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«Und?», fragte ich gespannt.

Wir saßen in einem Abteil erster Klasse, das wir ganz für uns allein hatten. Der Zug, ein Eilzug, hatte eben den Bahnhof Andover verlassen.

«Das Verbrechen», antwortete Poirot, «wurde von einem mittelgroßen Mann mit roten Haaren begangen, der auf dem rechten Fuß leicht hinkt und unterhalb des linken Schulterblattes ein Muttermal hat.»

«Poirot!», fuhr ich auf.

Sekundenlang war ich vollkommen verblüfft; aber dann verriet sich mein Freund durch ein schlecht kaschiertes Lächeln.

«Poirot!», rief ich noch einmal, diesmal vorwurfsvoll.

«Was wollen Sie, mon ami? Sie sehen mich mit so ergebenem Hundeblick an, dass nur eine Antwort à la Sherlock Holmes in Frage kommen kann! Um aber bei der Wahrheit zu bleiben – ich weiß weder, wie der Mörder aussieht, noch wo er lebt, noch wie wir ihn je entlarven sollen.»

«Wenn es nur irgendeinen Anhaltspunkt gäbe», murmelte ich.

«Ja, danach jagen Sie immer zuerst. Aber ach! Leider rauchte er nicht, streute keine Asche auf den Boden und trat nicht mit einem ganz besonders merkwürdig geformten Schuhnagel in lehmigen Boden… Nein, so hilfsbereit war er nicht. Aber wenigstens haben wir den Fahrplan, den ABC, der Ihnen als Leitstern dienen mag.»

«Glauben Sie, dass er den versehentlich dort liegen ließ?»

«Natürlich nicht! Der wurde absichtlich zurückgelassen. Siehe Fingerabdrücke.»

«Aber es waren ja gar keine darauf!»

«Eben. Was war gestern? Ein warmer Juniabend. Geht ein Mann an einem solchen Abend in Handschuhen spazieren? Höchstens, wenn er aufzufallen wünscht. Ergo muss der Fahrplan, da er keine Fingerabdrücke aufweist, sorgfältig abgewischt worden sein. Ein Unschuldiger hätte Fingerabdrücke zurückgelassen – ein Schuldiger nicht. Also hat unser Mörder diesen ABC absichtlich liegen lassen – aber auch das ist leider kein Anhaltspunkt für uns. Immerhin wurde dieser Fahrplan von jemandem gekauft, von jemandem hergebracht – das ist eine Möglichkeit.»

«Aus der wir irgendwelche Schlüsse ziehen können?»

«Ehrlich gesagt, Hastings, ich habe nicht sehr viel Hoffnung. Dieser Mann, dieser unbekannte X, brüstet sich ja ganz offen mit seiner Gerissenheit. Er wird uns kaum eine Spur in die Hände spielen, die wir leicht verfolgen können.»

«So dass dieser ABC-Fahrplan uns gar nichts nützt?»

«Nicht so, wie Sie meinen.»

«Aber wie?»

Poirot antwortete nicht sofort. Dann sagte er langsam:

«Wir stehen einem Unbekannten gegenüber. Er verbirgt sich im Dunkeln und will im Dunkeln bleiben. Aber es liegt in der Natur der Dinge, dass er nicht verborgen bleiben kann, sondern einmal ins Licht treten muss. Auf der einen Seite wissen wir nichts von ihm, aber auf der anderen Seite wissen wir doch schon allerhand Förderliches. Für mich nimmt er langsam Gestalt an – ein Mensch, der klare Buchstaben zu schreiben vermag, der sich teures Briefpapier kauft und der sich aus irgendeinem Grunde hervortun möchte. Ich sehe ihn als möglicherweise vernachlässigtes und zurückgesetztes Kind, im geistigen und seelischen Sinne als heranwachsenden Mann, den schwere Minderwertigkeitsgefühle plagen, die sich zu einem Hass auf alle Ungerechtigkeit steigern… Ich begreife diese innere Rastlosigkeit, den Wunsch, sich zu behaupten, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – ein Wunsch, dem sich vielleicht die Umstände oder die Ereignisse entgegenstellen und ihn vereiteln, was wieder nur neue Demütigungen und neuen Hass erzeugt. Und damit ist ein Funke in ein Pulverfass gefallen…»

«Poirot, das sind doch lauter Vermutungen», warf ich ein. «Keine wirklichen Anhaltspunkte!»

