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Wir befanden uns alle in einem Zustand höchster Spannung, als Poirot seinen Schlussbericht über den Fall ABC begann.

«Von allem Anfang an hatte mir das Warum Kopfzerbrechen verursacht», führte er aus. «Hastings hat mir neulich verkündet, der Fall sei nun abgeschlossen. Ich habe ihm erwidert, der Fall sei der Mann. Geheimnisvoll seien nicht die Morde an sich, sondern das Individuum ABC. Warum sah er sich zu diesen Morden gezwungen? Warum wählte er mich als seinen Gegner aus?

Diese Fragen damit zu beantworten, dass man feststellt, ABC sei geistig nicht normal, ist billig. Zu sagen, ein Mensch begehe wahnsinnige Taten, weil er eben wahnsinnig sei, scheint mir geistlos und dumm. Ein Verrückter handelt mit der gleichen Logik und Überlegung wie ein gesunder Mensch – selbstverständlich von seinem verworrenen und besonderen Standpunkt aus betrachtet. Wenn zum Beispiel ein Mann darauf besteht, nur mit einem Leintuch bekleidet durch die Straßen zu gehen, dann berührt uns das denkbar komisch. Sobald wir aber erfahren, dass dieser Mann sich einbildet, Mahatma Gandhi zu sein, müssen wir seinem Benehmen Logik und Vernunft zugestehen.

In unserem Fall war also vor allem eines wichtig: nämlich herauszubekommen, wer vier oder mehr Mordtaten durchaus richtig und notwendig finden konnte und wer diese seine Pläne Hercule Poirot mit einem gewissen Hohn vorher ankündigen zu müssen glaubte.

Mein Freund Hastings kann Ihnen bestätigen, dass ich vom ersten Augenblick an, da ich einen Brief von ABC erhielt, sehr unruhig und bedrückt war. Irgendetwas an diesem ersten Brief schien mir nicht zu stimmen.»

«Womit Sie ja ganz Recht hatten», bemerkte Clarke trocken.

«Ja. Aber damals, zu Beginn, machte ich einen schweren Fehler. Ich erlaubte meinem Gefühl – meinem sehr intensiven Gefühl bezüglich dieses Briefes – Gefühl zu bleiben. Ich behandelte es als unklare, ungerechtfertigte Ahnung. In einem ausgeglichenen und vernünftigen Geist haben Ahnungen keinen Platz. Vermuten kann man, gewiss, und eine Vermutung erweist sich früher oder später als richtig oder falsch. Bewahrheitet sie sich, dann spricht man gern von Eingebung – hat man sich geirrt, dann spricht man am liebsten gar nicht mehr davon. Sehr oft jedoch ist eine solche Eingebung in Wirklichkeit das Produkt logischer Überlegung oder großer Erfahrung. Wenn ein Sachverständiger spürt, dass mit einem Bild oder einem antiken Möbelstück oder einer Unterschrift auf einem Scheck etwas nicht stimmt, dann basiert dieses Gefühl auf einer Menge kleiner Anzeichen. Er braucht diesen gar nicht bis ins Detail nachzugehen. Seine Erfahrung erhärtet sein Gefühl, und das Ergebnis davon ist eben die Feststellung, dass etwas nicht stimmen könne. Aber das ist keine Vermutung, sondern ein auf Erfahrung gestütztes Wissen.

Eh bien, ich gestehe ein, dass ich den ersten Brief nicht so untersuchte, wie ich gesollt hätte. Er berührte mich sehr unangenehm – das ist aber auch alles. Die Polizei erblickte in jenem Schreiben lediglich einen dummen Scherz, wogegen es mich beunruhigte. Ich wusste, dass in Andover ein Mord passieren würde, wie es dann ja auch tatsächlich der Fall war.

Zum damaligen Zeitpunkt war keinerlei Aussicht vorhanden zu erfahren, wer der Täter war. Mir stand nur die Möglichkeit offen, herauszufinden, welche Art Mensch er war. Dazu standen mir einige Hinweise zur Verfügung. Der Brief, die Art des Mordes, die Ermordete. Was ich zu ergründen versuchte, war: das Motiv für diesen Mord – das Motiv für den Brief an mich.»

«Drang, aufzufallen», warf Clarke ein.

«Ausgehend von einem Minderwertigkeitskomplex», fügte Thora Grey bei.

«Gewiss, das waren zwei wesentliche Punkte, denen ich nachzugehen hatte. Aber warum mich einbeziehen, mich, Hercule Poirot? Wenn diese Briefe direkt an Scotland Yard geschickt worden wären, hätten sie doch weit mehr Aufsehen erregt. Noch besser: Sie an eine Zeitung schicken! Eine Zeitung hätte vielleicht den ersten Brief unbeachtet gelassen; aber sobald einmal der zweite Mord, wie angekündigt, stattgefunden hätte, wäre eine Pressekampagne sondergleichen aufgezogen worden. Warum also Hercule Poirot? Aus persönlichen Gründen? Aus dem Brief ging, wenn auch sehr verschleiert, eine gewisse Abneigung gegen Ausländer hervor, aber das vermochte mich nicht hinreichend zu überzeugen.

Dann traf der zweite Brief ein, gefolgt vom Mord an Betty Barnard in Bexhill. Damals wurde klar, was ich längst vermutet hatte, dass die Mordtaten in alphabetischer Reihenfolge verübt wurden; aber auch das war für mich noch keine Antwort auf die wesentlichste Frage: Warum musste ABC diese Morde begehen?»

