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Während der folgenden Tage war Poirot ungemein beschäftigt. Er verschwand des Öfteren sehr geheimnisvoll, redete wenig, ging mit gerunzelter Stirn umher und weigerte sich hartnäckig, mir endlich zu enthüllen, worin meine überwältigende Klarsicht eigentlich bestanden hatte, die ihm so nützlich gewesen war.

Er lud mich auch nicht ein, ihn auf seinen mysteriösen Gängen zu begleiten – eine Tatsache, die mich empfindlich traf.

Gegen Ende der Woche allerdings kündigte er einen Ausflug nach Bexhill an, zu dem er mich einlud. Unnötig zu erwähnen, dass ich begeistert zusagte.

Diese Einladung war übrigens nicht an mich allein ergangen, wie ich bald bemerkte. Die übrigen Angehörigen unserer Spezialgruppe waren auch mit von der Partie.

Poirots Benehmen gab ihnen ebenfalls zu denken. Immerhin glaubte ich am Ende des Tages begreifen zu können, was Poirot mit diesem Ausflug beabsichtigte.

Zuerst suchte er Mr. und Mrs. Barnard auf und ließ sich von ihnen haarklein erzählen, wann Mr. Cust bei ihnen vorgesprochen und was er dabei gesagt hatte. Dann ging er in das Hotel, in dem Cust abgestiegen war, und erfragte die genauen Umstände, unter denen der Herr von dort fortgegangen war. Meiner Ansicht nach kam dabei zwar gar nichts Neues zu Tage, aber Poirot schien von all den Auskünften sehr befriedigt zu sein.

Als nächstes führte er uns zu der Stelle, wo man die Leiche Betty Barnards gefunden hatte. Dort lief er minutenlang stumm im Kreise auf den flachen Steinen herum. Darin konnte ich nun beim besten Willen keinen Sinn erblicken, weil die Flut den Strand hier zweimal am Tag überspült.

Andererseits hatte ich im Laufe der Zeit gelernt, dass Poirots Handlungen immer von einer Idee bestimmt wurden, wie sinnlos sie einem auch manchmal vorkommen mochten.

Von dort schritt er zielstrebig auf den Punkt zu, wo ein Auto möglichst nahe dem Tatort hätte geparkt werden können. Und von dort aus ging er zur Bushaltestelle, wo die Wagen Eastbourne-Bexhill abfuhren.

Schließlich führte er uns ins «Ginger Cat Café», wo wir einen etwas faden Tee tranken, den uns die dickliche Milly Higley servierte. Ihr machte Poirot in betont gallischer Art Komplimente über die Form ihrer Knöchel.

«Die Beine der Engländerinnen – sie sind immer viel zu dünn! Aber Sie, Mademoiselle, Sie haben vollendet schöne Beine. Wohlgeformte Beine – Beine mit einem Knöchel!»

Milly Higley kicherte und bat ihn, nicht so mit ihr zu sprechen. Sie wisse schon, wie die französischen Herren es meinten.

Poirot unterzog sich nicht der Mühe, sie über seine Nationalität aufzuklären. Aber er flirtete in einer Art und Weise mit der plumpen Kellnerin, die mich beinahe abstieß.

«Voilà», stellte er später fest, «jetzt bin ich in Bexhill fertig. Noch ein kleiner Abstecher und eine dito Nachforschung in Eastbourne, dann ist der Fall für mich abgeschlossen. Aber es ist nicht nötig, dass ihr mich alle dorthin begleitet. Erstmal wollen wir ins Hotel zurückgehen und einen Cocktail trinken. Der Tee war grauenhaft!»

Während wir unsere Cocktails tranken, fragte Clarke neugierig: «Ich glaube, wir merken, worauf Sie aus sind! Sie wollen dieses Alibi widerlegen, nicht wahr? Aber dann verstehe ich nicht, weshalb Sie so guter Laune sind. Sie haben gar nichts Neues erfahren.»

«Nein, das stimmt.»