«Sie ziehen das abgebrochene Streichholz, die Zigarettenasche und das Nagelmuster der Schuhe vor! Das haben Sie von jeher getan. Aber bitte, wir können uns auch einige ganz praktische Fragen vorlegen. Weshalb der ABC-Fahrplan? Weshalb Mrs. Ascher? Weshalb Andover?»

«Weshalb?!», brummte ich. «Das Leben dieser Frau scheint absolut alltäglich gewesen zu sein. Die Unterredungen mit den beiden Kunden verliefen ergebnislos. Wir haben von ihnen nichts erfahren, was wir nicht schon vorher wussten.»

«Nun, es wäre doch immerhin möglich, dass der Täter in oder bei Andover wohnt. Das würde die Frage: ‹Weshalb Andover?› beantworten. Ferner haben zwei Männer das Geschäft betreten. Sie waren beide zur fraglichen Zeit am Tatort und könnten also beide als Täter in Betracht kommen. Und vorläufig haben wir keinerlei Beweise dafür, dass nicht einer von ihnen tatsächlich der Mörder ist.»

«Vielleicht dieser riesige, brutale Kerl, dieser Riddell», stimmte ich ihm zu.

«Ach, ich habe Riddell bereits ausgeschieden. Er war so nervös, aufgebracht und offensichtlich verstört…»

«Ja, eben! Beweist das denn nicht…»

«Dass er dem Wesen nach grundverschieden ist von dem Menschen, der den ABC-Brief an mich schrieb! Wir müssen nach Selbstbeherrschung und kalter Überlegung Ausschau halten.»

«Nach jemand sehr Selbstbewusstem?»

«Gewiss, aber es gibt Menschen, die unter einem eher bescheidenen Gehaben eine gehörige Portion Eitelkeit und Machtwahn verbergen.»

«Sie glauben doch nicht vielleicht, dass der kleine Mr. Partridge…?»

«Er ist eher le type. Mehr kann man nicht sagen. Er benimmt sich genauso, wie sich der Schreiber des Briefes benehmen würde – geht sofort zur Polizei, stellt sich in den Vordergrund, genießt seine Wichtigkeit.»

«Dann glauben Sie also wirklich…?»

«Nein, Hastings, ich persönlich glaube, dass der Mörder nicht aus Andover stammt; aber wir dürfen keine Möglichkeit außer Acht lassen. Und außerdem sage ich dauernd ‹er›, während noch keineswegs erwiesen ist, dass nicht eine Frau im Spiel ist.»

«Das halte ich für ausgeschlossen!»

«Die Art des Angriffs entspricht eher einem männlichen Vorgehen, das gebe ich zu. Aber anonyme Briefe werden im Allgemeinen eher von Frauen geschrieben als von Männern. Das dürfen wir nicht vergessen.»

Ich schwieg lange Zeit. Dann fragte ich:

«Und was tun wir jetzt?»

«Mein tatendurstiger Hastings!» Poirot lächelte mir zu. «Nichts.»

«Nichts?» Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen.

«Bin ich ein Zauberer? Ein Hexenmeister? Was könnte ich denn jetzt tun?»

Bei näherer Überlegung fiel mir tatsächlich auch keine Antwort ein. Dennoch war ich überzeugt davon, dass irgendetwas geschehen sollte und dass wir nicht Gras über die Angelegenheit wachsen lassen durften.

«Da ist also der Fahrplan, das Briefpapier und der Briefumschlag…», überlegte ich laut.

«Mein Lieber, diese Dinge werden eingehend untersucht. Die Polizei hat alle Mittel zur Verfügung, um derartige Nachforschungen umfassend vorzunehmen. Wenn auf dieser Linie etwas entdeckt werden kann, dann bleibt es der Polizei nicht verborgen, darauf können Sie sich blind verlassen.»

Womit ich mich zufrieden geben musste.

In den folgenden Tagen war Poirot einer Diskussion des Falles merkwürdig abgeneigt. Sobald ich mit ihm darüber zu sprechen versuchte, schob er die Angelegenheit mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite.