Megan Barnard setzte sich gerade auf.

«Gibt es nicht so etwas wie… wie Blutdurst?», fragte sie.

«Richtig, Mademoiselle, sehr richtig. Das gibt es. Mordgier, die Freude am Töten. Aber diese Erklärung passte wieder nicht zu den übrigen Gegebenheiten des Falles. Ein Wahnsinniger, der Freude am Morden hat, geht im Allgemeinen darauf aus, möglichst viele Opfer umzubringen. Darin liegt seine Besessenheit. Und zu diesem Zweck versucht er, seine Taten tunlichst zu verbergen, nicht, sie in großem Stil publik zu machen. Wenn wir die vier Toten näher betrachten – oder sagen wir drei von ihnen, denn ich weiß eigentlich nicht viel über Mr. Downes oder Mr. Earlsfield –, dann fällt uns auf, dass der Mörder, wenn er es gewollt hätte, sie hätte umbringen können, ohne dass der geringste Verdacht auf ihn gefallen wäre. Franz Ascher, Donald Fraser oder Megan Barnard, möglicherweise auch Mr. Clarke – das wären die Hauptverdächtigen gewesen, sofern sie nicht ihre Unschuld hätten beweisen können. Niemand hätte an einen unbekannten blutrünstigen Mörder gedacht! Warum also hielt es der Mann für nötig, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Warum fühlte er sich bemüßigt, bei jedem Leichnam einen ABC-Fahrplan zurückzulassen? Liegt vielleicht darin die Erklärung für seine Taten? Irgendein Komplex, der mit diesem Fahrplan in Verbindung steht?

Dieser Punkt schien mir lange Zeit vollkommen undurchsichtig. Es konnte doch ganz gewiss nicht Großmut sein, und ebenso wenig ein Zurückschrecken davor, dass ein Unschuldiger für die Untaten zur Rechenschaft gezogen werden könnte!

Und obwohl ich diese wichtigen Fragen nicht beantworten konnte, spürte ich, dass ich Schritt für Schritt den Mörder besser kennen lernte.»

«Inwiefern?», fragte Donald Fraser.

«Nun, erstens erkannte ich, dass sein Verstand ausgesprochen systematisch funktionierte. Seine Verbrechen genau nach Alphabet zu ordnen, schien ihm ungemein wichtig zu sein. Andererseits schien er in der Auswahl seiner Opfer keinerlei Gesetzen zu folgen. Mrs. Ascher, Betty Barnard, Sir Carmichael Clarke – drei Menschen aus völlig verschiedenen Lebenskreisen. Auch bezüglich Geschlecht und Alter war nirgends ein Zusammenhang zu entdecken, und gerade das berührte mich merkwürdig. Wenn ein Mensch so skrupellos mordet, dann schafft er meistens jemanden beiseite, der ihm in irgendeiner Weise im Wege steht. Aber das alphabetische Vorgehen bewies, dass diese Folgerung auf unseren Fall ebenfalls nicht zutraf. Dann gibt es eine andere Art von Mördern, die sich auf Typisierung ihrer Opfer festlegen – und zwar meistens Vertreter des anderen Geschlechts töten.

Im Vorgehen ABCs fiel mir also vor allem eine gewisse Zufälligkeit auf, die mit seinem sonst so schematischen Planen in Widerspruch zu stehen schien. Ich verlegte mich darauf, rein gefühlsmäßig dem Wesen dieses ABC näher zu kommen. Er ist ganz bestimmt ein – wenn ich mich so ausdrücken darf! – Mensch mit einem Fahrplanhirn. Das sind Männer viel häufiger als Frauen. Kleine Buben haben an Eisenbahnen mehr Freude als kleine Mädchen. Also konnte diese Vermutung auch darauf hinweisen, dass ABC in seiner geistigen Entwicklung irgendwie stehen geblieben war, dass er in mancher Hinsicht noch sehr jungenhaft reagierte.

Der Tod von Betty Barnard brachte mir weitere Erkenntnisse. Die Art ihres Sterbens war besonders aufschlussreich für mich. (Verzeihen Sie mir, Mr. Fraser!) Erstens war sie mit ihrem eigenen Gürtel erwürgt worden – ergo muss diese Tat jemand begangen haben, mit dem sie auf freundschaftlichem Fuße stand. Sobald ich ihren Charakter etwas näher kennen gelernt hatte, konnte ich mir ein recht deutliches Bild von diesem Vorgang machen.

Betty Barnard flirtete gern. Die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden Mannes schmeichelte ihr. Also muss ABC – der sie zu diesem Spaziergang überreden konnte – von angenehmem Äußeren und gewandt im Umgang sein. Er hat mit einem Wort Sex-Appeal! Ich stellte mir die Szene am Strand so vor: Der Mann bewundert Bettys Gürtel. Sie löst diesen und legt ihn sich spielerisch um den Hals – er lacht und sagt: ‹Jetzt könnte ich dich erwürgen!› – Ein lustiges Geplänkel – er zieht…»

Donald Fraser sprang auf. Er war totenblass.

«Monsieur Poirot! Um Gottes willen…»

Poirot machte eine besänftigende Handbewegung.

