ohren zog. Er war eine gütige Erscheinung, die etwas provinziell wirkte. Sein Haar war weiß.

»Genosse Mundt behauptet« - seine sanfte Stimme hatte einen recht angenehmen Klang -, »dass Leamas lügt. Genosse Fiedler ist - so behauptet Genosse Mundt - wissentlich oder durch eine Verkettung widriger Umstände in eine Verschwörung hineingezogen worden, durch die man die ›Abteilung‹ zu sprengen und damit die Organe zur Verteidigung unseres sozialistischen Staates in Mißkredit zu bringen hofft. Wir bestreiten nicht, dass Karl Riemeck ein britischer Spion war - dafür sind Beweise vorhanden. Aber wir bestreiten, dass Mundt zu dem Zweck eines Verrates an der Partei mit ihm unter einer Decke gesteckt oder Geld empfangen hat. Wir erklären, dass es keinen objektiven Beweis für diese Anschuldigung gibt und dass Genosse Fiedler von Machtträumen berauscht und vernünftigen Argumenten gegenüber taub geworden ist. Wir behaupten, dass Leamas von dem Augenblick seiner Rückkehr aus Berlin nach London eine Komödie gespielt hat, indem er seinen schnellen Verfall in Degeneration, Trunksucht und Verschuldung nur vortäuschte, dass er nur zu dem Zweck, die Aufmerksamkeit der ›Abteilung‹ zu erregen, antiamerikanische Gefühle äußerte und in aller Öffentlichkeit einen Kaufmann angriff. Wir glauben, dass um den Genossen Mundt vom britischen Geheimdienst mit voller Absicht ein Gespinst von Indizienbeweisen gelegt worden ist: die Geldzahlungen an ausländische Banken und ihre Abhebung zu einem Zeitpunkt, zu dem Mundt gerade in dem betreffenden Land war, ferner das beiläufig geäußerte und nur auf Redereien beruhende Zeugnis von Peter Guillam sowie das geheime Treffen zwischen dem Chef und Riemeck, bei dem Dinge besprochen wurden, die Leamas nicht hören konnte: Dies alles läßt sich zu einer scheinbaren Beweiskette zusammenfügen - eine Versuchung, der Genosse Fiedler nach der richtigen Spekulation der Engländer seines brennenden Ehrgeizes wegen nicht widerstehen konnte. Er ist dadurch zum Handlanger einer schändlichen Verschwörung geworden, durch deren Hilfe einer der wachsamsten Verteidiger unserer Republik vernichtet werden soll. Besser sagte man ermordet, denn Mundt ist jetzt in Gefahr, sein Leben zu verlieren.

Paßt es nicht genau in die Liste ihrer früher begangenen Sabotageakte, umstürzlerischer Umtriebe und Menschenschacherei, dass die Engländer dieses verzweifelte Komplott ersonnen haben? Welch anderer Weg war ihnen offen, nachdem der Wall quer durch Berlin gelegt und der Zufluß westlicher Spione eingedämmt worden ist? Wir sind ihnen ins Garn gegangen. Bestenfalls hat sich Genosse Fiedler eines äußerst schwerwiegenden Fehlers schuldig gemacht. Schlimmstenfalls hat er wissentlich vor der Unterminierung unserer Staatssicherheit durch imperialistische Agenten und vor der geplanten Vergießung unschuldigen Blutes seine Augen geschlossen!

Wir haben auch einen Zeugen.« Er nickte dem Gericht freundlich zu. »Ja. Auch wir haben einen Zeugen. Denn Sie dürfen nicht glauben, dass Genosse Mundt die ganze Zeit in Unkenntnis von Fiedlers fieberhafter Verschwörertätigkeit gewesen sei. Sollten Sie das wirklich glauben? Schon vor Monaten hat Genosse Mundt die Krankheit in Fiedlers Geist erkannt. Genosse Mundt selbst war es, der die Aufnahme einer Verbindung zu Leamas in England genehmigte. Glauben Sie, er hätte dieses Risiko auf sich genommen, wenn er befürchten mußte, selbst in die Sache verwickelt zu werden? Und meinen Sie, Genosse Mundt habe die Berichte über Leamas' erstes Verhör in Den Haag ungelesen weggeworfen? Nachdem Leamas in unserem eigenen Land eingetroffen war und Fiedler das Verhör übernommen hatte, blieben plötzlich die Berichte aus: Glauben Sie, Genosse Mundt sei so beschränkt gewesen, nicht einmal jetzt zu erkennen, was Fiedler ausheckte? Als die ersten Berichte von Peters aus Den Haag eintrafen, erkannte Mundt doch schon an den Terminen, zu denen Leamas nach Kopenhagen und Helsinki gefahren war, dass das Ganze eine Falle war, um ihn selbst in Mißkredit zu bringen. Diese Daten stimmten in der Tat mit Mundts Besuchen in Dänemark und Finnland überein: Sie waren von London eben gerade aus diesem Grund ausgewählt worden. Mundt hatte von diesen sogenannten ›frühen Hinweisen‹ ebenso Kenntnis wie Fiedler selbst - behalten Sie das, bitte, im Auge. Auch Mundt war auf der Suche nach einem Spion in den Reihen der ›Abteilung‹ …

