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Ich war bei der Unterredung zwischen Poirot und dem seltsamen Mr. Cust nicht zugegen. Aufgrund seiner Beziehungen zur Polizei und der verworrenen Umstände dieses Falles hatte Poirot wohl sofort eine Vollmacht des Ministeriums des Inneren für einen Besuch bei dem Häftling bekommen, aber diese Bewilligung erstreckte sich nicht auf meine Person. Außerdem war Poirot selber dafür, dass diese Unterredung streng vertraulich und nur unter vier Augen stattfinden sollte.

Aber Poirot hat mir nach seinem Besuch einen so eingehenden Bericht über den Verlauf des Gesprächs mit Cust gegeben, dass ich ihn hier niederschreiben kann, als wäre ich persönlich dabei gewesen.

Mr. Cust schien kleiner geworden zu sein. Mehr denn je fiel seine gebückte Haltung auf. Er nestelte unruhig an den Knöpfen seiner Jacke herum.

Poirot schwieg lange Zeit. Er saß nur da und sah sein Gegenüber aufmerksam an. Dadurch entstand eine fast ruhige, gelöste Atmosphäre – eine besänftigende Stille… Dieses Zusammentreffen der beiden Gegner in der Tragödie muss ein dramatischer Augenblick gewesen sein. An Poirots Stelle hätte ich meine Erregung nicht zu unterdrücken vermocht. Aber Poirot ist ein gelassener, nüchterner Mensch. Er wusste genau, was er mit dieser ruhigen Zurückhaltung bezweckte.

Endlich fragte er den Mann liebenswürdig: «Wissen Sie, wer ich bin?»

Der andere schüttelte den Kopf.

«Nein – nein, leider nicht. Vielleicht wurden Sie von Mr. Maynard hergeschickt?»

(Maynard und Cole waren seine offiziellen Verteidiger.)

Mr. Cust sprach in höflichem, wenn auch keineswegs sehr interessiertem Ton. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

«Ich bin Hercule Poirot.»

Das sagte mein Freund ganz beiläufig, beobachtete aber den Effekt, den seine Worte machten, sehr scharf.

Mr. Cust hob den Kopf.

«Ach, wirklich?»

Das äußerte er genauso, wie Inspektor Crome es betont haben könnte, nur ohne dessen Herablassung.

Dann, wenigstens eine Minute später, wiederholte er die beiden Worte. «Ach? Wirklich?» Nur war diesmal eine wache Gespanntheit in seiner Stimme. Er sah Poirot groß an. Hercule Poirot begegnete seinem Blick und nickte dann zweimal.

«Jawohl, ich bin der Mann, dem Sie die Briefe geschrieben haben.»

Das riss nun alle Schranken mit einem Schlag nieder.

Mr. Cust begann plötzlich schnell und fieberhaft zu sprechen.

«Ich habe Ihnen nie geschrieben. Diese Briefe wurden nicht von mir geschrieben. Das habe ich doch wieder und wieder ausgesagt!»

«Ich weiß. Aber wenn Sie sie nicht geschrieben haben, wer hat es dann getan?»

«Ein Feind. Ich muss einen Feind haben. Alle sind gegen mich. Die Polizei – alle – gegen mich. Das Ganze ist eine riesige Verschwörung!»

Poirot antwortete nichts darauf.

«Immer – immer waren alle Leute gegen mich!»

«Schon als Sie noch ein Kind waren?»

Darüber dachte Mr. Cust sekundenlang nach.

«Nein – nein, damals eigentlich nicht. Meine Mutter hat mich sehr gern gehabt. Aber sie war ehrgeizig, schrecklich ehrgeizig. Darum gab sie mir auch diese lächerlichen Namen. Sie bildete sich ein, ich werde einst eine Rolle in der Welt spielen. Immer drängte sie mich, ich solle mich hervortun, mich behaupten, und dann redete sie mir ein, dass jeder sein Schicksal selber meistern könnte… dass ich alles erreichen könnte, was ich will!»

Erschöpft schwieg er eine Weile.

«Aber sie hatte unrecht. Das habe ich selber sehr rasch herausbekommen. Ich war nicht der Mensch, der es weit bringt im Leben. Immer habe ich Dummheiten gemacht, immer war ich eine lächerliche Figur. Und schüchtern war ich, schüchtern und menschenscheu. In der Schule hatte ich es schwer. Die anderen neckten mich wegen meiner Vornamen… Ich habe immer versagt in der Schule, beim Turnen, bei der Arbeit – überall.»