«Ruhig, es ist vorbei. Ich werde nichts mehr davon sagen. Wir kommen nun zum nächsten Mord, dem an Sir Carmichael Clarke. Hier kommt der Mörder auf sein erstes Vorgehen zurück, auf den Schlag von hinten. Wieder der alphabetische Komplex, aber etwas daran stört mich. Um ganz systematisch vorzugehen, hätte der Täter seine Ortschaften etwas folgerichtiger aussuchen müssen.

Wenn Andover der hundertfünfundfünfzigste Name unter Buchstabe A ist, dann hätte auch das B-Verbrechen im hundertfünfundfünfzigsten Ort stattfinden sollen – oder aber im hundertsechsundfünfzigsten und C im hundertsiebenundfünfzigsten und so weiter. Also schien auch die Stadt völlig zufällig ausgesucht worden zu sein.

Der Mord in Churston brachte mich in meinen Überlegungen kaum weiter. Es begann ja bereits damit, dass der Brief, der ihn mir ankündigen sollte, auf Umwegen und verspätet in meinen Besitz gelangte, so dass keine Zeit mehr blieb, irgendwelche Vorkehrungen zu treffen.

Dafür war ein um so umfassenderer Schlachtplan ausgearbeitet, als Mord D stattfand. ABC konnte nicht mehr hoffen, ungestraft weiter zu morden.

Außerdem fiel mir gerade in diesem Augenblick die Sache mit den Strümpfen auf. Es war ganz klar, dass die Anwesenheit eines Mannes, der an sämtlichen Tatorten Strümpfe verkauft hatte, kein Zufall sein konnte. Folglich musste der Strumpfverkäufer der Täter sein. Ich muss gestehen, dass die Beschreibung, die Miss Grey uns von diesem Verkäufer gab, mich nicht befriedigte und nicht mit meiner Vorstellung von diesem Menschen übereinstimmte.

Was dann folgte, ist bald geschildert. Ein vierter Mord wurde begangen – dass er Mr. Earlsfield traf, wurde sofort als möglicher Irrtum des Mörders betrachtet, weil ein Mann namens Downes im Kino dicht neben Mr. Earlsfield saß und ihm in Größe und Kleidung sehr ähnlich sah – und damit begann der Szenenwechsel! Die Ereignisse richteten sich gegen ABC! Er wurde erkannt, gejagt – und schließlich verhaftet! Der Fall ist, wie Hastings behauptet, also abgeschlossen!

Das mag stimmen, sofern man die öffentliche Meinung in Betracht zieht. Der Mann sitzt im Gefängnis und wird ganz zweifellos nach Broadmoor geschickt werden. Es wird keine neuen Morde mehr geben. Abgang! Finis! R.I.P.!

Aber ich bin nicht befriedigt! Ich weiß nichts! Gar nichts! Nichts über das Warum, Wozu und Weshalb!

Und etwas beschäftigt mich ganz besonders: dass der Mann Cust für die Nacht des Bexhill-Mordes ein Alibi hat!»

«Das hat auch mir viel zu denken gegeben», sagte Clarke.

«Ja, das beunruhigt mich. Denn dieses Alibi scheint wirklich echt und unangreifbar zu sein. Aber es kann gar nicht echt sein, wenn nicht… und das führt uns zu interessanten Spekulationen! Nehmen wir einmal an, meine Freunde, dass Cust zwar drei der Morde verübte – A, C und D –, dass aber Mord B nicht auf sein Konto geht!»

«Aber Monsieur Poirot, das wäre doch…»

Poirot schnitt Megan mit einem scharfen Blick das Wort ab.

«Schweigen Sie, Mademoiselle! Ich suche die Wahrheit! Lügen widern mich an! Setzen wir also voraus, dass ABC den zweiten Mord nicht beging, der, wie wir alle wissen, in den ersten Morgenstunden des Fünfundzwanzigsten geschah – dem Tag, an dem er für dieses Verbrechen hingereist war. Ist ihm jemand zuvorgekommen? Was sollte er in diesem Fall tun? Einen zweiten Mord begehen? Oder einfach die Hände in den Schoß legen und das Geschehene wie ein Geschenk betrachten?»

«Monsieur Poirot, das sind irrsinnige Gedankengänge!», rief Megan. «Diese vier Verbrechen müssen von ein und demselben Menschen begangen worden sein!»

Er überging ihren Einwurf und fuhr unbeirrt fort:

«Diese Voraussetzung hat den einen Vorteil, dass sie die Diskrepanz zwischen der Person des Alexander Bonaparte Cust (der ganz bestimmt niemals Mädchenherzen zu betören vermochte!) und der Person des Mörders von Betty Barnard deutlich macht. Und es ist ja eine bekannte Tatsache, dass Menschen, die sich als Mörder versuchen wollen, sehr oft Vorteil aus Verbrechen ziehen, die andere begangen haben. Längst nicht alle Untaten von Jack the Ripper sind tatsächlich von ihm begangen worden! Dies nur als Beispiel!

Aber schon tauchte eine neue Schwierigkeit auf.

Zum Zeitpunkt des Mordes an Betty Barnard war noch nichts über die ABC-Morde veröffentlicht gewesen. Die Tragödie von Andover war sozusagen unbemerkt geblieben. Der aufgeschlagene Fahrplan war in den Zeitungen überhaupt nicht erwähnt worden. Daraus schloss ich, dass, wer immer Betty Barnard ermordet hatte, Tatsachen gewusst haben muss, die damals nur wenigen Menschen – der Polizei, einigen Verwandten und Nachbarn von Mrs. Ascher und mir – bekannt gewesen sind. Und mit dieser Feststellung schien ich wirklich vor einer blanken, weißen Mauer zu stehen.»