Aus diesen Gründen beobachtete Mundt fasziniert, wie Leamas nach seiner Ankunft in der DDR Fiedlers Verdacht mit Andeutungen und versteckten Hinweisen schürte. Nie zu sehr, verstehen Sie, nie überbetont, aber hie und da streute er es mit heimtückischer Sicherheit ein. Und dann war der Boden vorbereitet: der Mann im Libanon und die geheimnisvolle Geldgeschichte, auf die sich Fiedler bezieht, weil beides die Anwesenheit eines hochgestellten Spions innerhalb der ›Abteilung‹ zu bestätigen scheint.

Es war wundervoll inszeniert. Es hätte die Niederlage, die die Engländer durch den Verlust Karl Riemecks erlitten hatten, in einen bemerkenswerten Sieg umwandeln können - und kann es immer noch tun.

Genosse Mundt traf eine Vorsichtsmaßnahme, während die Engländer mit Fiedlers Hilfe seine Ermordung planten.

Er veranlaßte, dass gewissenhafte Nachforschungen in London angestellt wurden. Er untersuchte jede winzige Einzelheit jenes Doppellebens, das Leamas in Bayswater geführt hatte. Er hielt Ausschau, sehen Sie, nach einem menschlichen Fehler in einer Planung von fast übermenschlicher Hinterlist. Irgendwo, dachte er, mußte Leamas auf seiner langen Reise durch die Wildnis das Gelübde der Armut, der Trunksucht, des Verfalls und vor allem der Einsamkeit gebrochen haben. Er hatte vielleicht einen Gefährten gebraucht, vielleicht eine Geliebte. Er mußte sich nach der Wärme eines menschlichen Kontaktes gesehnt haben. Der andere Teil seiner Seele mußte ihn dazu gedrängt haben, sich irgend jemandem offenbaren zu können. Genosse Mundt hatte recht, sehen Sie, Leamas, dieser geschickte und erfahrene Agent, machte einen so elementaren Fehler, einen so menschlichen, dass …« Er lächelte. »Sie werden den Zeugen hören, aber noch nicht jetzt. Der Zeuge ist hier. Er wurde von dem Genossen Mundt herbeigeschafft. Es war eine bewundernswerte Vorsichtsmaßnahme. Ich werde später diesen Zeugen vernehmen.« Er sah ein wenig schelmisch aus, als wolle er sagen, man müsse ihm diesen kleinen Scherz schon erlauben. »Inzwischen möchte ich gern ein oder zwei Fragen an diesen Belastungszeugen wider Willen, Mr. Alec Leamas, richten.«

»Sagen Sie mir«, begann er, »ob Sie ein gutsituierter Mann sind.«

»Seien Sie nicht albern«, sagte Leamas kurz. »Sie wissen, wie man mich aufgelesen hat.«

»Ja«, erklärte Karden, »es war meisterhaft. Ich darf also annehmen, dass Sie überhaupt kein Geld haben?«

»Sie dürfen.«

»Haben Sie Freunde, die Ihnen Geld leihen würden, es Ihnen vielleicht schenken würden? Ihnen die Schulden zahlen würden?«

»Wenn ich die hätte, wäre ich nicht hier.«

»Sie haben keine? Sie können sich nicht vorstellen, dass ein freundlicher Gönner, vielleicht jemand, den Sie fast vergessen haben, sich je damit befassen würde, Sie auf die Beine zu stellen, mit Gläubigern verhandeln würde und so weiter?«

»Nein.«

»Danke. Eine andere Frage: Kennen Sie George Smiley?«

»Freilich kenne ich ihn. Er war bei uns im Rondell.«

»Er ist jetzt aus dem britischen Geheimdienst ausgeschieden?«

»Er ging nach dem Fall Fennan.«

»Ah, ja - der Fall, in den Mundt verwickelt war. Haben Sie ihn seitdem je wiedergesehen?«

»Ein- oder zweimal.«

»Haben Sie ihn gesehen, seitdem Sie das Rondell verließen?«

Leamas zögerte. »Nein«, sagte er.