Ich glaubte, den Grund für seine abweisende Haltung genau zu durchschauen. Im Mordfall Ascher hatte Poirot eine klare Niederlage erlitten. ABC hatte ihn herausgefordert, und – ABC hatte gewonnen.

Meinen Freund, der auf eine ganze Reihe großer Erfolge zurückblicken konnte, traf dieser Fehlschlag so sehr, dass er es nicht einmal ertrug, darüber zu sprechen.

In der Zeitung erschien ein kurzer Bericht über die offizielle Leichenschau. Er war kurz gehalten und erwähnte den ABC-Brief mit keinem Wort. Das Verbrechen wirbelte nicht viel Staub auf. Der Mord in Andover an einer alten Frau wurde bald über Aufsehen erregenderen Geschehnissen vergessen.

Um die Wahrheit zu sagen: Auch in meinem Gehirn verblassten die Ereignisse. Vor allem wahrscheinlich deshalb, weil es mir widerstrebte, Poirots Namen mit einem Misserfolg in Verbindung zu bringen. Aber am dreiundzwanzigsten Juli wurde ich jäh wieder an alles erinnert.

Ich hatte Poirot ein paar Tage lang nicht gesehen, weil er übers Wochenende in Yorkshire gewesen war. Am Montagnachmittag kam er zurück, und der Brief lag bei der Sechsuhr-Post. Ich erinnere mich an den scharfen, harten Atemzug, mit dem Poirot diesen besonderen Briefumschlag aufschnitt.

«Da ist er», sagte er leise.

Ich sah ihn verständnislos an. «Wer?»

«Der zweite Akt des ABC-Trauerspiels.»

Wirklich verblüfft starrte ich ihn an. Die Sache war mir tatsächlich vollkommen entfallen gewesen. «Lesen Siel» Poirot reichte mir den Brief. Wie das erste Mal war er auf schönem Papier geschrieben.


Lieber Mr. Poirot – nun, wie steht es?

Eins zu null für mich, nicht wahr? Die Sache in Andover hat tadellos geklappt1. Aber der Spaß beginnt ja erst. Darf ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf Bexhill-on-Sea lenken?

Datum: der 25. dieses Monats.

Was haben wir doch für lustige Zeiten1.

Ihr ABC


«Großer Gott, Poirot!», rief ich. «Heißt das, dass dieser Bösewicht einen zweiten Mord plant?»

«Klar, Hastings! Was haben Sie denn erwartet? Glaubten Sie, die Andover-Sache stelle einen Einzelfall dar? Wissen Sie nicht mehr, dass ich sagte: ‹Das ist der Anfang›?»

«Aber das ist ja entsetzlich!»

«Gewiss, es ist entsetzlich.»

«Dann haben wir es ja mit einem mordlüsternen Wahnsinnigen zu tun!»

«Jawohl, Hastings.»

Seine Ruhe war eindrucksvoller, als geballte Nervosität und große Worte es hätten sein können. Ich gab ihm den Brief mit einem Schauder zurück.

Am nächsten Morgen hielten wir großen Kriegsrat ab. Der Polizeichef der Grafschaft Sussex, ein Commissioner der C. J. D. der Londoner Kriminalpolizei, Inspektor Glen aus Andover, Superintendent Carter von der Polizei Sussex, Japp und ein jüngerer Inspektor namens Crome und schließlich Dr. Thompson, der berühmte Psychiater, saßen beisammen.

Der Poststempel auf dem zweiten Brief lautete dieses Mal Hampstead; aber nach Poirots Ansicht war dem so gut wie keine Bedeutung beizumessen.

Der Fall wurde gründlich besprochen. Dr. Thompson war ein netter Mensch in mittleren Jahren und äußerte sich, trotz seiner eminenten Gelehrsamkeit, in allgemein verständlichen Worten und vermied Fachausdrücke.

«Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass die beiden Briefe von ein und derselben Person geschrieben wurden», sagte der Commissioner.

«Richtig. Und aus diesem Grund dürfen wir einigermaßen als sicher voraussetzen, dass diese Person für den Mord in Andover verantwortlich ist.»

«Gewiss. Jetzt haben wir einen definitiven Hinweis bekommen, dass ein zweites Verbrechen am Fünfundzwanzigsten – also morgen – in Bexhill geplant ist. Welche Schritte können wir unternehmen?»

