23

Doncaster!

Ich glaube, ich werde mich an diesen 11. September mein ganzes Leben lang erinnern!

Tatsächlich ruft noch heute die bloße Erwähnung des St.-Leger-Rennens den Gedanken an Mord in mir wach.

Wenn ich meine damaligen Gefühle zu rekonstruieren versuche, dann war das hervorstechendste das einer jämmerlichen Unzulänglichkeit. Da waren wir nun alle am Tatort versammelt – Poirot, ich selber, Clarke, Fraser, Megan Barnard, Thora Grey und Mary Drower – und was konnten wir im Grunde genommen eigentlich ausrichten?

Wir hegten alle jene gänzlich ungewisse Hoffnung, in einer Menge, die nach Tausenden zählte, ein Gesicht oder eine Gestalt wieder zu erkennen, die wir vor zwei oder drei Monaten vielleicht einmal kurz und verschwommen gesehen hatten.

Nein – die Chancen standen noch weit ungünstiger! Die einzige Person, die den Mörder tatsächlich gesehen hatte und demzufolge auch erkennen konnte, war Thora Grey. Ihre vollendete, damenhafte Haltung brach unter der fortgesetzten Spannung langsam zusammen. Sie war nicht mehr ruhig und überlegen, sondern saß mit verkrampften Händen, fast weinend da und beschwor Poirot, flehte ihn an, ihr zu glauben:

«Ich habe ihn wirklich nicht angesehen! Hätte ich es nur getan! Ich war ja so dumm! Jetzt verlassen Sie sich auf mich… alle hängen von mir ab, und ich werde Sie bestimmt enttäuschen! Weil ich ihn, sogar wenn ich ihn tatsächlich Wiedersehen sollte, bestimmt nicht mehr erkennen werde. Ich habe ein schlechtes Personengedächtnis!»

Was immer er mir über das Mädchen gesagt hatte, wie scharf er es kritisierte, wenn wir allein waren, jetzt war Poirot die Güte in Person. Er gab sich weich und verständnisvoll. Ich erkannte, dass auch Poirot weiblicher Schönheit in Verzweiflung nicht teilnahmslos gegenüberzustehen vermochte. Er nahm Thora freundlich bei den Schultern.

«Nun, nun, petite, keine hysterischen Ausbrüche! Das führt zu nichts. Wenn Sie diesen Menschen zu Gesicht bekämen, würden Sie ihn wieder erkennen!»

«Wieso glauben Sie das?»

«Oh, aus vielen Gründen. Einmal, weil auf Schwarz immer Rot folgen muss.»

«Was soll das heißen, Poirot?», fragte ich.

«Spielerjargon! Beim Roulett kann lange Zeit dauernd Schwarz kommen, aber schließlich muss die Kugel bei Rot stehen bleiben. Das mathematische Gesetz des Glücksspiels.»

«Sie glauben also, das Glück werde nun wechseln?»

«Richtig, Hastings. Und an diesem Punkt mangelt es dem Spieler – (und unserem Mörder, der ja schließlich auch eine Art Glücksspiel betreibt, bei dem er nicht sein Geld, sondern sein Leben einsetzt) – meistens an Intelligenz und Weitsicht. Weil er gewonnen hat, bildet er sich ein, er werde fortfahren zu gewinnen! Er verlässt den Tisch nicht zur rechten Zeit, solange seine Taschen voll sind. Im Falle unserer Verbrechen: Ein Mörder, der so lange erfolgreich vorging, kann sich gar nicht vorstellen, dass er plötzlich Misserfolg haben könnte! Er schreibt sein fehlerloses Vorgehen ausschließlich sich selbst zu, aber ich sage euch, meine Freunde, dass kein Verbrechen, und sei es noch so bis ins kleinste überlegt, erfolgreich, das heißt unentdeckt durchgeführt werden kann, wenn nicht das Glück auf Seiten des Täters steht.»

«Ist das nicht etwas weit hergeholt?», wandte Franklin Clarke ein.

Poirot fuhr aufgeregt mit den Händen durch die Luft.

