Elizabeth Barnards Eltern wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus, einem von fünfzig, die ein geschäftstüchtiger Bauunternehmer an der Stadtgrenze erbaut hatte. Das Haus hieß Llandudno.
Mr. Barnard, ein stämmiger Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren, der völlig verstört aussah, hatte uns schon von weitem bemerkt und erwartete uns an der Haustür.
«Kommen Sie herein, meine Herren», sagte er.
Kelsey übernahm die Vorstellung.
«Das ist Inspektor Crome von Scotland Yard, Mr. Barnard. Er ist hergekommen, um uns bei der Aufklärung dieses Falles zu helfen.»
«Scotland Yard?», wiederholte Mr. Barnard hoffnungsvoll. «Das ist gut. Dieser Teufel muss geschnappt werden. Mein armes kleines Mädchen…» Sein Gesicht verkrampfte sich.
«Und das hier ist Mr. Hercule Poirot, auch aus London, und das ist – hm –»
«Captain Hastings», fiel Poirot ein.
«Ich freue mich, Sie kennen zu lernen», sagte Mr. Barnard mechanisch. «Kommen Sie bitte ins Wohnzimmer. Ich weiß nicht, ob meine arme Frau sich zeigen wird. Sie ist vollkommen gebrochen.»
Als wir jedoch alle im Wohnzimmer Platz genommen hatten, erschien auch Mrs. Barnard. Sie hatte verweinte Augen und bewegte sich unsicher, wie halb ohnmächtig von dem Schlag, der sie getroffen hatte.
«Na, Mutter, fein, dass du gekommen bist», sagte Mr. Barnard. «Geht es dir doch einigermaßen?»
Er klopfte ihr liebevoll auf die Schulter und führte sie zu einem Stuhl.
«Der Superintendent war sehr nett zu uns», berichtete Mr. Barnard. «Nachdem er uns die Nachricht übermittelt hatte, ließ er uns allein, stellte keine Fragen und sagte, wir sollten uns erst einmal ein wenig erholen.»
«Es ist zu grausam», schrie Mrs. Barnard tränenerstickt auf. «Es ist zu grausam – es ist das Grausamste, was ich je erlebt habe.»
Ihre Stimme hatte einen leicht singenden Tonfall, und im ersten Moment hielt ich den Anklang für einen fremdländischen; aber dann fiel mir der Name des Hauses wieder ein, und ich erkannte den walisischen Akzent ihrer Aussprache.
«Gewiss, es ist entsetzlich, Madam, und wir können Ihnen Ihren Schmerz nachfühlen», sagte Inspektor Crome behutsam. «Aber wir möchten alle irgendmöglichen Auskünfte von Ihnen und Ihrem Mann, damit wir uns so rasch, wie es geht, an die Arbeit machen können.»
«Das sehe ich ein», nickte Mr. Barnard.
«Ihre Tochter war dreiundzwanzig Jahre alt. Sie wohnte hier bei Ihnen und war im ‹Ginger Cat Café› in Stellung, nicht wahr?»
«Jawohl.»
«Dieses Haus ist ganz neu. Wo haben sie früher gewohnt?»
«Ich hatte eine Eisenwarenhandlung in Kennington. Habe mich vor zwei Jahren zurückgezogen. Wollte schon immer irgendwo am Meer leben.»
«Sie haben zwei Töchter?»
«Ja. Meine ältere Tochter arbeitet in London in einem Büro.»
«Waren Sie sehr besorgt, als Ihre Tochter gestern Abend nicht nach Hause kam?»
«Wir wussten gar nicht, dass sie nicht heimgekommen war», sagte Mrs. Barnard schluchzend. «Wir gehen immer früh zu Bett. Neun Uhr meistens. Wir hatten nicht bemerkt, dass Betty noch nicht da war, bis der Inspektor kam und uns sagte… uns sagte…» Sie konnte nicht weitersprechen.
«Ist Ihre Tochter oft spät nach Hause gekommen?»