Der Polizeichef von Sussex sah seinen Untergebenen an.

«Nun, Carter, was haben Sie dazu zu sagen?»

Der Inspektor sah sorgenvoll vor sich hin.

«Das ist sehr schwierig, Sir. Wir haben nicht den leisesten Anhaltspunkt, gegen wen sich der neue Anschlag richten soll. Ich weiß also keine Antwort auf diese Frage.»

«Ich hätte einen Vorschlag», murmelte Poirot.

Aller Augen richteten sich auf ihn.

«Ich halte es für möglich, dass der Zuname des Opfers mit dem Buchstaben B beginnen könnte.»

«Das wäre wenigstens ein Anhaltspunkt», sagte der Inspektor, aber es klang nicht sehr überzeugt.

«Ein alphabetischer Komplex?» Auch Dr. Thompson schien zu zweifeln.

«Ich sage, dass dies eine Möglichkeit wäre – mehr nicht. Dieser Einfall kam mir, als ich den Namen Ascher groß und deutlich über dem Laden stehen sah, in dem die unglückliche Frau letzten Monat ermordet worden ist. Da der zweite Brief Bexhill erwähnt, dämmerte in mir die Idee auf, dass sowohl Ort wie Name des Opfers nach alphabetischen Gesichtspunkten gewählt sein könnten.»

«Das wäre möglich», sagte der Arzt. «Andererseits könnte der Name Ascher ein purer Zufall gewesen sein, und es bliebe abzuwarten, ob sich der neue Anschlag nicht wieder gegen eine alte Frau, die einen kleinen Laden führt, richtet, egal, wie sie heißt. Wir haben es, das bitte ich nicht zu vergessen, mit einem Verrückten zu tun, dessen Motive uns bis jetzt noch vollkommen schleierhaft sind.»

«Hat ein Verrückter Motive?», fragte der Inspektor skeptisch.

«Natürlich hat er die, Mann! Eine kristallklare, tödliche Logik ist ein Hauptmerkmal akut auftretenden Wahnsinns. In diesem Zustand kann sich ein Mensch einbilden, er sei von Gott dazu ausersehen worden, Pfarrer zu töten – oder Ärzte – oder alte Frauen, die irgendwelche Kramläden führen –, und hinter dieser Einbildung steht immer ein vollkommen logisch herleitbarer Grund. Deshalb dürfen wir uns nicht zu sehr von dem Alphabetkomplex beeinflussen lassen. Dass Bexhill auf Andover folgt, kann völlig zufällig sein.»

«Aber wir können jedenfalls gewisse Sicherheitsvorkehrungen treffen, Carter, und die Einwohner, deren Namen mit B beginnt, notieren. Ferner soll man kleine Ladenbesitzer, vor allem Tabakläden, die von einer einzelnen Person geführt werden, im Auge behalten. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Ortsfremde müssen wir selbstverständlich besonders gut im Auge behalten.» Der Inspektor stieß einen stöhnenden Seufzer aus.

«Ausgerechnet bei Ferienbeginn! Diese Woche wird der Ort von Fremden förmlich überschwemmt sein.»

«Wir müssen unser Bestes tun», sagte der Polizeichef scharf.

«Inzwischen werde ich alle in den Fall Ascher Verwickelten beobachten lassen», mischte sich Inspektor Glen hier ein. «Also die beiden Zeugen Partridge und Riddell und natürlich Ascher selber. Wenn einer von ihnen Anstalten machen sollte, Andover zu verlassen, wird er verfolgt werden.»

Nach ein paar weiteren Vorschlägen ging die Versammlung auseinander.

«Poirot, ein zweites Verbrechen kann ganz bestimmt verhindert werden, meinen Sie nicht?», fragte ich, als wir am Fluss entlanggingen.

Er wandte mir ein müdes, ernstes Gesicht zu.

«Die Vernunft einer ganzen Stadt gegen die Unvernunft eines Einzigen? Ich sehe schwarz, Hastings, sehr schwarz. Erinnern Sie sich an die fortgesetzten Erfolge von Jack die Ripper?»

«Scheußlich», murmelte ich.

«Wahnsinn, Hastings, ist grauenvoll… Und ich fürchte, ich fürchte…»

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