«Also?»

«Geduld. Alles ordnet sich mit der Zeit von selbst.»

«Und doch sind Sie befriedigt vom Ergebnis Ihrer heutigen Nachforschungen?»

«Ja, weil bis jetzt nichts meinen Verdacht widerlegt hat.»

Er wurde unvermittelt ernst.

«Mein Freund Hastings hat mir einmal erzählt, dass er in seiner Jugend ein Spiel gespielt hat, das ‹Die Wahrheit› hieß. Bei diesem Spiel wurden allen Anwesenden reihum drei Fragen gestellt, von denen zwei unbedingt wahrheitsgemäß beantwortet werden mussten. Gegen die dritte konnte man Einspruch erheben. Natürlich stellte man dabei Fragen indiskretester Art! Aber zu Beginn des Spiels musste jeder Teilnehmer schwören, die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit zu sagen.»

«Ja, und?», fragte Megan, als mein Freund schwieg.

«Eh bien – ich möchte dieses Spiel mit Ihnen spielen. Mit dem Unterschied, dass ich keine drei Fragen benötige. Eine genügt mir. Eine Frage an jeden von Ihnen.»

«Wir werden alles beantworten», rief Clarke ungeduldig.

«Oh, ich möchte die Sache ernsthaft aufgefasst wissen: Schwören alle, die Wahrheit zu sagen?»

Er stellte diese Forderung so eindringlich, dass die anderen, verblüfft, ebenfalls ernst wurden und feierlich schworen, nur und ausschließlich die Wahrheit zu sagen.

«Bon», sagte Poirot barsch, «dann beginnen wir!»

«Ich bin bereit», bot Thora Grey sich als erste an.

«Damen haben sonst zwar immer den Vortritt, aber diesmal gilt diese Regel nicht.» Er wandte sich Franklin Clarke zu.

«Mon cher Monsieur Clarke, welchen Eindruck hatten Sie von den Hüten der Damen auf dem diesjährigen Rennen in Ascot?»

Clarke fielen fast die Augen aus dem Kopf. «Soll das ein Witz sein?»

«Ganz gewiss nicht.»

«Ist das also ernstlich Ihre Frage an mich?»

«Jawohl.»

Clarke begann zu lachen.

«Nun, Monsieur Poirot, ich war zwar nicht in Ascot, aber was ich so an mir vorüberfahren sah auf dem Wege dorthin, lässt mich vermuten, dass die Damenhüte für das Rennen noch größer waren als jene, die so tagtäglich getragen werden.»

«Also übertrieben?»

«Ziemlich übertrieben, ja.»

Poirot lächelte und sah Donald Fraser an.

«Wann hatten Sie dieses Jahr Ferien, Mr. Fraser?»

«Ferien?» Nun war die Reihe zu staunen an Donald.

«Die beiden ersten Wochen im August.»

Plötzlich begann sein Gesicht zu zucken. Wahrscheinlich verband sich für ihn der Gedanke an seine Ferien mit Erinnerung an das Mädchen, das er geliebt hatte.

Poirot schien seiner Antwort kaum Beachtung zu schenken. Er hatte sich etwas vorgebeugt und sah Thora Grey fest in die Augen. Seine Stimme hatte sich verändert: Sie war härter geworden, und er stellte seine Frage klar und scharf.

«Mademoiselle, hätten Sie im Falle von Lady Clarkes Tod Sir Carmichael geheiratet, wenn er Sie darum gebeten hätte?»

Das Mädchen sprang auf.

«Wie dürfen Sie es wagen, mich das zu fragen? Ihre Frage ist – ist beleidigend!»

«Vielleicht. Aber Sie haben geschworen, die Wahrheit zu sagen. Eh bien – ja oder nein?»

«Sir Carmichael war immer sehr gut zu mir. Er behandelte mich fast wie eine Tochter. Und genauso waren meine Gefühle für ihn – liebevoll und dankbar…»

«Verzeihen Sie, aber das ist keine Antwort auf meine Frage. Ja oder nein, Mademoiselle?»