Er schüttelte den Kopf.

«Es ist ein Glück, dass meine arme Mutter starb… Sie wäre so enttäuscht gewesen… Sogar in der Handelsschule war ich schwach. Ich habe doppelt so lange gebraucht wie alle anderen, um Stenografie und Maschinenschreiben zu erlernen. Und dabei, wissen Sie, kam ich mir gar nicht dümmer vor, als die anderen es waren – wenn Sie mich verstehen.»

Er warf Poirot einen flehentlichen Blick zu.

«Ich verstehe Sie sehr gut. Bitte, sprechen Sie weiter.»

«Es war mehr das Gefühl, dass alle anderen mich für blöd hielten, das mich bedrückte und lähmte. Im Büro später war es ganz genauso.»

«Und dann – im Krieg?», fragte Poirot.

Mr. Custs Gesicht hellte sich auf.

«Ich war gern im Krieg, wissen Sie. Soviel ich davon erlebte, heißt das. Da war ich zum ersten Mal ein Mann wie jeder andere. Wir steckten alle im gleichen Schlamassel. Und ich galt ebenso viel wie jeder andere Soldat.»

Sein Lächeln erlosch. «Und dann wurde ich verwundet. Nicht schwer. Aber nachher fanden sie heraus, dass ich Anfälle bekam… Ich hatte natürlich schon lange bemerkt, dass es Zeiten gab, wo ich überhaupt nicht wusste, was ich tat… Absenzen, wissen Sie. Und ein- oder zweimal bin ich auch umgefallen. Aber ich glaube, dass sie mich bloß deswegen nicht hätten beurlauben dürfen. Nein, das war ganz bestimmt nicht recht.»

«Und was geschah dann?»

«Ich fand eine Stelle als Beamter. Natürlich war damals das Stellenangebot groß. Es ging mir gar nicht so schlecht nach dem Krieg, obwohl ich kein großes Gehalt hatte… Aber ich kam einfach nicht an. Bei Beförderungen wurde ich dauernd übergangen, weil ich nicht tüchtig genug war. Es wurde alles immer schwieriger – wirklich sehr schwierig… Vor allem, als dann der Kurssturz kam. Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals kaum noch genug zu essen. (Als Beamter muss man auf sein Äußeres achten.) Und da bekam ich das Angebot, mit Strümpfen zu reisen. Fester Lohn und Prozente von den getätigten Verkäufen.»

«Aber die Firma, bei der Sie behaupten angestellt gewesen zu sein, verneint diese Tatsache.»

Mr. Cust wurde wieder aufgeregt.

«Eben, das ist ja gerade das Komplott gegen mich! Sie müssen auch hineinverwickelt sein!» Er fuchtelte mit den Händen. «Ich habe doch Beweise – schriftliche Beweise! Die Briefe, die man mir schrieb, die Instruktionen, wohin und zu wem ich gehen sollte…»

«Alles maschinengeschrieben…!»

«Das ist doch einerlei. Natürlich schreibt man in großen Firmen heutzutage alles mit der Maschine und nicht mit der Hand!»

«Wissen Sie, Mr. Cust, dass man genau feststellen kann, mit welcher Maschine ein Brief geschrieben wurde? Alle diese Briefe wurden auf ein und derselben Maschine geschrieben.»

«Ja, und?»

«Und diese Maschine war Ihre eigene, Mr. Cust – jene, die in Ihrem Zimmer gefunden wurde.»

«Diese Maschine wurde mir ebenfalls von der Firma geschickt gleich zu Beginn meiner Anstellung.»

«Gut, aber diese Briefe erhielten Sie erst später. Also sieht es eben so aus, als hätten Sie sich diese Briefe selber geschrieben und per Post zugeschickt.»

«Nein! Nein, das ist nicht wahr!» Und vehement fügte er bei: «Außerdem können die Briefe doch auf der gleichen Maschinenmarke geschrieben worden sein!»

«Stimmt, aber nicht auf der einen ganz bestimmten Maschine.»

«Es ist eine Verschwörung gegen mich!», beharrte Mr. Cust verbissen.

«Und die Fahrpläne, die man auf dem Gestell fand?»

«Ich wusste nichts von ihnen. Ich glaubte, es seien Strümpfe.»

«Warum machten Sie neben den Namen Ascher ein Kreuz in der Liste von Andover?»

«Weil ich beschlossen hatte, dort anzufangen. Irgendwo muss man ja beginnen, nicht wahr?»

«Gewiss, das stimmt. Irgendwo muss man beginnen!»