Die Gesichter, die Poirot zugewandt waren, glichen dieser Beschreibung: auch sie waren undurchdringlich – und erstaunt.

Donald Fraser sagte nachdenklich: «Schließlich sind auch Polizisten nur Menschen. Und sie sehen gut aus…» Er brach ab und sah Poirot fragend an.

Mein Freund schüttelte den Kopf.

«Nein, es ist weit einfacher als das. Ich ging einer anderen Möglichkeit nach.

Wenn Cust nicht für den zweiten Mord verantwortlich war, wenn Betty Barnard von jemand anders umgebracht worden war, konnte dann dieser Jemand auch die beiden anderen Morde begangen haben?»

«Aber das klingt doch vollkommen unsinnig!», rief Clarke.

«Finden Sie? Da erst tat ich, was ich von allem Anfang an hätte tun sollen: Ich las die Briefe, die man mir geschrieben hatte, von einer ganz anderen Warte aus noch einmal durch. Ohne mir das lange zu überlegen, hatte ich von Anfang an angenommen, dass diese Briefe von einem Verrückten geschrieben worden seien. Jetzt prüfte ich sie wieder und wieder – und diesmal gelangte ich zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Mich hatte schon zu Beginn etwas an diesen Briefen gestört – nun erkannte ich, dass dieses unbehagliche Gefühl daher rührte, dass diese Briefe von einem durchaus normalen Menschen verfasst worden waren!»

«Was?», schrie ich auf.

«Ja, mein Guter! Diese Briefe waren Fälschungen! Man sollte glauben, dass sie von einem Geistesgestörten stammten, von einem mordbesessenen Wahnsinnigen, aber in Wirklichkeit sind sie ganz anderer Herkunft.»

«Das klingt doch unsinnig!», wiederholte Franklin Clarke.

«Ganz und gar nicht! Man muss nur nachdenken. Wozu sind diese Briefe geschrieben worden? Um die Aufmerksamkeit auf den Schreiber zu lenken und um die Morde anzukündigen. Das schien mir anfänglich ziemlich unklar. Aber plötzlich sah ich die Zusammenhänge. Diese Briefe sollten verschiedene Morde, eine Reihe von Morden publik machen… Hat nicht Ihr großer Shakespeare gesagt, man könne den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen?»

Ich unterließ es, Poirots literarische Kenntnisse zu korrigieren. Seine Ausführungen nahmen mich gefangen. Langsam dämmerte mir etwas.

«Wann bemerkt man eine Stecknadel am wenigsten?», fuhr er fort. «Wenn sie im Nadelkissen steckt. Wann fällt einem ein ganz individueller Mord am wenigsten auf? Wenn er Teil einer ganzen Serie ähnlicher Morde ist.

Ich hatte mich also mit einem ungewöhnlich klugen, bedachten Mörder auseinanderzusetzen – mit einem gewissenlosen, tollkühnen Menschen, der zugleich ein Spieler war. Nicht mit diesem Mr. Cust! Er hätte diese Morde niemals begehen können! Nein, ich musste mit einem Menschen von gänzlich anderem Kaliber rechnen, mit einem Mann, der irgendwo ein großes Kind geblieben war (Beweis: die schulbubenhaften Briefe und die Fahrpläne) – mit einem gut aussehenden Mann, der auf Frauen wirkte, und mit einem Mann, der keinerlei Respekt vor einem Menschenleben hatte und der in einem der Verbrechen eine wesentliche Rolle spielte!

Überlegen Sie, welchen Fragen die Polizei zuerst nachgeht, sobald ein Mord geschehen ist. Gelegenheit: Wo hielten sich die Menschen aus der Umgebung des Opfers zur fraglichen Zeit auf? Motiv: Wer durch diesen Tod profitiert? Wenn nun Gelegenheit und Motiv so ziemlich klar sind, was wird der Mörder tun? Er wird ein Alibi türken – das heißt, er wird die Zeitangaben irgendwie manipulieren. Aber das ist immer ein sehr schwieriges Unterfangen. Unser Mörder dachte sich eine viel fantastischere Verteidigung aus! Er schuf den mordbesessenen Wahnsinnigen! Nun musste ich bloß noch die verschiedenen Mordtaten im Geiste durchgehen, um die schuldige Person ausfindig zu machen. Der Mord in Andover? Der Hauptverdächtige war Franz Ascher. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er diese raffinierten Pläne ausgedacht und derart wohl überlegte Morde ausgeführt haben sollte. Der Mord in Bexhill? Donald Fraser war eine Möglichkeit. Er ist gescheit und geschickt, hat die Fähigkeit, logisch und kühl zu denken – aber sein Motiv für den Mord an seiner Freundin hätte nur Eifersucht sein können, und Eifersucht lässt keinen kalten Vorbedacht zu. Auch erfuhr ich, dass er seinen Urlaub Anfang August hatte, was praktisch ausschloss, dass er mit dem Mord in Churston irgendetwas zu tun hatte. Damit kommen wir zu diesem Mord in Churston, und sofort stehen wir auf ziemlich sicherem Grund.

Sir Carmichael Clarke war ein sehr reicher Mann. Wer erbt sein Geld? Seine Frau, die todkrank ist, und danach geht das ganze Vermögen an seinen Bruder – Franklin Clarke.»

