19 BEZIRKSTREFFEN
Liz war gern in Leipzig. Das spartanische Leben gefiel ihr. Es gab ihr das beruhigende Gefühl, Opfer zu bringen. Das kleine Haus, in dem sie wohnte, war dunkel und ärmlich, das Essen war dürftig und das meiste davon mußte den Kindern gegeben werden. Sie sprachen bei jeder Mahlzeit über Politik, sie und Frau Ebert, die Parteisekretärin des Bezirkes Leipzig-Hohengrün. Sie war eine kleine, ergraute Frau, deren Mann eine Kiesgrube am Rand der Stadt leitete. Es war, als ob man in einer religiösen Gemeinschaft lebte, dachte Liz, in einem Kloster oder einem Kibbuz oder etwas Ähnlichem. Man hatte das Gefühl, der leere Magen verhelfe zu einer besseren Welt. Liz sprach etwas Deutsch. Sie hatte es von ihrer Tante gelernt. Und sie war überrascht, wie schnell sie imstande war, es zu gebrauchen. Sie versuchte es zuerst bei den Kindern, und sie lachten und halfen ihr. Die Kinder hatten sich ihr gegenüber anfänglich seltsam benommen, als sei sie eine berühmte Persönlichkeit oder von großem Seltenheitswert. Am dritten Tag faßte sich eines von ihnen ein Herz und fragte, ob sie Schokolade von »drüben« mitgebracht habe. Daran hatte sie noch überhaupt nicht gedacht, und sie schämte sich jetzt. Danach schienen die Kinder sie vergessen zu haben.
An den Abenden gab es Parteiarbeit. Sie verteilten Literatur, suchten Bezirksmitglieder auf, die im Betrieb ihr Soll nicht erfüllt oder in ihrem Eifer beim Besuch von Parteiversammlungen nachgelassen hatten, nahmen beim Distrikt an einer Diskussion über »Probleme der zentralen Verteilung von Landwirtschaftsprodukten« teil, bei der alle Sekretäre der Bezirksorganisation anwesend waren, und gingen zu einer Betriebsratssitzung einer Werkzeugmaschinenfabrik am Rande der Stadt.
Zuletzt, am vierten Tag, einem Donnerstag, kam ihre eigene Bezirksversammlung. Liz erhoffte sich davon die erfreulichste Erfahrung ihres Aufenthaltes, denn es würde ein Beispiel für all das sein, was aus ihrem eigenen Bezirk in Bayswater einmal werden könnte. Sie hatten für die Diskussion des Abends einen wundervollen Titel gefunden - »Koexistenz nach zwei Kriegen« -, und sie erwarteten einen Rekordbesuch. Im ganzen Stadtviertel waren Rundschreiben verteilt worden, und sie hatten darauf geachtet, dass zur gleichen Zeit nicht etwa eine ähnliche Veranstaltung in der Nachbarschaft stattfand. Es war auch kein Tag mit verlängerter Ladenschlußzeit.
Sieben Leute kamen.
Sieben Leute und Liz, die Sekretärin der Bezirksorganisation und der Mann vom Kreis. Liz trug ein tapferes Gesicht zur Schau, war aber schrecklich betroffen. Sie konnte sich kaum auf den Redner konzentrieren, und als sie es versuchen wollte, verwendete er so kompliziert zusammengesetzte deutsche Worte, dass sie ihn ohnehin nicht verstand. Es war wie bei den Treffen in Bayswater oder wie bei dem Gottesdienst am Mittwoch abend, als sie noch regelmäßig die Kirche besuchte: die gleiche pflichteifrige kleine Gruppe verlorener Gesichter, die gleiche aufgeregte Befangenheit, das gleiche Gefühl, hier ruhe eine große Idee in den Händen von kleinen Leuten. Sie hatte bei diesen Veranstaltungen immer den gleichen Gedanken, und so schrecklich das wirklich war, so wünschte sie sich doch insgeheim, es möge einmal überhaupt niemand mehr zu diesen Treffen kommen, denn das wäre eine harte Tatsache gewesen und hätte irgendwie an Glaubensverfolgung und Erniedrigung erinnert - es wäre etwas gewesen, worauf man reagieren konnte.
Aber sieben Leute waren nichts. Sie waren schlimmer als nichts, weil sie der Beweis für die Trägheit der nicht zu erobernden Masse waren. Sie brachen einem das Herz.