Sie zögerte. «Die Antwort lautet selbstverständlich nein.»

Er dankte Thora Grey und wandte sich an Megan. Das Gesicht des Mädchens war sehr blass. Sie atmete schwer, als erwarte sie ein Gottesurteil.

Poirots Frage kam hart und schneidend wie ein Peitschenhieb. «Mademoiselle, auf welches Ergebnis meiner Nachforschungen hoffen Sie? Wünschen Sie, dass ich die Wahrheit ergründe oder nicht?»

Sie warf stolz den Kopf zurück. Ich war sicher, ihre Antwort zu wissen, denn Megan war von einer fast fanatischen Wahrheitsliebe.

«Nein!»

So unerwartet kam das, dass wir alle beinahe von unseren Sitzen aufsprangen. Poirot sah Megan groß an.

«Mademoiselle, Sie mögen vielleicht die Wahrheit nicht erfahren wollen – aber Sie wissen sie jedenfalls zu sprechen.»

Er ging zur Tür, erinnerte sich dort erst Mary Drowers und kam langsam zurück.

«Sagen Sie mir, liebes Kind, haben Sie einen Freund?»

Mary, die ihm erwartungsvoll entgegengesehen hatte, errötete verwirrt.

«Ach, Mr. Poirot! Ich – ich bin mir nicht sicher.»

«Alors c’est bien, mon enfant!» lächelte er.

«Kommen Sie jetzt, Hastings», befahl er dann. «Wir müssen nach Eastbourne.»

Der Wagen wartete schon vor dem Haus, und bald fuhren wir die Küste entlang – über Pevensey nach Eastbourne.

«Hat es einen Sinn, Sie jetzt etwas zu fragen, Poirot?»

«Im Augenblick nicht. Machen Sie sich ruhig einmal Ihren eigenen Reim auf alles, was ich tue und sage!»

Also schwieg ich wieder. In Pevensey schlug Poirot vor, auszusteigen und das Schloss zu besichtigen.

Als wir zum Wagen zurückkamen, betrachtete er eine Gruppe Kinder, die unweit einen Ringelreihen aufführten und misstönend und schrill dazu sangen.

«Was singen sie, Hastings? Ich kann die Worte nicht verstehen.» Ich horchte aufmerksam, bis ich den Refrain verstand.


Fang einen Fuchs

Und sperr ihn ein

Und lass ihn nie mehr frei!


Poirot wiederholte diese Worte. Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst geworden.

«Das ist schrecklich, Hastings.» Er schien etwas zu überlegen.

«Ihr jagt hier den Fuchs?»

«Ich nicht. Ich habe mir nie eine Jagd leisten können. Und überhaupt wird in dieser Gegend nicht viel gejagt.»

«Ich meine in England im Allgemeinen. Ein seltsamer Sport. An einem bestimmten Ort zu warten, bis das Halali ertönt – heißt es nicht so? – und dann beginnt die Hatz, über Hecken und Gräben, quer durch das Land – und der Fuchs rennt, rennt – schlägt manchmal Haken – aber die Hunde sind ihm auf der Spur und fangen ihn schließlich doch, und er stirbt – schnell und scheußlich!»

«Das klingt freilich grausam, aber in Wirklichkeit…»

«Freut sich der Fuchs darüber? Sagen Sie jetzt bloß keine Dummheiten, Hastings! – Tout de même, dieser schnelle, furchtbare Tod ist aber noch besser als das, was die Kinder gesungen haben… Eingesperrt zu sein – für immer eingesperrt… Nein, das ist viel ärger!»

Er schüttelte den Kopf. Dann erklärte er, wieder gefasster: «Morgen werde ich diesen Cust besuchen.» Und dem Chauffeur rief er zu: «Zurück nach London!»

«Fahren wir nicht nach Eastbourne?», rief ich erstaunt.

«Wozu? Ich weiß genug – für meine Zwecke.»

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