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Ich erinnere mich noch genau an die Ankunft des dritten Briefes. Es waren alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden, um ohne unnötige Verzögerung zupacken zu können, sobald ABC sich zur Fortsetzung seines Feldzuges entschlossen haben würde. Ein junger Sergeant von Scotland Yard war in unsere Wohnung abkommandiert worden, und wenn Poirot und ich ausgegangen waren, öffnete er alle Briefe, um sofort mit dem Hauptquartier in Verbindung zu treten, falls eine neuerliche Nachricht von ABC eintraf.

Während die Tage ereignislos verstrichen, wurden wir alle immer nervöser. Inspektor Cromes unnahbare und selbstherrliche Art wurde womöglich noch unnahbarer und selbstherrlicher, je mehr sich seine Lieblingstheorien als haltlos erwiesen. Die unklare Beschreibung der Männer, mit denen Betty Barnard gesehen worden sein sollte, hatte zu keinerlei Resultaten geführt. Verschiedene Autos, die in der Nähe von Bexhill gesichtet worden waren, gehörten entweder durchaus ehrbaren Bürgern oder konnten überhaupt nicht mehr eruiert werden. Die Nachforschungen bezüglich der Käufer von ABC-Fahrplänen hatten wohl vielen unschuldigen Leuten eine Menge Unannehmlichkeiten verschafft, aber kein brauchbares Ergebnis gezeitigt.

Was uns betrifft, so fuhren wir jedes Mal zusammen, wenn der Postbote an unserer Tür erschien. Ich jedenfalls bekam immer Herzklopfen vor Erwartung, und ich glaube nicht, dass es meinem Freund anders erging. Poirot war tief unglücklich über den Fall, das wusste ich genau. Er weigerte sich, London zu verlassen, um ja zur Stelle zu sein, falls etwas passierte. Sogar sein Schnurrbart hing trübselig herunter, weil sein Eigentümer ihn in diesen spannungsgeladenen Tagen schmählich vernachlässigte.

Es war ein Freitag, als ABCs dritter Brief kam. Die Abendpost wurde uns gegen zehn Uhr zugestellt. Sobald das vertraute Klopfgeräusch ertönte, sprang ich auf und ging zum Briefkasten. Es lagen drei oder vier Briefe darin, dessen erinnere ich mich noch. Die Adresse des letzten, den ich herausnahm, war mit Blockbuchstaben geschrieben.

«Poirot…!», rief ich, konnte aber nicht weiterreden vor Aufregung.

«Ist er gekommen? Offnen Sie ihn, Hastings – schnell! Jede Sekunde kann wichtig sein.»

Ich riss den Umschlag auf. (Dies eine Mal tadelte Poirot mich nicht um dieser Unordentlichkeit willen.)

«Lesen Sie!», befahl Poirot.


Armer Monsieur Poirot! Doch nicht so ganz auf der Höhe in diesen kriminalistischen Dingen, wie Sie meinten, wie? Ist das der beginnende Abstieg? Nun, sehen wir zu, ob Sie diesmal geschickter vorgehen werden. Der nächste Fall wird wirklich kinderleicht sein. Churston, am 30. dieses Monats. Seien Sie doch so nett und unternehmen Sie etwas dagegen, ja? Es beginnt mich zu langweilen, dass mir alles so glatt gelingt, wissen Sie!

Weidmannsheil! Ganz der Ihrige

ABC


«Churston!» Ich nahm sofort unseren Fahrplan zur Hand. «Wo liegt denn das überhaupt?»

«Hastings!» Poirots Stimme klang scharf und unterbrach meine Geschäftigkeit. «Wann wurde dieser Brief geschrieben? Steht ein Datum darauf?»

«Ja, am Siebenundzwanzigsten geschrieben…»

«Und den Mord kündigt er für den Dreißigsten an?»

«Jawohl. Das wäre also…»

«Bon Dieu, Hastings! Der Dreißigste ist heute!»

Er wies mit einer nervösen Handbewegung auf den Wandkalender. Der Kopf einer Tageszeitung belehrte mich, dass dieses Datum tatsächlich stimmte.

«Aber, das ist ja… Wie kann das sein…?», stammelte ich.