Poirot drehte sich langsam um, bis er Franklin Clarke in die Augen sehen konnte.

«Und da war ich meiner Sache ganz sicher. Der Mensch, den ich nur aus meinen Vorstellungen kannte, und der Mann, der mir im Leben gegenübertrat, wurden eins. ABC und Franklin Clarke waren ein und dieselbe Person! Der kühne, abenteuerliche Charakter, die Reiselust, die Voreingenommenheit für England – all das hatte sich, wenn auch sehr undeutlich, bereits in den Briefen ausgedrückt, in seinem Hohn auf mich als Ausländer. Ein sicheres, elegantes Benehmen – nichts leichter für ihn, als einer kleinen Kellnerin den Kopf zu verdrehen. Methodischer, tabellarischer Verstand – dafür sprach die ordentliche Liste, die er kürzlich hier erstellte, als wir unsere Rollen für die Jagd nach ABC verteilten. Und schließlich: der knabenhafte Zug – den Lady Clarke mir gegenüber erwähnte und der auch durch seinen Geschmack in Bezug auf seine Lektüre belegt wird: Ich habe mich davon überzeugt, dass in seiner Bibliothek das Buch ‹The Railway Children› von E. Nesbit steht. Nun zweifelte ich nicht mehr daran, dass ABC, der Mann, der Briefe schrieb und Morde beging – Franklin Clarke war.»

Clarke begann plötzlich schallend zu lachen.

«Ausgezeichnet! Und was ist mit unserem Freund Cust, den man auf frischer Tat ertappt hat? Wie erklären Sie das Blut auf seinem Mantel? Und das Messer, das in seiner Wohnung gefunden wurde? Er mag freilich leugnen, diese Morde begangen zu haben…»

Poirot fiel ihm ins Wort.

«Sie irren sich! Er hat alles zugegeben.»

«Was?» Clarke sah ihn vollkommen verblüfft an.

«Gewiss», sagte Poirot freundlich. «Ich habe mit Cust gesprochen, und er hält sich selber für den Täter.»

«Und nicht einmal das vermochte Monsieur Poirot zu befriedigen?», fragte Clarke ironisch.

«Nein. Weil ich auf den ersten Blick erkannte, dass er gar nicht schuldig sein konnte! Er hat weder die Nerven noch den Mut, noch – das muss ich hinzufügen! – den Verstand, um derart kaltblütig zu planen! Ich habe diese Diskrepanz schon lange gespürt. Nun erkannte ich auch, worin sie bestand. Zwei Menschen waren in den Fall verwickelt: der wirkliche Mörder, ein kluger, selbstsicherer und verwegener Mann – und der Pseudomörder, nicht sehr intelligent, unsicher und ungemein beeinflussbar.

Beeinflussbar! In diesem einen Wort ist das ganze Geheimnis um Mr. Cust enthalten! Es genügte Ihnen nicht, Mr. Clarke, eine Reihe von Morden zu planen, um den einen, Ihnen wichtigen zu vertuschen. Sie brauchten darüber hinaus noch einen Sündenbock!

Ich vermute, dass Ihnen diese Idee zum ersten Mal kam, als Sie diesem merkwürdigen Menschen mit den bombastischen Taufnamen zufällig in einer Teestube der Stadt begegneten. Zu diesem Zeitpunkt dachten Sie unablässig darüber nach, wie Sie Ihren Bruder möglichst unauffällig umbringen könnten.»

«Tatsächlich? Und weshalb?»

«Weil Sie sich ernstlich Sorgen um Ihre Zukunft machten. Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber klar waren, Mr. Clarke, wie sehr Sie mir in die Hände spielten, als Sie mir jenen Brief zeigten, den Ihr Bruder Ihnen geschrieben hatte. In jenem Schreiben machte er aus seiner Liebe und Zuneigung für Thora Grey kein Hehl. Seine Gefühle mögen rein väterlicher Natur gewesen sein – oder er kann sich das eingeredet haben. Jedenfalls bestand die Gefahr, dass er sich nach dem Tod seiner Frau diesem schönen Mädchen immer mehr zuwandte, bei ihr Trost und Mitgefühl suchte, und dass all das, wie so oft, damit endete, dass der ältere Mann diese junge Frau heiratete. Diese Befürchtung erhielt noch ein besonderes Gewicht durch Ihre ausgezeichnete Menschenkenntnis. Sie beurteilen die Menschen ziemlich gut, wenn auch sehr zynisch.

Sie setzten voraus – zu Recht oder zu Unrecht –, dass Thora Grey recht genau wusste, was sie wollte, und Sie zweifelten keinen Augenblick daran, dass sie die Möglichkeit, Lady Clarke zu werden, mit beiden Händen ergreifen würde. Ihr Bruder war ein sehr gesunder, starker Mann. Es hätten Kinder kommen und Ihre Erbschaft in Frage stellen können.

Sie waren, meiner Ansicht nach, Ihr Leben lang ein enttäuschter, ein unsteter Mensch, der es zu nichts gebracht hat. Um so bitterer quälte Sie die Eifersucht, der Neid auf die Stellung und den Reichtum Ihres Bruders.