«Sie wissen doch, wie die Mädchen heutzutage sind, Inspektor», antwortete Barnard. «Unabhängig, das wollen sie sein. An schönen Sommerabenden kommt keine sofort heim. Doch Betty war fast immer spätestens um elf Uhr da.»
«Und wie kam sie ins Haus? Ließen Sie die Tür offen?»
«Wir legten ihr den Schlüssel unter die Fußmatte, so haben wir das immer gemacht.»
«Man hat mir gesagt, dass Ihre Tochter verlobt war.»
«Ja, nun… Nicht offiziell, aber heutigentags sind die jungen Leute nicht mehr so förmlich», sagte Mr. Barnard.
«Donald Fraser heißt er, und ich habe ihn sehr gern gemocht. Sehr gern!», stellte Mrs. Barnard fest. «Armer Junge, es muss schrecklich sein für ihn – dieses Unglück. Ob er es wohl schon erfahren hat?»
«Er arbeitet bei Court & Brunskill, wenn ich recht unterrichtet bin?»
«Jawohl, Grundstücksmakler.»
«Hat er Ihre Tochter fast jeden Abend getroffen?»
«Nicht so oft – ein oder zweimal in der Woche.»
«Wissen Sie, ob die beiden gestern Abend auch verabredet waren?»
«Sie – Betty – sagte nichts davon, sie hat uns nie viel gesagt von dem, was sie tat oder wohin sie ging. Aber sie war ein braves Mädchen, Betty, das war sie. Ich kann einfach nicht fassen…»
Mrs. Barnard begann wieder zu schluchzen.
«Nun, nun, komm, nimm dich zusammen. Wir müssen das durchstehen, Mutter», redete Barnard seiner Frau gut zu. «Wir müssen den Herren alle Auskünfte geben…»
«Donald hätte nie, niemals hätte Donald…», stammelte Mrs. Barnard.
«Ruhig, Mutter, ruhig», wiederholte Barnard. Er wandte sich wieder den beiden Polizeibeamten zu. «Ich wünsche bei Gott, dass ich Ihnen helfen könnte – aber tatsächlich weiß ich nichts, gar nichts, was auf den Schuft hinweisen könnte, der das getan hat. Betty war ein junges, fröhliches Mädchen, hatte einen netten, anständigen jungen Mann, mit dem sie – was wir in unserer Jugend ‹gehen› nannten –, ja, mit dem sie ging. Warum irgendjemand sie hätte umbringen sollen, ist mir einfach unbegreiflich, und ich kann es nicht verstehen, wirklich nicht.»
«Auch uns ist die Sache leider noch gänzlich unbegreiflich – leider», sagte Inspektor Crome. «Mr. Barnard, darf ich Sie bitten, uns das Zimmer Ihrer Tochter zu zeigen? Vielleicht finden wir dort irgendetwas Aufschlussreiches… Briefe, ein Tagebuch…»
«Bitte sehr, sehen Sie sich nur um», willigte Barnard sofort ein. Er ging voran, Crome, Poirot und Kelsey folgten ihm. Ich blieb etwas zurück, weil ich mir die Schnürsenkel binden musste. Während ich das tat, hielt ein Taxi vor dem Haus, und eine junge Frau sprang heraus. Sie bezahlte und lief den Gartenweg zur Haustür entlang. Als sie eintrat und mich erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie war so offensichtlich erschrocken, dass ich aufmerksam wurde.
«Wer sind Sie?», fragte sie kurz.
Ich ging einige Schritte auf sie zu. Eine kurze und präzise Antwort auf diese Frage war gar nicht so einfach. Sollte ich ihr meinen Namen sagen? Oder erklären, dass ich hierher gekommen sei, um der Polizei zu helfen? Aber die junge Frau ließ mir gar keine Zeit zum Überlegen.