«So habe ich es nicht gemeint!», fuhr Mr. Cust auf. «Ich meine nicht dasselbe wie Sie!»

«Aber Sie wissen, wie ich es meine?»

Mr. Cust antwortete nicht. Er zitterte.

«Ich habe es nicht getan! Ich bin vollkommen unschuldig! Es ist alles ein großer Irrtum. Sehen Sie zum Beispiel: Während das zweite Verbrechen begangen wurde, das in Bexhill, da spielte ich in Eastbourne Domino. Das ist doch erwiesen!»

«Ja», erwiderte Poirot nachdenklich, und seine Stimme klang weich und seidig. «Aber, nicht wahr, man könnte sich doch so leicht um einen Tag vertun? Und wenn man dann ein rechthaberischer Mann ist wie Mr. Strange, dann leugnet man einfach die bloße Möglichkeit, dass man sich geirrt haben könnte. Dann hält man stur an seiner Aussage fest… So ist dieser Mr. Strange. Und die Gästeliste des Hotels – nun, auch da kann man sich mit Leichtigkeit unter dem falschen Datum einschreiben, denn das würde vermutlich keinem Menschen weiter auffallen.»

«Ich habe an jenem Abend Domino gespielt.»

«Sie spielen gut Domino, nicht wahr?»

Das brachte Mr. Cust ein wenig aus der Fassung. «Ich… ja, ich glaube schon.»

«Ein sehr anspruchsvolles Spiel. Man muss sehr aufmerksam und schlau sein dabei, nicht?»

«Oh, es ist vor allen Dingen ein Spiel – ein unterhaltsames Spiel! Wir haben es viel während unserer Lunchpausen gespielt. Sie würden sich wundern, wie eine Partie Domino die verschiedensten Menschen zusammenbringen kann.» Er lachte halblaut. «Ich erinnere mich an einen Mann… Ich habe ihn nie vergessen, weil er mir etwas sagte, etwas Merkwürdiges… Wir saßen beide bei einer Tasse Kaffee, und plötzlich spielten wir Domino. Also, ich schwöre Ihnen, nach zwanzig Minuten hatte ich das Gefühl, den Menschen jahrelang zu kennen.»

«Und was sagte er Ihnen?»

Mr. Custs Gesicht verdunkelte sich.

«Ich bin erschrocken – sehr erschrocken sogar. Er redete davon, dass man sein Schicksal in den Handlinien aufgezeichnet mit sich herumtrage. Und dann zeigte er mir seine Handfläche und die Linien, die darauf hinwiesen, dass er zweimal ganz knapp dem Tod durch Ertrinken entgehen werde – tatsächlich wurde er zweimal im letzten Augenblick gerettet. Und dann sah er sich meine Hände an und sagte mir ein paar ganz erstaunliche Sachen. Ich werde der berühmteste Mann von ganz England sein, ehe ich sterbe. Das ganze Land werde von mir sprechen, sagte er. Aber… aber…»

Mr. Cust brach ab – wich aus…

«Ja?» Poirots Blick wirkte hypnotisch. Mr. Cust sah ihm in die Augen, floh diesen starken, ruhigen Blick, und musste doch nach Sekunden wie gebannt zu ihm zurückkehren.

«Er sagte… er sagte, dass es ganz so aussehe, als ob ich eines gewaltsamen Todes sterben werde, und dann lachte er und behauptete, er habe das Gefühl, dass ich auf dem Schafott enden werde. Und dann lachte er noch mehr und sagte, er habe natürlich nur einen Spaß gemacht…»

Er verstummte plötzlich. Seine Blicke wanderten unruhig hin und her.

«Mein Kopf… Ich leide oft an Kopfschmerzen… grauenvollen Kopfschmerzen… Und dann gibt es Zeiten, wo ich nicht weiß… wo ich nicht weiß…» Er schwieg wieder.

Poirot beugte sich vor. Er sprach sehr ruhig, aber mit großer Überzeugungskraft.

«Immerhin wissen Sie ganz genau, dass Sie die Morde begangen haben, nicht wahr?»

Mr. Cust sah auf. Jetzt war sein Blick ganz einfach und klar. Jeder Widerstand schien in ihm zusammengebrochen zu sein. Er sah seltsam friedvoll aus.

«Ja», antwortete er, «das weiß ich.»

«Aber – darin irre ich mich nicht, oder doch? – Sie wissen nicht, warum Sie sie begangen haben?»

Mr. Cust schüttelte den Kopf.

«Nein, das weiß ich nicht.»

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