Und damals, wiederhole ich, als Ihnen plötzlich dieser Mr. Cust über den Weg gelaufen war, kam Ihnen eine Idee. Seine hochtrabenden Taufnamen, seine Schilderung von epileptischen Anfällen und häufigen Kopfschmerzen, seine ganze gebückte, farblose Erscheinung überzeugte Sie davon, in diesem unscheinbaren Menschen das Werkzeug gefunden zu haben, dessen Sie bedurften. Und damit stand auch der alphabetische Plan plötzlich klar vor Ihren Augen: Custs Initialen – die Fügung, dass der Name Ihres Bruders mit C begann und dass er in Churston wohnte – das waren die Kernpunkte Ihres Programms. Sie gingen sogar so weit, Cust sein mutmaßliches Ende vorauszusagen…

Ihre Vorbereitungen waren mustergültig! In Custs Namen ließen Sie sich einen großen Posten Strümpfe schicken – das heißt, Sie verfügten, dass diese Sendung direkt an seine Adresse gehen sollte. Ferner schickten Sie selber ihm eine Anzahl ABC-Fahrpläne, ganz ähnlich verpackt wie die Strümpfe. Dann schrieben Sie ihm – wohlweislich mit Maschine – einen Brief, der angeblich ebenfalls von der Strumpffabrik stammte und in dem man Cust ein festes Gehalt und Provision von seinen Verkäufen zusagte. So bis ins kleinste waren Ihre Pläne vorbedacht, dass Sie auch alle Briefe, die Sie späterhin abzuschicken beabsichtigten, auf dieser selben Maschine schrieben, die Sie ihm dann zur Verfügung stellten.

Nun mussten Sie nach zwei Opfern Ausschau halten, deren Namen mit A und B begannen und die in Orten wohnten, die ebenfalls diese zwei Anfangsbuchstaben hatten. Auf Andover verfielen Sie vermutlich, weil Ihnen das Städtchen für Ihre Pläne günstig schien, und ein erster Augenschein vor Ort ließ Ihre Wahl auf Mrs. Ascher fallen, deren Name groß und deutlich über der Eingangstür stand und von der Sie mühelos erfahren konnten, dass sie immer allein im Geschäft war. Immerhin erforderte dieser Mord Kaltblütigkeit, Mut und eine gehörige Portion Glück.

Für Buchstaben B mussten Sie notgedrungen Ihre Taktik ändern. Alleinstehende Frauen mit kleinen Läden mochten nun auf ihrer Hut sein. Ich stelle mir vor, dass Sie in vielen Kaffeehäusern und Tearooms verkehrten, dort mit den Serviermädchen lachten und scherzten, bis Sie herausgefunden hatten, wessen Name mit dem gewünschten Buchstaben begann und Ihnen für Ihre Zwecke dienlich schien. In Betty Barnard fanden Sie genau den Mädchentyp, den Sie suchten. Sie luden sie ein- oder zweimal ein, wobei Sie ihr erzählten, dass Sie verheiratet seien und dass deshalb Ihre Zusammenkünfte ziemlich verstohlen stattfinden müssten.

Damit waren Ihre Vorbereitungen abgeschlossen, und Sie konnten endlich zu Taten schreiten! Sie schickten die Liste von Andover an Cust, befahlen ihm, an einem bestimmten Tag dort einzutreffen, und schrieben dann den ersten Brief an mich. Am festgelegten Tag fuhren Sie nach Andover, töteten Mrs. Ascher, und nichts und niemand trat Ihnen hindernd in den Weg.

Mord Nummer eins war also glänzend gelungen!

Bei Ihrem zweiten Verbrechen ließen Sie große Vorsicht walten! Sie begingen es einen Tag zu früh! Denn ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass Betty Barnard am vierundzwanzigsten Juli lange vor Mitternacht starb.

Und damit kommen wir zum dritten Mord – zum eigentlichen, wichtigen, von Ihrem Standpunkt aus!

In diesem Zusammenhang muss ich meinem Freund Hastings einen Ruhmeskranz winden, der eine ganz einfache und logische Bemerkung machte, der niemand Beachtung schenkte. Er gab zu bedenken, ob der dritte Brief nicht vielleicht absichtlich ungenau adressiert worden sei!

Und er hatte Recht!

In dieser einen simplen Tatsache liegt die Antwort auf eine Frage, die mich so lange quälte. Warum wurden diese Briefe an Hercule Poirot gerichtet, an einen Privatdetektiv, und nicht an die Polizei? Irrigerweise glaubte ich an persönliche Gründe.

Keineswegs! Diese Briefe wurden an mich gesandt, weil ein Hauptpunkt in Ihrem Programm der war, einen Brief falsch zu adressieren und auf diese Weise zu verzögern! Aber ein Schreiben mit der Anschrift Scotland Yard hätte nie und nimmer verloren gehen oder verspätet abgegeben werden können! Es war also wichtig, dass Sie an eine Privatadresse schreiben konnten. Mich wählten Sie deshalb aus, weil ich erstens kein ganz Unbekannter bin und weil Sie zweitens genau wussten, dass ich diese Briefe unverzüglich der Polizei zeigen würde. Und außerdem genossen Sie, Ihrer insularen Einstellung entsprechend, den Gedanken, einen Ausländer aufs Glatteis zu führen. So schrieben Sie denn sehr raffiniert ‹Whitehorse› statt ‹Whitehaven› – ein Versehen, das durchaus möglich und natürlich schien. Nur Hastings war scharfsinnig genug, beschönigende Argumente beiseite zu schieben und klar zu erkennen, wo der Ursprung dieses Irrtums lag!

