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Ich glaube, mit dieser ersten Erwähnung eines ABC-Fahrplanes erwachte überhaupt erst mein Interesse für diesen Fall. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht viel Begeisterung für die Sache aufbringen können. Die gemeine Ermordung einer alten Frau in ihrem kleinen Laden entsprach so sehr den täglichen Meldungen der Zeitungen, dass mich das Ganze wirklich nicht zu fesseln vermochte. Ich hatte auch bereits den anonymen Brief samt dem Datum vom Einundzwanzigsten als reinen Zufall abgetan. Für mich stand fest, dass Mrs. Ascher von ihrem betrunkenen, brutalen Mann erschlagen worden war. Aber nun hatte die Erwähnung eines ABC-Fahrplans (so genannt und allgemein bekannt, weil er die Stationen in alphabetischer Reihenfolge aufführte) mich wie ein elektrischer Schlag durchzuckt. Bestimmt – ganz bestimmt konnte das nicht schon wieder ein Zufall sein!

Das dumpfe Alltagsverbrechen bekam ein neues Gesicht. Wer war der geheimnisvolle Unbekannte, der Mrs. Ascher ermordet und einen ABC-Fahrplan am Tatort liegen lassen hatte?

Als wir den Polizeiposten verlassen hatten, galt unser erster Besuch der Leichenhalle, um die alte Frau zu sehen. Ein eigentümliches Gefühl erfasste mich, als ich auf das runzelige Gesicht und die straff zurückgekämmten schütteren Haare niederblickte. Es sah so friedlich aus, aller Grausamkeit so weit entrückt.

«Hatte keine Ahnung, wer und was sie von hinten erschlug», bemerkte der Sergeant. «Das sagt auch Dr. Kerr. Ich bin froh, dass es so war. Die Arme! War eine anständige Frau, das war sie.»

«Sie muss einmal sehr schön gewesen sein», murmelte Poirot.

«Glauben Sie?», fragte ich verwundert.

«Aber ja! Sehen Sie sich doch nur die Wangenlinie an, die Stirnknochen, die Kopfform.»

Er seufzte, als er das Tuch wieder über den Leichnam breitete, und wir verließen den makabren Ort.

Unser nächster Besuch galt dem Polizeiarzt. Dr. Kerr war ein tüchtiger Mann in mittleren Jahren. Er sprach ein wenig abgehackt, aber sehr klar.

«Die Waffe wurde nicht gefunden», berichtete er uns. «Unmöglich zu sagen, was es gewesen sein könnte. Ein schwerer Stock, eine Keule, eine Art Sandsack – lauter Eventualitäten in diesem Fall.»

«Hat der Schlag viel Kraft erfordert?»

Der Arzt warf Poirot einen aufmerksamen Blick zu.

«Sie meinen, ob ein zittriger alter Mann von siebzig Jahren ihn hätte ausführen können, nicht wahr? Gewiss, das wäre durchaus möglich. Vorausgesetzt, dass das Kopfende der Waffe schwer genug war, konnte ein körperlich sogar recht schwacher Mensch das erhoffte Resultat erzielen.»

«Also könnte der Mörder ebenso gut eine Frau wie ein Mann gewesen sein?»

Diese logische Folgerung schien den Arzt zu verwirren.

«Eine Frau? Nun, ich muss gestehen, dass mir noch nie der Gedanke kam, eine Frau mit einem Verbrechen dieser Art in Verbindung zu bringen. Aber es ist natürlich möglich – sehr gut sogar. Trotzdem möchte ich vom rein psychologischen Standpunkt aus behaupten, dass dieser Mord nicht von einer Frau begangen worden ist.»

Poirot nickte heftig Zustimmung.

«Richtig, sehr richtig! Das scheint wirklich äußerst unwahrscheinlich zu sein. Aber man muss eben alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wie wurde der Leichnam gefunden, ich meine, wie lag er da?»

Der Arzt gab uns eine genaue Schilderung von der Position des Opfers. Er war der Ansicht, dass die alte Frau mit dem Rücken zum Ladentisch stand (und also auch zu ihrem Angreifer), als der Schlag erfolgte. Daraufhin war sie hinter dem Ladentisch zusammengesunken, so dass sie für jeden neu Eintretenden unsichtbar wurde.

