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Wie schon gesagt, war ich bei Megan Barnards Worten und fast noch mehr bei dem harten, sachlichen Ton, in welchem sie geäußert wurden, zusammengezuckt. Poirot hingegen beugte sich nur etwas vor.

«A la bonne heure», sagte er ernst, «Sie sind vernünftig, Mademoiselle.»

Megan Barnard fuhr im gleichen ungerührten Tone fort: «Ich habe Betty sehr lieb gehabt. Aber meine Liebe zu ihr machte mich nicht blind. Ich habe genau bemerkt, wie dumm sie sich oft benahm, und ich habe ihr das auch wiederholt ganz offen gesagt. Unter Schwestern geniert man sich ja nicht!»

«Und ließ sie sich von Ihnen raten?»

«Anscheinend nicht», sagte Megan zynisch.

«Würden Sie sich bitte deutlicher ausdrücken, Mademoiselle?»

Das Mädchen zögerte. Poirot sah sie lächelnd an.

«Ich will Ihnen helfen. Ich habe gehört, was Sie Hastings sagten. Aber das war – un peu – gefärbt, nicht wahr. Das Gegenteil davon entsprach den Tatsachen?»

«Betty war ein anständiges Mädchen», sagte Megan langsam, «das möchte ich festhalten. Sie hatte keine Weekendfreunde oder ähnliches. Aber sie ging gern aus, sie tanzte leidenschaftlich gern und – ach, alle die billigen Komplimente und Aufmerksamkeiten machten ihr viel Freude.»

«War sie hübsch?»

Diese Frage, die ich nun schon zum dritten Mal hörte, erfuhr jetzt eine praktische Antwort. Megan ging zu ihrem Köfferchen, ließ das Schloss aufschnappen und nahm etwas heraus, das sie Poirot überreichte.

Das Brustbild eines lachenden blonden Mädchens steckte in einem ledernen Fotorahmen. Helles Haar, das offensichtlich eben erst neue Dauerwellen bekommen hatte, stand in einem Wald gekräuselter Locken um den Kopf. Das Lächeln wirkte gewollt und künstlich. Kein Gesicht, das man schön nennen konnte, das aber einer billigen und bewussten Hübschheit nicht entbehrte.

Poirot gab Megan das Bild zurück.

«Sie sehen Ihrer Schwester gar nicht ähnlich, Mademoiselle.»

«Ach, ich bin das Aschenbrödel der Familie, das weiß ich seit jeher.» Diese Tatsache schien sie längst als unwichtig und unabänderlich hingenommen zu haben.

«In welcher Art genau benahm sich Ihre Schwester – hm – unklug, wie Sie sagten? Vielleicht in Bezug auf Donald Fraser?»

«Ja, allerdings! Don ist ein ruhiger Mensch, aber er – natürlich hätten ihm gewisse Dinge nicht gepasst, und dann…»

«Dann?»

Poirot sah das Mädchen unverwandt an.

Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber mir schien es so, als überlegte Megan eine Sekunde, was sie antworten sollte.

«Ich fürchtete, dass er sie endgültig fallen lassen könnte. Und das wäre wirklich sehr, sehr schade gewesen. Er ist ein anständiger, arbeitsamer Mensch und wäre Betty bestimmt ein guter Mann geworden.»

Poirot behielt das Mädchen fest im Blick; aber sie errötete nicht, sondern sah ihm ihrerseits genauso ruhig in die Augen, wobei ihr Ausdruck wieder etwas enthielt, das mich an ihr anfängliches spöttisch-verächtliches Benehmen erinnerte.

«Ich verstehe», sagte Poirot nach kurzer Stille. «Sie wollen nicht länger offen und ehrlich mit uns sprechen.»

Sie zuckte die Achseln und wandte sich der Tür zu.

«Was ich tun konnte, um Ihnen zu helfen, habe ich getan.»

«Einen Augenblick, Mademoiselle!» Poirots Stimme hielt sie auf. «Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen. Kommen Sie, bitte.»

Widerwillig, schien mir, kehrte sie um und ging gehorsam zum Tisch zurück.

Zu meiner Überraschung setzte Poirot dem Mädchen die ganze Geschichte von den ABC-Briefen auseinander, erzählte ihr von dem Mord in Andover und dem Fahrplan, den man bei beiden Leichen gefunden hatte. Über mangelndes Interesse bei seiner Zuhörerin konnte er sich wahrlich nicht beklagen. Mit halb offenem Mund und glühenden Blicken hing sie an seinen Lippen.

«Ist das alles wahr, Monsieur Poirot?»

«Ja, das ist die volle Wahrheit.»

«Und Sie glauben wirklich, dass meine Schwester von irgendeinem mordlüsternen Geistesgestörten getötet worden ist?»

«Davon bin ich überzeugt.»

Sie holte tief Atem.

«O Betty! Betty! – Wie… grauenvoll!»

«Sie sehen, Mademoiselle, dass Sie mir die Auskünfte, die ich von Ihnen erbitte, ganz unbesorgt geben dürfen, ohne fürchten zu müssen, dass jemand dadurch Schaden erleidet.»

«Ja, das sehe ich jetzt ein.»

«Dann wollen wir uns also weiter unterhalten. Ich vermute, dass dieser Donald Fraser möglicherweise zu Heftigkeit und Eifersucht neigt. Stimmt das?»

Megan Barnard antwortete klar und ruhig.

«Ich habe jetzt Vertrauen zu Ihnen, Monsieur Poirot, und ich werde Ihnen die volle Wahrheit sagen. Don ist, wie ich schon erwähnte, ein ruhiger Mensch – zugeknöpft, wenn Sie verstehen, wie ich es meine. Er kann nicht immer ausdrücken, was er fühlt, aber im Grunde seines Herzens ist er schrecklich empfindlich. Auf Betty war er sehr eifersüchtig.

Er liebte sie heiß, und Betty hatte ihn bestimmt auch sehr gern; aber es war nicht Bettys Art, neben dem einen Menschen, den sie liebte, niemanden mehr zu beachten. Sie war einfach anders. Jeder gut aussehende Mann, der sie bewundernd ansah und von dem sie voraussetzte, dass er mit ihr ausgehen würde, fiel ihr sofort auf. Und im Café verkehrten natürlich genügend Männer, im Sommer vor allem. Sie besaß ein flottes Mundwerk, und wenn man sie neckte, hatte sie stets eine Antwort parat. Und dann traf sie sich eben manchmal mit diesen Gästen, nur so, auf einen Kinobesuch oder zum Tanzen. Nichts Ernstes – bestimmt nicht –, aber sie amüsierte sich eben gern. Sie sagte immer, dass sie sich ja bald mit Donald häuslich niederlassen werde, und darum wolle sie ihr Leben jetzt noch genießen, soviel sie könne.»

Megan hielt inne, und Poirot sagte leise:

«Ich verstehe Sie. Bitte weiter!»

«Und eben diese Einstellung hat Don nie begreifen können. Dass sie ihn lieben und trotzdem mit anderen Männern ausgehen konnte, das wollte ihm nicht in den Kopf. Darüber hatten die beiden einige Male heftige Auseinandersetzungen.»

«Also blieb Monsieur Don nicht immer gleichmütig?»

«Das ist doch oft so bei stillen Menschen: Wenn sie dann einmal die Nerven verlieren, kracht es gründlich. Don konnte so heftig werden, dass Betty sich vor ihm fürchtete.»

«Wann war das?»

«Einmal hatten sie einen solchen Streit vor etwa einem Jahr, und dann noch einen – vor kaum vier Wochen. Ich war gerade übers Wochenende zu Hause und konnte sie wieder versöhnen. Und bei dieser Gelegenheit versuchte ich auch, Betty einmal gründlich ins Gewissen zu reden und ihr klarzumachen, wie blöd sie sich benahm. Aber sie antwortete auf alle meine Vorhaltungen nur, dass ja gar nichts vorgefallen sei, dessen sie sich zu schämen brauche. Das glaube ich ohne weiteres, und gleichwohl fühlte ich, dass sie sich eines Tages den Hals brechen könnte. Sehen Sie, nach dem Krach vor einem Jahr hatte sie sich angewöhnt, manchmal bei Bedarf ein bisschen zu lügen – nach dem Prinzip: Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Und der letzte Streit war ausgebrochen, weil sie Don erzählt hatte, sie besuche in Hastings eine Freundin, während er herausbekam, dass sie mit einem Mann in Eastbourne gewesen war. Dass dieser Mann verheiratet war und darum Wert auf größte Diskretion legte, machte die Sache nur noch ärger: Es gab eine fürchterliche Szene! Betty warf Donald an den Kopf, schließlich sei sie noch nicht mit ihm verheiratet und habe das Recht auszugehen, mit wem sie wolle, und Don war kreidebleich, zitterte am ganzen Leib und schrie, er werde eines Tages… eines Tages…»

«Ja, Mademoiselle?»

«Einen Mord begehen», schloss Megan flüsternd.

Poirot nickte ernst.

«Und nun hatten Sie natürlich Angst…»

«Nein! Ich habe nicht geglaubt, dass er es getan hat – nicht eine Sekunde lang habe ich das geglaubt! Aber ich fürchtete, dass es so ausgelegt würde – der Streit und was er gesagt hatte –, weil verschiedene Leute davon wussten.»

«Richtig. Und ich muss sagen, dass ohne die eitle Ruhmsucht des Mörders sehr wohl Verdacht auf Donald Fraser gefallen wäre. Wenn er heute als Unverdächtiger dasteht, dann nur, weil dieser ABC-Wahnsinnige sich selber entlarvt hat.»

Poirot dachte eine Weile schweigend nach. Dann fragte er:

«Wissen Sie, ob Ihre Schwester diesen verheirateten Mann oder irgendeinen anderen Mann kürzlich getroffen hat?»

Megan schüttelte den Kopf.

«Nein, das weiß ich nicht. Ich wohne nicht zu Hause.»

«Und was vermuten Sie?»

«Es ist wohl möglich, dass sie diesen Mann wiedergesehen hat. Er hätte sich wahrscheinlich rasch aus dem Staube gemacht, wenn er erfahren hätte, dass ein Riesenkrach entstehen könnte; aber es würde mich nicht wundern, wenn Betty – wenn sie Donald wieder brandschwarz angelogen hätte.

Sie tanzte so gern, wissen Sie, und ging gern ins Kino, und Don konnte es sich nicht leisten, sie dauernd auszuführen.»

«Wenn dem so wäre, glauben Sie, dass sie sich jemandem anvertraut hätte? Der Kollegin im Café zum Beispiel?»

«Das glaube ich nicht. Betty konnte diese Higley nicht ausstehen. Sie war ihr zu ordinär. Und die anderen Mädchen waren alle neu. Überhaupt war Betty kein vertrauensseliger Mensch.» Eine elektrische Klingel surrte direkt über dem Kopf von Megan. Sie ging zum Fenster und beugte sich hinaus. Dann fuhr sie zurück.

«Es ist Don…»

«Führen Sie ihn rasch herein», sagte Poirot. «Ich möchte ihn sprechen, bevor unser guter Inspektor ihn in die Finger bekommt.»

Megan Barnard verschwand wie der Blitz und trat Sekunden später Hand in Hand mit Donald Fraser wieder in die Küche.

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