Es ist ganz klar, dass dieser Brief verloren gehen sollte! Die Polizei sollte die Spur erst aufnehmen, wenn das Verbrechen bereits geschehen war. Der allabendliche Spaziergang Ihres Bruders verschaffte Ihnen die gewünschte Gelegenheit, und inzwischen war das öffentliche Entsetzen über die ABC-Morde bereits derart allgemein, dass niemand auch nur entfernt an Ihre Schuld dachte.

Nach dem Ableben Ihres Bruders hatten Sie eigentlich den Zweck erreicht, um den es Ihnen ging. Sie hatten keine Lust, noch weiterzumorden. Andererseits hätte ein Aufhören dieser Verbrechen sehr leicht Verdacht erregen und möglicherweise die Wahrheit an den Tag bringen können.

Ihr Sündenbock, Mr. Cust, hatte seine Rolle als unsichtbarer – weil unscheinbarer! – Anwesender so vollendet gespielt, dass bis dahin niemand bemerkt hatte, dass er an allen drei Tatorten aufgetaucht war! Zu Ihrer Verärgerung war nicht einmal sein Besuch in Combside erwähnt worden, weil Miss Grey diesen kleinen Zwischenfall einfach vergessen hatte. Tollkühn, wie immer, beschlossen Sie einen letzten Mord, einen, der Mr. Cust viel deutlicher belasten sollte als die bisherigen.

Sie wählten Doncaster als Schauplatz aus.

Ihr Plan war sehr einfach. Sie selber würden ohnehin am Tatort sein, und Mr. Cust wurde von seiner Firma dorthin geschickt. Nun mussten Sie sich lediglich darauf verlassen, Mr. Cust folgen zu können und dabei auf eine gute Gelegenheit zu stoßen. Sie hatten Glück. Mr. Cust besuchte ein Kino. Einfacher ging es wirklich nicht mehr! Sie setzten sich ein paar Sitze von ihm entfernt nieder. Als er sich erhob, um zu gehen, taten Sie dasselbe. Sie gaben vor, zu stolpern, lehnten sich vor und erstachen einen schlafenden Mann in der vorderen Sitzreihe. Dann schoben Sie einen ABC-Fahrplan unter seinen Sitz, stießen im Hinausgehen heftig mit Mr. Cust zusammen, wobei Sie das Messer an seinem Mantelärmel abwischten und dann geschickt in seine Tasche gleiten ließen.

Sie brauchten sich nicht im Mindesten darum zu kümmern, ob Ihr letztes Opfer einen Namen mit D am Anfang hatte. Jetzt war Ihnen jedermann recht! Sie setzten voraus – und zwar sehr richtig –, dass man allgemein annehmen würde, es sei Ihnen ein Fehler unterlaufen. Und sicherlich würde irgendjemand, dessen Name mit D begann, in unmittelbarer Nähe des Ermordeten gesessen haben, worauf man selbstverständlich sagen würde, dass eigentlich dieser Mensch hätte ermordet werden sollen.

Und nun, verehrte Anwesende, wollen wir die Morde vom Standpunkt des Mr. Cust aus betrachten… des falschen ABC, wenn ich so sagen darf.

Der Mord in Andover berührt ihn überhaupt nicht. Der in Bexhill erstaunt und erschüttert ihn. Begreiflich – er war doch selber zu jenem Zeitpunkt dort gewesen! Dann wird das Verbrechen von Churston begangen und in allen Zeitungen in dicken Schlagzeilen veröffentlicht! Ein ABC-Mord in Andover, als er dort war, ein ABC-Mord in Bexhill, als er dort war, und nun ein neuer Mord unweit davon… Drei Morde, und er war immer am Schauplatz dieser Untaten! Menschen, die an Epilepsie leiden, haben manchmal Absenzen, Augenblicke, in denen sie sich nicht erinnern können, was sie getan haben… Bedenken Sie, dass Cust ein außergewöhnlich nervöser, neurotischer Typ ist und ungemein beeinflussbar.

Da bekommt er den Auftrag, nach Doncaster zu fahren.

Doncaster! Und das nächste ABC-Verbrechen soll in Doncaster stattfinden! Wahrscheinlich ist ihm dieses Zusammentreffen schicksalhaft vorgekommen. Er verliert die Nerven, bildet sich ein, seine Zimmerwirtin sehe ihn argwöhnisch an, und erzählt ihr, er fahre nach Cheltenham.

Aber er fährt pflichtgemäß nach Doncaster. Am Nachmittag geht er in ein Kino. Vielleicht schläft er dort ein paar Minuten lang ein. Stellen Sie sich nun seine Gefühle vor, als er, in sein Gasthaus zurückgekehrt, bemerkt, dass Blut an seinem Mantelärmel klebt, dass er ein blutbeflecktes Messer in der Tasche hat! Das verwandelt all seine unklaren Ahnungen in grauenvolle Gewissheit. Er! Er selber ist der Mörder! Seine Kopfschmerzen fallen ihm ein, seine Erinnerungslücken! Er wird seiner Sache immer sicherer, dass er – Alexander Bonaparte Cust – ein mordbesessener Wahnsinniger ist.