«Ach so», murmelte sie. «Ach, ich verstehe…»
Sie nahm das kleine weiße Mützchen ab, das sie getragen hatte, und ließ es achtlos zu Boden fallen. Dabei wandte sie sich mir zu, so dass ich ihr Gesicht nun deutlicher sehen konnte. Mein erster Eindruck von ihr war so, dass sie mich an die Holländerpuppe erinnerte, mit der meine Schwester als Kind gespielt hatte. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten und hing in Fransen in eine klare Stirn. Sie hatte sehr ausgeprägte Backenknochen, und ihre ganze Figur war von einer modernen Eckigkeit, die aber keineswegs unschön wirkte. Sie war nicht hübsch – eher unauffällig –, strahlte aber so viel Kraft, so viel wache Intensität aus, dass es unmöglich war, sie zu übersehen.
«Sind Sie Miss Barnard?», fragte ich.
«Megan Barnard, ja. Sie sind im Auftrag der Polizei hier, nehme ich an.»
«Eigentlich nicht. Ich bin…» Sie fiel mir ins Wort.
«Ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas sagen kann. Meine Schwester war ein nettes, liebes Mädchen und pflegte keine Männerbekanntschaften. Auf Wiedersehen.» Sie lachte kurz auf und sah mich herausfordernd an. «Ist das nicht ein durchaus überzeugender Satz?»
«Ich bin kein Reporter, wenn Sie das vielleicht meinen sollten.»
«Nein? Was sind Sie denn?» Sie blickte sich um. «Und wo sind Mum und Dad?»
«Ihr Vater zeigt der Polizei das Zimmer Ihrer Schwester. Ihre Mutter ist dort drinnen. Sie ist sehr mitgenommen.»
Das Mädchen schien einen Entschluss gefasst zu haben.
«Kommen Sie», forderte sie mich auf.
Sie ging mir voran und führte mich in eine kleine, helle Küche. Ich wollte die Tür hinter mir ins Schloss ziehen, stieß aber dabei auf unerwarteten Widerstand. Poirot schlüpfte durch die Türöffnung und stand ebenfalls in der Küche.
«Mademoiselle Barnard?», fragte er mit einer Verbeugung.
«Monsieur Hercule Poirot», stellte ich vor.
Megan Barnard warf ihm einen raschen, bewundernden Blick zu. «Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind doch dieser Privatdetektiv der feinen Gesellschaft, nicht wahr?»
«Keine sehr schmeichelhafte Bezeichnung, aber sie entspricht den Tatsachen weitgehend», sagte Poirot.
Das Mädchen setzte sich auf eine Ecke des Küchentischs und suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Sie zündete sich eine an und sagte dann zwischen zwei langen Zügen: «Eigentlich verstehe ich nicht recht, was ein Monsieur Hercule Poirot bei unserem bescheidenen kleinen Mordfall zu suchen hat.»
«Mademoiselle, was Sie nicht verstehen und was ich nicht verstehe, würde zusammengenommen vermutlich ein dickes Buch füllen. Aber das ist momentan auch gar nicht so wichtig. Wichtig ist jetzt nur eines, und das wird nicht leicht herauszufinden sein.»
«Und das wäre?»
«Der Tod, Mademoiselle, schafft unseligerweise Vorurteile. Und zwar Vorurteile zu Gunsten des Verstorbenen. Ich hörte vorhin, was Sie zu meinem Freund Hastings sagten: ‹Ein nettes, liebes Mädchen, das keine Männerbekanntschaften pflegte.› Das sagten Sie mit einer höhnischen Spitze gegen die Journalisten. Und dabei ist es durchaus richtig, dass man sich genauso über ein totes junges Mädchen äußert. ‹Sie war glücklich. Sie war heiter. Sie war sanften Gemüts. Sie hatte keine Sorgen. Sie pflegte keinerlei unerwünschten Umgang.› – Man fühlt mit Toten immer ein großes Mitleid. Wissen Sie, was ich mir in dieser Minute wünsche? Ich möchte jemanden finden, der Elizabeth Barnard kannte und nicht weiß, dass sie tot ist! Dann würde ich vielleicht erfahren, was allein mir weiterhelfen könnte: die Wahrheit.»
Megan Barnard betrachtete meinen Freund lange und nachdenklich, während sie schweigsam Rauchwolken in die Luft blies. Dann endlich sprach sie. Und was sie sagte, ließ mich zusammenfahren.
«Betty war eine dumme kleine Gans!»