Als wir uns bei dem Arzt bedankt und uns verabschiedet hatten, sagte Poirot:

«Bemerken Sie, Hastings, dass wir schon wieder einen Beweis für Aschers Unschuld haben? Wenn er gekommen wäre und seine Frau angeschrien und bedroht hätte, dann wäre sie ihm doch wohl hinter dem Ladentisch Auge in Auge gegenübergestanden. So aber hatte sie dem Mörder den Rücken zugewandt – ganz bestimmt, um ein Päckchen Zigaretten vom Gestell zu nehmen und einem Kunden auszuhändigen.»

Mich überlief es kalt.

«Ziemlich grausig», murmelte ich.

Poirot nickte.

«Pauvre femme.»

Dann sah er auf die Uhr.

«Overton ist nicht weit von hier, glaube ich. Wollen wir hinfahren und uns mit dieser Nichte unterhalten?»

«Sollten Sie sich nicht zuerst den kleinen Laden anschauen, wo das Verbrechen stattgefunden hat?»

«Das möchte ich lieber erst danach tun.»

Weitere Erklärungen schien er nicht abgeben zu wollen, und wenige Minuten später fuhren wir bereits Richtung Overton.

Die Adresse, die der Inspektor uns aufgeschrieben hatte, führte zu einem großen, schönen Haus, das ungefähr eine Meile außerhalb des Dorfes lag.

Auf unser Läuten hin erschien ein hübsches dunkelhaariges Mädchen, dessen Augen rot verweint waren.

«Ach!» Poirot war die rücksichtsvolle Liebenswürdigkeit in Person. «Wenn ich nicht irre, dann sind Sie Miss Mary Drewer, Stubenmädchen in dieser Villa?»

«Ja, Sir, das stimmt. Ich bin Mary.»

«Dürfte ich wohl ein paar Minuten mit Ihnen sprechen, wenn Ihre Herrin nichts dagegen hat. Es handelt sich um Ihre Tante, Mrs. Ascher.»

«Die Dame ist ausgegangen, Sir. Sie hätte bestimmt nichts dagegen, wenn Sie eintreten würden.»

Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Besuchszimmer. Wir traten ein, Poirot setzte sich in einen Lehnstuhl beim Fenster und betrachtete das Mädchen sehr aufmerksam.

«Sie haben gewiss schon vom Tod Ihrer Tante gehört», sagte er freundlich.

Das Mädchen nickte, und wieder stiegen ihm Tränen in die Augen.

«Heute früh, Sir. Die Polizei kam heraus. Es ist schrecklich! Arme Tante! So ein hartes Leben hatte sie – und jetzt das! Es ist zu grässlich!»

«Hat die Polizei Sie nicht aufgefordert, mit ihr nach Andover zu kommen?»

«Man hat mir gesagt, dass ich am Montag zur Leichenschau kommen müsse. Aber ich kann mich wirklich nirgends mehr aufhalten dort – schon gar nicht in der Wohnung über dem Geschäft –, und dann ist das Hausmädchen auch gerade nicht hier. Ich wollte der Herrin nicht mehr Ungelegenheiten bereiten.»

«Sie haben Ihre Tante sehr gern gehabt, Miss Drower?»

«Ja, Sir, sehr gern. Tante war immer gut zu mir. Sie hat mich aufgenommen, als ich mit elf Jahren nach London kam, nach dem Tod meiner Mutter. Mit sechzehn ging ich dann auch in Stellung, aber meine freien Tage habe ich fast immer bei Tante verbracht. Und was sie mit dem Deutschen alles durchmachen musste! ‹Der alte Teufel›, nannte sie ihn manchmal. Nirgends konnte er sie in Ruhe lassen. Der elende Schmarotzer!»

Das Mädchen hatte mit empörter Heftigkeit gesprochen.

«Hat Ihre Tante nie daran gedacht, sich auf gesetzlichem Wege von seinen Nachstellungen zu befreien?»

«Nun, schließlich war er ihr Mann, Sir, und deshalb musste sie das durchstehen.»

Das klang einfach und entschieden.

«Sagen Sie mir, Mary, hat er sie bedroht?»

«O ja, Sir! Manchmal sagte er abscheuliche Sachen. Er werde ihr die Gurgel durchschneiden und solches Zeug. Dann fluchte er deutsch und englisch durcheinander. Und trotzdem hat Tante immer behauptet, dass er ein großer, schöner Mann gewesen sei, als sie ihn heiratete. Es ist ein Elend zu sehen, wohin es mit den Menschen kommen kann.»

«Ja, allerdings. – Aber nachdem Sie also diese Drohungen und Flüche selber mit angehört hatten, Mary, waren Sie vermutlich nicht weiter erstaunt, als man Ihnen mitteilte, was geschehen ist?»