Sein Benehmen nach dieser Erkenntnis ist dem eines gejagten Tieres vergleichbar. Er flüchtet in sein Zimmer in London zurück. Dort ist er sicher – dort kennt man ihn. Die Marburys glauben, dass er in Cheltenham gewesen sei. Noch trägt er das Messer mit sich herum – was natürlich unsagbar dumm ist! Er versteckt es hinter dem Garderobenständer.

Dann wird er eines schönen Tages gewarnt, dass die Polizei ihn aufsuchen werde. Das ist das Ende! Alles ist entdeckt!

Das gehetzte Tier unternimmt seinen letzten Fluchtversuch.

Ich weiß nicht, warum er nach Andover fuhr… Wahrscheinlich getrieben von dem makabren Wunsch, den Tatort zu sehen – den Tatort des Mordes, den er begangen hat, obwohl er sich keineswegs daran erinnern kann…

Er hat kein Geld mehr – er ist am Ende seiner Kraft…

Seine Füße tragen ihn völlig willenlos zur Polizeistation. Aber selbst ein in die Enge getriebenes Tier kämpft noch. Mr. Cust ist vollkommen davon überzeugt, dass er die Untaten begangen hat, bleibt aber trotzdem dabei, seine Unschuld zu beteuern. Mit ganz besonders verzweifelter Hartnäckigkeit hält er an seinem Alibi für den zweiten Mord fest. Der wenigstens könne ihm nicht zur Last gelegt werden.

Wie ich bereits sagte, wusste ich sofort, als ich ihn sah, dass er nicht der Mörder sein konnte und dass ihm mein Name Schall und Rauch war. Ich wusste aber auch, dass er sich einredete, der Mörder zu sein!

Nachdem er mir ein Geständnis abgelegt hatte, war ich von der Richtigkeit meiner Theorie mehr denn je überzeugt.»

«Ihre Theorie», sagte Franklin Clarke, «ist absurd!»

Poirot schüttelte den Kopf.

«Nein, Mr. Clarke. Sie waren in Sicherheit, solange niemand Sie verdächtigte. Nachdem der erste Verdacht gegen Sie vorlag, waren die Beweise leicht zu beschaffen.»

«Beweise?»

«Gewiss. Ich fand den Knotenstock, den Sie für den Mord in Andover benützten, in einem Schrank des Hauses Combside. Ein gewöhnlicher Spazierstock, von dessen Griff ein Stück Holz entfernt und durch Blei ersetzt worden war. Verschiedene Leute haben aus einem halben Dutzend Fotografien die Ihrige als diejenige des Mannes herausgefunden, der das Kino etwas vorzeitig verließ, zu einem Zeitpunkt übrigens, da jedermann Sie bei den Rennen glaubte. Neulich wurden Sie in Bexhill von Milly Higley wiedererkannt, und ein Mädchen aus dem ‹Scarlet Runner Roadhouse›, wohin Sie Betty Barnard an dem tragischen Abend eingeladen hatten, konnte Sie ebenfalls identifizieren. Und schließlich – verdammtes Pech! – ließen Sie eine grundlegende Vorsichtsmaßnahme außer Acht. Sie hinterließen Fingerabdrücke auf der Schreibmaschine Mr. Custs – einer Schreibmaschine, die Sie, falls Sie unschuldig sind, nie im Leben berührt haben können!»

Clarke saß sehr ruhig da. Nach einer Minute lastenden Schweigens sagte er:

«Rouge, impair, manque! Sie haben gewonnen, Monsieur Poirot! Aber der Versuch hat sich trotzdem gelohnt!»

Mit einer unglaublich raschen Bewegung zog er einen Revolver aus der Tasche und hielt ihn an seine Schläfe.

Ich schrie auf und duckte mich unwillkürlich, während ich auf den Schuss wartete. Aber es erfolgte keine Detonation – nur ein harmloses Knacken des Hahns war zu hören. Clarke sah die Waffe fassungslos an und fluchte.

«Nein, Mr. Clarke», sagte Poirot. «Es ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich heute einen neuen Kammerdiener habe. Ein Freund von mir, einer der geschicktesten Taschendiebe der Welt. Der holte den Revolver aus Ihrer Tasche, entlud ihn und steckte ihn Ihnen wieder zu, ohne dass Sie das Geringste davon bemerkt haben.»

«Sie ekelhafter kleiner Stutzer von einem Ausländer!», schrie Clarke rot vor Zorn.

«Ja, das sind Ihre wahren Gefühle. Nein, nein, Mr. Clarke, kein bequemer und leichter Tod für Sie. Sie haben Mr. Cust erzählt, dass Sie zweimal beinahe ertrunken wären. Sie wissen doch, was das bedeutet? Dass das Schicksal etwas anderes mit Ihnen vorhat.»

«Sie…»

Die Worte fehlten ihm. Sein Gesicht war schneeweiß, und er ballte drohend die Fäuste.

Zwei Detektive von Scotland Yard kamen aus dem angrenzenden Zimmer. Einer von ihnen war Crome. Er trat näher und äußerte die althergebrachte Formel: «Ich gebe Ihnen zu bedenken, dass alles, was Sie sagen, als Beweis gegen Sie verwendet werden kann.»

«Er hat schon genug gesagt», beruhigte Poirot ihn, und zu Clarke gewandt, fügte er noch bei: «Sie sind zwar unbändig stolz darauf, ein Bewohner dieser Insel zu sein – aber ich persönlich finde, dass Ihre Verbrechen gänzlich unenglisch waren – nicht offen, nicht sportlich…»

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