Poirot hob den zerrissenen Briefumschlag vom Boden auf. Jetzt erst fiel mir wieder ein, dass ich irgendetwas Ungewöhnliches daran bemerkt hatte; aber meine Spannung, den Inhalt des Schreibens kennen zu lernen, war so groß gewesen, dass ich dieser äußerlichen Eigentümlichkeit nicht mehr als ein flüchtiges Interesse entgegengebracht hatte.

Poirot wohnte in Whitehaven Mansions. Die Adresse auf dem Umschlag lautete: Monsieur Hercule Poirot, Whitehorse Mansions. Jemand hatte in eine Ecke gekritzelt: «Unbekannt in Whitehorse Mansions und Whitehorse Court. Nachfragen in Whitehaven Mansions.»

«Kommt sogar der Zufall diesem Wahnsinnigen zu Hilfe?», murmelte Poirot vor sich hin. «Vorwärts, vite, vite, wir müssen sofort Scotland Yard verständigen.»

Zwei Minuten später telefonierten wir bereits mit Inspektor Crome. Diesmal lautete die Antwort des beherrschten Beamten nicht wie üblich: So? Wirklich? – Stattdessen entrang sich ihm ein kaum unterdrückter Fluch. Er hörte, was wir zu melden hatten, und versprach, für eine sofortige Fahrmöglichkeit nach Churston zu sorgen. Dann legte er auf.

«C’est trop tard», seufzte Poirot.

«Das können Sie doch nicht wissen», widersprach ich ihm, obwohl auch ich nicht sehr zuversichtlich war.

Er sah auf die Uhr.

«Zwanzig Minuten nach zehn – noch eine Stunde und vierzig Minuten bis zu einem neuen Tag. Glauben Sie, dass ABC bis zur letzten Sekunde wartet?»

Ich öffnete den Fahrplan, den ich vom Regal geholt hatte.

«Churston, Devon», las ich, «204 ¾; Meilen vom Bahnhof Paddington. Bevölkerungszahl: 544 Personen. Scheint ein ziemlich kleiner Ort zu sein. Dort muss man unseren Mann ganz bestimmt bemerkt haben.»

«Und wenn? Es wird trotzdem ein weiteres Menschenleben vernichtet worden sein.» Poirot schien etwas einzufallen. «Was haben wir für Züge? Ich glaube, dass wir per Bahn rascher dort sind als per Auto.»

«Es gibt einen Nachtzug mit Schlafwagen, der um sieben Uhr fünfzehn in Churston ankommt.»

«Den nehmen wir, Hastings.»

«Aber dann werden Sie vor unserer Abfahrt kaum noch die neuesten Informationen erhalten können.»

«Ob wir schlechte Nachrichten heute Abend oder morgen früh bekommen – was macht das schon?»

Ich begann, unsere Koffer zu packen, während Poirot noch einmal mit Scotland Yard telefonierte. Als er nach wenigen Minuten ins Schlafzimmer kam, fragte er: «Was machen Sie denn da?»

«Ich habe Ihren Koffer gepackt, um Zeit zu sparen.»

«Vouz éprouvez trop d’émotion, Hastings. Sie verlieren den Kopf. Legt man so einen Mantel zusammen? Und wie gehen Sie mit meinem Pyjama um? Wenn diese Flasche Haarwasser zerbricht, wie wird er dann aussehen?»

«Himmel, Poirot», rief ich wütend, «es geht hier um Leben und Tod! Was kümmern mich da unsere Kleider!»

«Sie haben keinen Sinn für Proportionen, Hastings. Man kann mit einem Zug erst zur festgesetzten Zeit abfahren, und unsere Sachen zu ruinieren, würde uns nicht im Mindesten helfen, einen Mord zu verhindern.»

Mit diesen Worten nahm er mir seinen Koffer aus der Hand und packte ihn nach seinem eigenen Gutdünken. Er erklärte mir, dass wir Brief und Umschlag mit zum Bahnhof nehmen würden, wo ihn ein Beamter von Scotland Yard abholen sollte. Als wir auf dem Bahnsteig erschienen, stand Inspektor Crome bereits dort. Er beantwortete Poirots fragenden Blick sofort.

«Noch keine Nachrichten. Alle verfügbaren Leute sind auf ihrem Posten. Jeder Mensch, dessen Name mit C beginnt, wird gewarnt, wenn möglich telefonisch. Vielleicht haben wir Glück. Wo ist der Brief?»