»Er hat Sie nicht im Gefängnis besucht?«

»Nein, niemand hat mich besucht.«

»Und bevor Sie ins Gefängnis kamen?«

»Nein.«

»Nachdem Sie das Gefängnis verlassen hatten - genau gesagt, am Tag der Entlassung -, wurden Sie von einem Mann namens Ashe angesprochen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie aßen mit ihm in Soho. Wo gingen Sie hin, nachdem Sie sich getrennt hatten?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich in eine Wirtschaft. Keine Ahnung.«

»Lassen Sie mich nachhelfen. Sie gingen schließlich zur Fleet Street und nahmen einen Bus. Von da an scheinen Sie kreuz und quer mit Bus, Untergrundbahn und privatem Wagen, ziemlich ungeübt für einen Mann Ihrer Erfahrung, nach Chelsea gefahren zu sein. Erinnern Sie sich daran? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen den Bericht zeigen. Ich habe ihn hier.«

»Sie haben wahrscheinlich recht. Was wollen Sie also?«

»George Smiley wohnt in der Bywater Street, einer Nebenstraße der Kings Road, das ist der Angelpunkt. Ihr Wagen bog in die Bywater Street ein, und unser Agent berichtet, dass Sie vor Nummer neun abgesetzt wurden. Das ist zufällig Smileys Haus.«

»Unsinn«, erklärte Leamas. »Ich glaube, ich fuhr zu den ›Eight Bells‹; das ist eines meiner bevorzugten Lokale.«

»Mit einem Privatwagen?«

»Das ist wieder Unsinn. Ich fuhr per Taxi hin, meine ich. Wenn ich Geld habe, dann gebe ich's aus.«

»Aber warum dann die ganze Herumfahrerei vorher?«

»Das ist ein Märchen. Man folgte wahrscheinlich dem falschen Mann. Das wäre typisch.«

»Ich komme auf meine ursprüngliche Frage zurück: Sie können sich nicht denken, dass Smiley irgendein Interesse an Ihnen gehabt hätte, nachdem Sie das Rondell verlassen hatten?«

»Großer Gott, nein.«

»Weder an Ihrem Wohlergehen, nachdem Sie ins Gefängnis kamen, noch an Ihren Angehörigen, indem er Ihnen Geld gegeben hätte? Sie können sich nicht denken, dass er Interesse an einem Gespräch mit Ihnen gehabt haben könnte, nachdem Sie Ashe getroffen hatten?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen, Karden, aber die Antwort ist: nein. Wenn Sie je Smiley begegnen, dann würden Sie diese Fragen nicht stellen. Wir sind uns so unähnlich wie nur möglich.«

Karden schien damit sehr zufrieden zu sein. Er lächelte und nickte, als er seine Brille zurechtrückte und sich seinen Akten zuwandte.

»O ja«, sagte er, als habe er etwas vergessen. »Als Sie den Krämer um Kredit ersuchten, wieviel Geld hatten Sie da?«

»Keines«, sagte Leamas achtlos. »Ich war schon seit einer Woche pleite. Oder noch länger, glaube ich.«

»Wovon hatten Sie gelebt?«

»Von Kleinigkeiten, ich war krank gewesen, irgendein Fieber. Ich hatte eine Woche lang kaum etwas gegessen. Ich glaube, dass mich das auch nervös machte, das Faß zum Überlaufen brachte.«

»Man schuldete Ihnen natürlich noch Geld bei der Bibliothek, nicht wahr?«

»Woher wissen Sie das?« fragte Leamas scharf. »Sind Sie -«

»Warum sind Sie nicht hingegangen und haben es geholt? Sie hätten dann nicht um Kredit bitten müssen, Leamas, nicht wahr?«

Leamas zuckte die Achseln: »Ich habe es vergessen. Wahrscheinlich, weil die Bibliothek am Samstagmorgen geschlossen war.«

»Ich verstehe. Sind Sie sicher, dass die Bibliothek am Samstagmorgen immer geschlossen ist?«

»Nein. Das ist nur eine Vermutung.«

»Ganz recht. Danke, das war alles, was ich fragen wollte.«

Leamas war dabei, sich zu setzen, als die Tür aufging und eine Frau hereinkam. Sie war groß und häßlich und trug einen grauen Overall, auf dessen einem Ärmel ein Unteroffizierswinkel aufgenäht war.

Hinter ihr stand Liz.

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