«O doch, Sir, sehr erstaunt! Sehen Sie, ich glaubte nie, dass er seine Verwünschungen ernst meinte. Ich hielt sie einfach für grobe Redensarten, weiter nichts. Und ich hatte nie das Gefühl, dass Tante sich ernstlich vor ihm fürchtete. Manchmal schlich er davon wie ein Hund, der den Schwanz einzieht, wenn sie ihm gründlich die Leviten gelesen hatte. Er hatte Angst vor ihr – wenn man so will.»

«Und doch gab sie ihm immer wieder Geld.»

«Ja, er war eben ihr Mann, verstehen Sie, Sir.»

«Ja, das bemerkten Sie schon vorhin.» Er schwieg lange. Dann sagte er: «Wenn er sie also nicht umgebracht haben sollte…»

«Nicht umgebracht?», wiederholte sie erstaunt.

«So sage ich, ja. Wenn jemand anders Ihre Tante ermordet haben sollte… Haben Sie eine Ahnung, wer dieser Jemand sein könnte?»

Sie schien sich von ihrem verblüfften Staunen gar nicht erholen zu können.

«Nein, Sir, wirklich nicht. Aber das scheint doch gar nicht möglich zu sein, oder doch, Sir?»

«Fürchtete sich Ihre Tante vor jemandem?»

Mary schüttelte den Kopf.

«Tante hatte vor niemandem Angst. Sie hatte eine scharfe Zunge und konnte sich gegen jedermann zur Wehr setzen.»

«Sie haben nie gehört, dass jemand ihr etwas nachtrug?»

«Nein, bestimmt nicht, Sir.»

«Bekam sie jemals anonyme Briefe?»

«Was für Briefe, Sir?»

«Briefe, die keine Unterschrift hatten – oder die nur mit ABC oder so ähnlich unterschrieben worden waren.»

Er sah Mary scharf beobachtend an, aber das Mädchen schien wirklich nichts zu begreifen. Es schüttelte nur den Kopf.

«Hat Ihre Tante außer Ihnen noch andere Verwandte?»

«Nicht mehr, Sir. Eines von zehn Kindern war sie; aber nur drei blieben am Leben. Mein Onkel Tom ist im Krieg gefallen, mein Onkel Harry ging nach Südamerika, und man hat nie mehr etwas von ihm gehört, und meine Mutter ist auch gestorben – also bin nur ich übrig geblieben.»

«Hatte Ihre Tante Ersparnisse? Geld beiseite gelegt?»

«Sie hatte ein wenig Geld auf der Sparkasse, Sir – gerade um eine ordentliche Beerdigung zu bezahlen, sagte sie immer. Aber sonst konnte sie nur eben leben von ihren Einnahmen – mit dem alten Teufel zusammen erst recht.»

Poirot nickte nachdenklich. Mehr zu sich selber als zu ihr sagte er: «Jetzt tastet man noch im Dunkeln herum – ziellos –, aber sobald alles klarer geworden sein wird…» Er stand auf.

«Wenn ich Sie sprechen möchte, Mary, werde ich Ihnen hierher schreiben.»

«Ja, aber, Sir, um es rundheraus zu sagen: Ich will kündigen. Die Gegend gefällt mir nicht, und ich blieb nur, weil ich dachte, dass Tante mich gern in ihrer Nähe hätte. Aber jetzt –» Wieder glänzten Tränen in ihren Augen. «Jetzt sehe ich keinen Grund mehr, weshalb ich hier bleiben sollte, und darum gehe ich nach London zurück. Es ist dort unterhaltsamer für ein Mädchen.»

«Dann bitte ich Sie herzlich, mir Ihre neue Adresse mitzuteilen, sobald Sie umgezogen sein werden. Hier ist meine Karte.»

Sie nahm sie mit einem erstaunten Stirnrunzeln entgegen.

«Dann haben Sie ja nichts – mit der Polizei zu tun, Sir?»

«Ich bin Privatdetektiv.»

Sie sah ihn eine Zeit lang an. Dann sagte sie:

«Geht denn etwas – etwas Sonderbares vor, Sir?»

«Ja, mein Kind. Etwas an diesem Fall ist – sehr sonderbar. Sie können mir vielleicht später behilflich sein.»

«Ich will tun, was ich kann, Sir. Es – es ist nicht recht, dass Tante getötet worden ist.»

Eine eigenartige Weise, sich auszudrücken, aber zutiefst erschütternd.

Wenige Sekunden später fuhren wir nach Andover zurück.

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