Der Raum war besser als das Schulzimmer in Bayswater, aber selbst das war kein Trost. In Bayswater hatte es schon Spaß gemacht, überhaupt erst einmal einen Versammlungsraum zu finden. Am Anfang hatten sie deshalb immer so getan, als seien sie etwas anderes und nicht die Partei. Sie hatten die Hinterzimmer in Wirtschaften gemietet, einen Konferenzraum im Ardena-Café, oder sie hatten sich abwechselnd in ihren Wohnungen zu heimlichen Zusammenkünften getroffen. Dann war Bill Hazel von der Mittelschule zu ihnen gestoßen, und sie konnten sein Klassenzimmer benutzen. Selbst das war ein Risiko, denn der Rektor war in dem Glauben, Bill leite einen Theaterklub, so dass sie - wenigstens theoretisch - immer noch in der Gefahr schwebten, einmal hinausgeworfen zu werden. Das paßte aber noch immer besser zur Parteiarbeit, als diese Friedenshalle aus vorgefertigtem Beton mit den Rissen in allen Ecken und dem Leninbild. Warum hatten sie diese alberne Umrahmung um das Bild drapiert? Bündel von Orgelpfeifen, die aus den Ecken hervorsprossen, und Fähnchen, die schon ganz staubig waren. Es sah aus wie der Schmutz bei einem Faschistenbegräbnis. Manchmal dachte sie, dass Alec recht gehabt habe: man glaubte an Dinge, weil es für einen nötig war. Das, woran man glaubte, hatte an sich gar keinen Wert, es erfüllte von sich aus keine Aufgabe. Wie sagte er: »Ein Hund kratzt, wo es juckt. Verschiedene Hunde juckt es an verschiedenen Stellen.« Nein, das war falsch, Alec hatte nicht recht. Es war boshaft, so etwas zu sagen. Frieden, Freiheit und Gleichheit, das waren doch Tatsachen, natürlich waren sie das. Und dann die historischen Gesetze, deren Gültigkeit von der Partei bewiesen worden waren. Nein, Alec hatte nicht recht: es gab eine Wahrheit, die außerhalb der Menschen existierte. Das wurde durch die Geschichte bewiesen, und das Einzelwesen mußte sich ihr beugen oder notfalls zermalmt werden. Die Partei war die Vorhut der Geschichte, die Lanze im Kampf um den Frieden … Liz betete die Liturgie etwas unsicher herunter. Sie wünschte, es wären mehr Menschen gekommen. Sieben waren zuwenig. Sie sahen so verdrossen aus. Verdrossen und hungrig.
Als das Treffen beendet war, wartete Liz auf Frau Ebert, die unverkaufte Literatur von dem schweren Tisch bei der Tür wieder einsammelte, ihr Anwesenheitsbuch ausfüllte und den Mantel anzog, denn es war kalt an diesem Abend. Der Redner war schon vor der allgemeinen Diskussion - ziemlich unhöflich, dachte Liz - gegangen. Frau Ebert stand an der Tür und hatte ihre Hand auf dem Lichtschalter, als ein Mann aus der Dunkelheit auftauchte und im Eingang erschien. Für einen Augenblick glaubte Liz, es sei Ashe. Er war groß und blond und trug einen dieser Regenmäntel mit Lederknöpfen.
»Genossin Ebert?« erkundigte er sich.
»Ja?«
»Ich suche eine englische Genossin, Elisabeth Gold. Sie wohnt bei Ihnen?«
»Ich bin Elisabeth Gold«, warf Liz ein, und der Mann kam in den Saal und schloß die Tür hinter sich, so dass ihm das Licht voll ins Gesicht schien.
»Mein Name ist Holten, ich komme vom Kreis.« Er zeigte Frau Ebert, die noch an der Tür stand, ein Papier, und sie nickte und blickte ein wenig ängstlich auf Liz.
»Ich bin vom Präsidium ersucht worden, der Genossin Gold eine Nachricht zu überbringen«, sagte er. »Es betrifft eine Abänderung Ihres Programmes. Sie werden eingeladen, an einer Sondersitzung teilzunehmen.«
»Oh«, sagte Liz etwas benommen. Es erschien ihr seltsam, dass das Präsidium von ihr auch nur gehört haben sollte.
»Es ist eine Geste«, sagte Holten. »Nur um den guten Willen zu zeigen.«
»Aber ich - aber Frau Ebert …«, begann Liz hilflos.
»Ich bin sicher, dass die Genossin Ebert Sie unter diesen Umständen entschuldigen wird.«
»Selbstverständlich«, sagte Frau Ebert schnell.
»Wo wird die Sitzung stattfinden?«
»Sie müssen noch diese Nacht reisen«, erwiderte Holten. »Wir haben einen langen Weg vor uns. Fast bis nach Görlitz.«
»Görlitz … Wo ist das?«
»Im Osten«, sagte Frau Ebert schnell. »An der polnischen Grenze.«
»Wir werden Sie jetzt nach Hause bringen. Sie können Ihre Sachen holen, und wir fahren dann sofort weiter.«
»Heute nacht? Jetzt?«
»Ja.«
Holten schien nicht der Meinung zu sein, dass Liz viele Möglichkeiten zu einer Entscheidung hatte.
Ein großer schwarzer Wagen wartete auf sie. Hinter dem Steuer saß ein Fahrer, und auf dem Kühler war ein Standartenhalter montiert. Es sah wie ein Militärfahrzeug aus.