«Nein! Zugegeben: Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, aber die Sache muss zu unseren Gunsten ausgehen! Überlegen Sie doch: Es hätte sein können, dass jemand das Geschäft von Mrs. Ascher in dem Augenblick betreten wollte, als der Mörder herauskam. Diese Person hätte hinter den Ladentisch blicken und die tote Frau entdecken können. Daraufhin hätte er – oder sie – den Mörder entweder auf der Stelle packen oder aber in der Lage sein können, der Polizei eine genaue Personenbeschreibung des Täters zu geben, auf Grund welcher er verhaftet worden wäre.»

«Gewiss, das wäre möglich gewesen», musste Clarke einräumen, «aber mit solchen Möglichkeiten muss ein Mörder immer rechnen.»

«Richtig. Ein Mörder ist immer ein Spieler. Und wie so viele Spieler, weiß auch ein Mörder nie, wann er aufhören muss. Mit jedem Verbrechen steigt sein Selbstbewusstsein. Er verliert das Maß. Er sagt sich nie: ‹Ich war schlau und habe Glück gehabt!› O nein! Er sagt sich nur: ‹Ich war schlau!› Und das gibt seiner Meinung von sich selber neuen Auftrieb… bis – meine Freunde – die Kugel wieder kreiselt und die Farbserie abbricht dann fällt sie auf eine neue Nummer, und der Croupier ruft: ‹Rouge!›»

«Und das, glauben Sie, wird in unserem Fall jetzt eintreten?»

Megan Barnard dachte mit gerunzelter Stirn über Poirots Worte nach.

«Es muss früher oder später eintreten! Bis dahin war das Glück mit dem Verbrecher – früher oder später muss es sich auf unsere Seite schlagen. Ich glaube, dass es das bereits getan hat. Die Sache mit den Strümpfen bedeutet einen Anfang. Anstatt dass ihm alles gut ausgeht, werden sich die Dinge nun gegen ihn stellen. Er wird Fehler begehen und…»

«Sie machen einem wirklich wieder Mut!», fiel Clarke ihm ins Wort. «Das haben wir alle nötig gehabt! Ich jedenfalls hatte ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit seit heute früh.»

«Ich finde es noch immer äußerst fraglich, ob wir tatsächlich etwas erreichen können», warf Donald Fraser ein.

«Sei doch kein solcher Pessimist, Donald!», zischte Megan ihn an.

Mary Drower meldete sich, errötend, ebenfalls zu Wort.

«Man kann nie wissen, finde ich. Dieser schreckliche Kerl ist hier, und wir sind auch hier – und außerdem trifft man manchmal ganz komisch mit Leuten zusammen.»

Ich schäumte innerlich.

«Wenn wir nur wüssten, was wir eigentlich tun sollten!»

«Vergessen Sie nicht, Hastings, dass die Polizei alles nur Mögliche tut. Es wurden Spezialagenten aufgeboten. Der gute Inspektor Crome mag manchmal eine aufreizende Art haben, aber er ist ein sehr fähiger Beamter, und Colonel Anderson, der Polizeichef, ist ungemein tatkräftig. Die beiden Herren haben alle erdenklichen Maßnahmen ergriffen, damit Stadt und Rennplatz bis ins Kleinste bewacht werden. Die Polizeikräfte werden überall sein. Ferner hatte bestimmt auch die Pressekampagne eine große Wirkung. Das Publikum ist gewarnt.»

Donald Fraser schüttelte den Kopf.

«Wahrscheinlich unterlässt er seinen Mord», sagte er hoffnungsvoll. «Der Mann müsste ja verrückt sein.»

«Unseligerweise», bemerkte Clarke trocken, «ist er das tatsächlich! Was meinen Sie, Monsieur Poirot? Wird er es aufgeben oder seinen Plan durchführen?»

«Meiner Ansicht nach ist seine Besessenheit so groß, dass er versuchen wird, sein Versprechen einzulösen. Dies nicht zu tun, würde in seinen Augen bereits Niederlage bedeuten, und die kann sein unsinniges Selbstgefühl nicht akzeptieren. Das ist übrigens auch Dr. Thompsons Ansicht. Unsere ganze Hoffnung besteht nun darin, dass der Wahnsinnige schon im Mordversuch gefasst wird.»

Wieder weigerte Donald Fraser sich, das zu glauben.

«Er wird diesmal sehr gerissen vorgehen.»

Poirot sah auf seine Uhr. Wir verstanden den Wink. Es war abgemacht worden, dass wir den ganzen Tag unterwegs sein, morgens so viele Gassen und Straßen wie nur möglich durchstreifen und uns später auf verschiedene Beobachtungsposten auf dem Rennplatz verteilen sollten. Ich sage «wir», aber in meinem Fall war natürlich diese Patrouillentätigkeit von geringem Wert, weil ich wissentlich den Mörder nie gesehen hatte; aber da nun einmal beschlossen worden war, dass wir getrennt marschieren sollten, um ein möglichst weites Feld abdecken zu können, hatte ich mich als Begleiter einer der Damen angeboten.

Poirot war auf meinen Vorschlag eingegangen – allerdings mit einem deutlich wahrnehmbaren Zwinkern, wie mir schien.

Die Mädchen waren hinausgegangen, um ihre Hüte aufzusetzen, und Donald Fraser stand, anscheinend tief in Gedanken versunken, am Fenster. Franklin Clarke betrachtete ihn eine Weile. Dann schien er sich davon überzeugt zu haben, dass der andere zu geistesabwesend war, um überhaupt zuzuhören, und wandte sich mit leiser Stimme an Poirot.

«Sie sind nach Churston gefahren, Monsieur Poirot, und haben meine Schwägerin besucht. Hat sie Ihnen gesagt – hat sie angedeutet – ich meine… hat sie darauf angespielt, dass…» Er brach verlegen ab.

Poirot setzte ein derart unschuldiges, ausdrucksloses Gesicht auf, dass ich sofort hellwach und gespannt zuhörte.

«Comment? Hat mir Ihre Schwägerin was gesagt oder angedeutet?»

Franklin Clarke lief rot an.

«Vielleicht denken Sie, dass nun wirklich nicht der Moment sei, um persönliche Dinge zu besprechen…»

«Du tout.»

«Aber mir liegt daran, dass Klarheit herrscht.»

«Ein lobenswertes Bestreben.»

Nun fiel sogar Clarke auf, dass Poirots leeres Gesicht Deckmantel für ein großes inneres Vergnügen war, und er musste sich mühsam durch seine weiteren Erklärungen hindurchackern.

«Sehen Sie, meine Schwägerin ist eine reizende Frau… Ich habe sie immer sehr, sehr gern gemocht… Nur war sie natürlich lange krank und… diese Krankheit bringt es mit sich… die vielen Betäubungsmittel und all das… dass man dazu neigt… dass man sich Sachen einbildet… dass man Menschen verdächtigt…»

«Ja?»

Jetzt tanzten die Lachfältchen ganz unverhohlen um Poirots Augen; aber Franklin Clarke war so mit der diplomatischen Abfassung seiner Gedanken beschäftigt, dass er es nicht bemerkte.

«Es handelt sich um Thora Grey» stellte er eben fest.

«Ach, Sie sprechen von Miss Grey?», Poirot spielte den Erstaunten.

«Ja. Lady Clarke hat in Bezug auf Miss Grey ganz falsche Vorstellungen… Thora – Miss Grey ist sehr hübsch und…»

«Ja, vielleicht», murmelte Poirot halbe Zustimmung.

«Und Frauen, auch die besten unter ihnen, neigen immer ein wenig zu Eifersucht anderen Frauen gegenüber. Thora war meinem Bruder eine unschätzbare Hilfe, das stimmt. Er sagte immer, sie sei die beste Sekretärin gewesen, die er jemals hatte – und er konnte sie wirklich gut leiden. Aber diese Zuneigung hielt sich in einem durchaus korrekten und ehrbaren Rahmen. Ich meine, Thora Grey ist ein Mädchen, das sich nicht…»

«Nicht?», fragte der hilfsbereite Poirot interessiert.

«Nun, meine Schwägerin redete sich ein, Grund zur Eifersucht zu haben. Sie ließ sich zwar nie etwas anmerken. