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Mit dem Mord an Sir Carmichael Clarke war der ABC-Fall ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerückt.

Die Zeitungen berichteten kaum noch von etwas anderem. Alle möglichen Vermutungen wurden als Tatsachen wiedergegeben, Verhaftungen als unmittelbar bevorstehend gemeldet. Von jedem Menschen oder Ort, der auch nur im Entferntesten mit den Morden in Zusammenhang gebracht werden konnte, erschienen riesige Fotografien in den Tagesblättern. Interviews mit jedermann, der gewillt war, ein Interview zu geben, wurden gedruckt. In der Fragestunde des Parlaments wurden die Morde erörtert.

Das Verbrechen von Andover war nun unlöslich mit den beiden anderen Untaten verbunden.

Scotland Yard war der Ansicht, dass diese ungeheure Publizität das geeignetste Mittel sei, den Mörder zu fassen. Die ganze Bevölkerung Großbritanniens verwandelte sich in eine Armee von Privatdetektiven.

Der Daily Flicker – eine weit verbreitete Tageszeitung – hatte das geniale Schlagwort geprägt: «Vielleicht ist er in Ihrer Stadt!»

Für Poirot war das alles natürlich denkbar unangenehm. Die an ihn gerichteten Briefe von ABC wurden im Faksimile überall abgedruckt. Er wurde angegriffen, und man warf ihm vor, diese Morde nicht verhindert zu haben; andere Blätter nahmen ihn in Schutz und versicherten, dass er demnächst den Namen des Täters bekannt geben werde.

Reporter bestürmten ihn dauernd um Interviews.

«Monsieur Poirot sagte heute:…», unter welcher Überschritt gewöhnlich eine halbe Spalte haltlosen Blödsinns erschien.

«Monsieur Poirot beurteilt die Lage sehr ernst.»

«Monsieur Poirot am Vorabend eines Erfolges.»

«Captain Hastings, der beste Freund von Monsieur Poirot, erklärte heute unserem Sonderkorrespondenten…»

«Poirot», pflegte ich in solchen Fällen aufzustöhnen, «bitte glauben Sie mir, dass ich niemals etwas Derartiges gesagt habe!»

Und mein Freund antwortete jedes Mal gelassen:

«Ich weiß, Hastings, ich weiß… Zwischen dem gesprochenen und dem gedruckten Wort klafft ein erstaunlicher Abgrund. Es gibt eine Technik, Sätze zu verdrehen, die den Sinn vollkommen auf den Kopf stellt.»

«Ich möchte nur nicht, dass Sie denken…»

«Lassen Sie nur, mein Guter, regen Sie sich nicht auf. Das ist doch alles ganz unwichtig. Und selbst diese Dummheiten könnten uns nützlich sein.»

«Wie um alles in der Welt?»

«Eh bien», sagte Poirot grimmig, «wenn unser Verrückter liest, was ich angeblich dem Daily Soundso berichtet habe, dann wird er bald allen Respekt vor mir verlieren und mich als Gegner nicht mehr für voll nehmen.»

Vielleicht gewinnt man aus meinen Schilderungen den Eindruck, als wären damals die Untersuchungen praktisch eingestellt worden. Ganz im Gegenteil! Scotland Yard und die Ortspolizeien waren unermüdlich an der Arbeit und verfolgten selbst die nichts sagendsten Hinweise mit bewunderungswürdiger Gewissenhaftigkeit. Hotels, Fremdenzimmer, Pensionen – alles wurde in einem weiten Umkreis der Tatorte eingehend durchstöbert und alle damit zusammenhängenden Personen verhört.

Hunderten von Erzählungen fantasiebegabter Menschen, die «einen sonderbar aussehenden Mann, der die Augen wild rollte», oder «einen brutalen Menschen mit finsterem Gesicht» irgendwo gesehen haben wollten, wurde bis ins kleinste Detail nachgegangen. Keine einzige Information, auch nicht die unklarste, wurde außer Acht gelassen. Züge, Autobusse, Trams – Gepäckträger, Zugführer, Kioskangestellte, Bahnhofsvorstände –, es war eine unabsehbare Kette von Fragen, Antworten und Richtigstellungen.

Mindestens zwanzig Personen wurden festgehalten und so lange ausgefragt, bis sie die Polizei von ihren Alibis während der fraglichen Nächte überzeugen konnten.

Das Ergebnis all dieser Bemühungen war nicht gänzlich wertlos. Einige der Feststellungen, die man als möglicherweise aufschlussreich notierte, schienen zu einer Lösung zu führen; aber solange nicht wirkliche Beweise dazukamen, blieben auch sie unbrauchbar.

Während Crome und seine Kollegen also mit Feuereifer an der Aufklärung der Morde arbeiteten, schien Poirot in gänzlicher Untätigkeit zu erstarren. Darüber hatten wir manchen Wortwechsel.

«Aber was möchten Sie denn, das ich unternehmen soll, mon ami? Die Routinefragen stellt die Polizei den Leuten viel besser! Sie wollen immer, dass ich herumrenne wie ein Hund!»

«Wohingegen Sie zu Haus sitzen wie ein – wie ein…»

«Vernünftiger Mensch! Meine Stärke, Hastings, liegt in meinem Gehirn und nicht in meinen Füßen! Die ganze Zeit, während welcher ich Ihnen so sinnlos herumzusitzen schien, habe ich intensiv nachgedacht.»

«Nachgedacht!», rief ich erbittert aus. «Ist jetzt die Zeit zum Nachdenken?»

«Ja, tausendmal ja!»

«Aber was können Sie denn erreichen, wenn Sie nachdenken? Sie kennen doch die Tatsachen der drei Fälle in- und auswendig!»

«Ich denke ja auch gar nicht über diese Tatsachen nach, sondern über den Geist des Mörders.»

«Den Geist eines Verrückten!»

«Richtig. Und das erschwert meine Überlegungen. Aber wenn ich erst einmal weiß, wie dieser Mörder denkt und empfindet, dann werde ich auch herausfinden, wer er ist. Und immer lerne ich mehr von ihm kennen. Was wussten wir nach dem Mord in Andover über ihn? So ziemlich gar nichts. Und nach Bexhill? Ein wenig mehr. Und nach dem Churston-Mord? Wieder ein wenig mehr. Für mich nimmt er langsam Form an – nicht was Sie natürlich interessiert: sein Gesicht und seine äußere Erscheinung! –, aber innerhalb welcher Grenzen sich sein Geist bewegt. Nach seinem nächsten Mord…»

«Poirot!»

Mein Freund sah mich ungerührt an.

«Aber ja, Hastings, ich bin fast sicher, dass er noch ein Verbrechen begehen wird. Bisher hat unser Unbekannter Glück gehabt. Das nächste Mal könnte er Pech haben. So oder so werden wir nach dem nächsten Mord unendlich viel klarer sehen. Verbrechen sind sehr, sehr verräterisch. Versuchen Sie, Ihre Methoden zu wechseln, Ihren Geschmack, Ihre Gewohnheiten, Ihre Geisteshaltung – Ihre Seele verrät sich doch durch Ihre Handlungen. Dieser Fall weist verwirrende Merkmale auf. Manchmal kommt es mir so vor, als seien zwei verschiedene Köpfe am Werk – aber bald werden sich die Umrisse schärfer zeigen, und ich werde klar sehen.»

«Wer es ist?»

«Nein, Hastings, ich werde weder seinen Namen noch seine Adresse wissen! Aber ich werde wissen, welche Art Mensch er ist.»

«Und dann?»

«Et alors, je vais à la pêche.»

Da ich ihn fassungslos ansah, fügte er erklärend hinzu:

«Sehen Sie, Hastings, ein gewiefter Fischer weiß ganz genau, welche Fliege er welchem Fisch anbieten muss. Ich werde dem Fisch die Fliege offerieren, der er bestimmt nicht widerstehen kann – er wird anbeißen.»

«Und dann?»

«Und dann – und dann? Sie sind ebenso unerträglich wie Crome, der Überlegene, mit seinem ewigen: ‹Ach? Wirklich?› – Eh bien, dann wird er den Köder samt dem Angelhaken verschlucken, und wir werden die Schnur schön langsam einholen…»

«Und inzwischen sterben Leute links und rechts!»

«Drei Personen – bis jetzt. Und bei Straßenunfällen kommen jede Woche – wie viel noch gleich? – ungefähr hundertvierzig Menschen ums Leben.»

«Das ist doch etwas ganz anderes!»

«Für jene, die sterben, ist es wahrscheinlich genau dasselbe. Für die anderen, die Verwandten, die Freunde – gewiss, für die ist es etwas anderes, aber etwas freut mich trotzdem am vorliegenden Fall.»

«Dann sagen Sie der Mitwelt schnell, was Sie daran erfreulich finden!»

«Ihr Sarkasmus ist sinnlos, Hastings. Es freut mich, dass nicht der Schatten eines Verdachtes auf einen Unschuldigen fällt.»

«Überhaupt keinen Schatten eines Verdachtes zu haben ist noch viel schlimmer!»

«Nein, nein, tausendmal nein! Nichts ist grauenvoller, als in einer Atmosphäre des Unglaubens, der Unsicherheit zu leben – zu sehen, wie Augen einen beobachten, wie die Liebe aus ihnen verschwindet und dem Argwohn Platz macht – nichts ist so schlimm, wie Menschen, die man liebt und denen man nahe steht, verdächtigen zu müssen… Das ist wie Gift, wie ein Pesthauch. Nein, dass er das Leben eines unschuldigen Menschen vergiftet, das wenigstens können wir ABC nicht zur Last legen.»

«Bald werden Sie noch Entschuldigungen für den Mann vorbringen!», stieß ich erbittert hervor.

«Warum nicht? Er fühlt sich vielleicht durchaus im Recht. Und es könnte sein, dass wir schließlich seinen Standpunkt sehr wohl begreifen werden.»

«Poirot! Ich bitte Sie!»

«O weh! Jetzt sind Sie restlos entsetzt! Erst über meine Trägheit – dann über meine Ansichten!»

Ich schüttelte wortlos den Kopf.

«Immerhin», begann Poirot nach zwei Minuten Schweigen von neuem, «habe ich einen Plan, der auch Ihnen zusagen wird – einen aktiven, keinen passiven! Er wird außerdem eine Menge Geschwätz und wenig Gedankenarbeit mit sich bringen.»

Sein Ton gefiel mir nicht sonderlich.

«Worum handelt es sich?», fragte ich vorsichtig.

«Darum, aus Freunden, Verwandten und Dienstboten der Opfer alles herauszuquetschen, was sie irgend wissen.»

«Glauben Sie denn, dass diese Leute Dinge verheimlichen?»

«Nicht absichtlich. Aber wenn jemand alles sagen soll, was er weiß, trifft er naturgemäß eine gewisse Auswahl. Wenn ich Ihnen zum Beispiel befehlen würde: Erzählen Sie mir, was Sie gestern getan haben – dann würden Sie ungefähr antworten. ‹Ich bin um neun Uhr aufgestanden, habe um halb zehn gefrühstückt, Eier, Schinken und Kaffee, ging dann in den Club› – und so weiter. Aber Sie würden sehr wahrscheinlich nicht berichten: ‹Ich habe mir einen Fingernagel eingerissen und musste ihn abschneiden. Ich läutete nach meinem Rasiermesser. Ich schüttete ein wenig Kaffee auf das Tischtuch. Ich bürstete noch meinen Hut ab, ehe ich ihn aufsetzte.› Man kann nicht alles erzählen, und deshalb wählt man aus. In einem Mordfall berichten die Leute das, was ihnen wichtig erscheint. Aber häufig ist gerade das nebensächlich.»

«Und wie soll man dann die wesentlichen Punkte aus ihnen herausbekommen?»

«Ganz einfach, indem man mit ihnen plaudert. Geschwätz, wie ich schon sagte! Wenn man einen bestimmten Vorfall, einen bestimmten Menschen oder Tag immer und immer wieder mit ihnen bespricht, müssen besondere Einzelheiten ans Tageslicht kommen.»

«Was für Einzelheiten?»

«Ich weiß natürlich nicht, was ich eigentlich erfahren will. Aber es ist jetzt Zeit genug verstrichen, damit die Dinge wieder an ihrem Platz stehen und ihr spezifisches Gewicht zurückerhalten haben dürften. Meiner Ansicht nach widerspricht es allen mathematischen Gesetzen, dass in drei Mordfällen nicht eine einzige Bemerkung, nicht ein einziges Vorkommnis aufgetaucht sein soll, die diese Verbrechen wie ein roter Faden verbinden würden. Irgendetwas – ein Wort, ein Ausspruch, eine ganz nebensächliche Handlung – muss von irgendjemandem registriert worden sein und uns als Wegweiser dienen. Gewiss, das kommt der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleich! Aber dass in diesem Heuhaufen eine Nadel ist, darauf könnte ich schwören!»

Mir kam diese Erklärung unendlich dehnbar und vage vor.

«Verstehen Sie mich nicht, Hastings? Ist Ihr Verstand weniger scharf als der eines einfachen Hausmädchens?»

Er schob mir einen Brief hin. Die auffallend schräge Schrift erinnerte mich an Schönschreibübungen in der Volksschule.


Sehr geehrter Herr.

Verzeihen Sie mir die Freiheit, dass ich Ihnen schreibe. Ich habe viel über die beiden entsetzlichen Morde seit Tantes Tod nachgedacht. Mich dünkt, jetzt sitzen wir alle im gleichen Boot. Ich habe das Bild der jungen Dame in den Zeitungen gesehen – ich meine, der jungen Dame, die die Schwester des Mädchens ist, das ermordet wurde. Ich habe mich erkühnt, ihr zu schreiben, dass ich jetzt nach London übersiedeln will, um eine Stellung zu suchen, und ich fragte bei ihr an, ob vielleicht sie oder ihre Mutter ein Mädchen brauche, und schrieb, dass ich nicht viel Lohn verlangen würde. Aber zwei Köpfe seien immer besser als einer, und dieser Bösewicht müsse doch gefasst werden, und vielleicht könnten wir uns gegenseitig sagen, was wir wissen, so dass wir möglicherweise darauf kämen, wer der Mörder ist.

Die junge Dame hat mir sehr nett geantwortet. Da sie in einer Pension wohne, brauche sie niemanden, aber sie rate mir, Ihnen zu schreiben, und sie habe auch schon etwas Ähnliches gedacht wie ich. Und sie fügte noch bei, natürlich seien wir alle in der gleichen unangenehmen Lage und sollten zusammenhalten. Also schreibe ich Ihnen jetzt, Sir, um Ihnen mitzuteilen, dass ich nach London komme, und unten stehend meine Adresse. Hoffend, dass ich Ihnen nicht lästig gefallen bin,

grüße ich Sie achtungsvollst

Mary Drower.


«Mary Drower», stellte Poirot fest, «ist ein kluges Mädchen.» Er hielt einen anderen Brief in der Hand. «Lesen Sie.»

Die kurze Nachricht stammte von Franklin Clarke und besagte, dass er nach London komme und Poirot, falls es ihm recht sei, anrufen wolle.

«Verzweifeln Sie nicht, mon ami, denn nun hebt rege Geschäftigkeit an.»

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