Poirot reichte ihn ihm, und Crome betrachtete ihn leise fluchend von allen Seiten.

«Hat verdammt Glück, der Bursche! Der Himmel scheint sich mit ihm verbündet zu haben!»

«Sie glauben also nicht, dass er das absichtlich getan hat?», fragte ich.

Crome schüttelte den Kopf.

«Nein. Er hält sich an seine Spielregeln – mögen sie noch so wahnsinnig sein. Ehrliche Warnung – dieses Gesetz achtet er, schon allein, weil es seiner Eitelkeit entspricht. Was mich wundert… Ich könnte fast schwören, dass der Kerl White Horse Whisky trinkt!»

«Ah, c’est ingénieux, ca!», rief Poirot bewundernd aus. «Während er den Brief schreibt, steht die Flasche vor ihm auf dem Tisch!»

«Genauso meine ich es», bestätigte Crome. «Wir haben doch alle schon an uns selber erlebt, dass man unbewusst Sprech- und Schreibfehler begeht, wenn die Gedanken auch nur sekundenlang durch etwas abgelenkt werden, was das Auge sieht. Er begann mit White und schrieb dann Horse statt Haven…»

Der Inspektor reiste übrigens mit dem gleichen Zug.

«Selbst wenn durch irgendeinen unglaublichen Glücksfall nichts geschehen sein sollte, ist Churston jetzt ein wichtiger Ort. Unser Mörder ist dort, oder er war zumindest heute dort. Einer meiner Beamten steht drüben am Telefon bis zur Abfahrt des Zuges, falls in letzter Sekunde noch etwas Wichtiges gemeldet werden sollte.»

In dem Moment, da sich der Zug langsam in Bewegung setzte, sahen wir einen Mann den Bahnsteig entlangrennen. Er erreichte das Fenster von Cromes Abteil und rief ihm etwas zu.

Während der Zug aus dem Bahnhof rollte, klopften Poirot und ich schon an Cromes Tür.

«Sie haben Nachricht erhalten, nicht wahr?», fragte Poirot.

«Die schlimmste, die uns erreichen konnte», antwortete Crome ruhig. «Sir Carmichael Clarke wurde mit eingeschlagenem Schädel aufgefunden.»

Obwohl in der breiten Öffentlichkeit nicht sehr bekannt, war Sir Carmichael Clarke eine bedeutende Persönlichkeit. Er war seinerzeit ein bekannter Halsspezialist gewesen. Nachdem er sich als reicher Mann zur Ruhe gesetzt hatte, war es ihm vergönnt gewesen, jener Leidenschaft zu frönen, die von jeher sein großes Steckenpferd gewesen war: dem Sammeln chinesischer Keramiken und Porzellane. Als er einige Jahre später einen sehr begüterten alten Onkel beerbte, stand es ihm frei, diese Liebhaberei schrankenlos auszubauen, und so kam es, dass seine chinesische Sammlung nun zu den berühmtesten der Welt gehörte. Er war verheiratet, hatte aber keine Kinder, und wohnte in einem Haus, das er sich in der Nähe von Devon hatte bauen lassen. Nach London fuhr er nur noch selten und ausschließlich, um große Versteigerungen und Auktionen zu besuchen.

Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Nachricht von seinem Tod, so kurz nach dem Mord an der hübschen jungen Betty Barnard, eine Pressesensation schaffen würde, wie man sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Die Tatsache, dass wir August schrieben und die Zeitungen ohnehin unter Stoffmangel litten, machte die Sache nur noch ärger.

«Eh bien», folgerte Poirot, «vielleicht gelingt nun den Journalisten, was unseren vereinten Bemühungen nicht glückte: dass das ganze Land sich an die Verfolgung von ABC machen wird.»

«Gerade das strebt er an», gab ich zu bedenken.

«Gewiss. Aber es könnte trotzdem zu seinem Untergang führen. Wenn er, befriedigt durch seine Erfolge, sorglos werden würde… Darauf hoffe ich! Dass er sich an seiner eigenen Schlauheit berauscht und dann…»

Er seufzte und schüttelte den Kopf.

«Diese Verbrechen müssen aufhören. Bald, sehr bald. Ich muss die Wahrheit herausfinden… Gehen wir, Hastings. Schlafen Sie ein wenig. Morgen wird es eine Menge zu tun geben.»

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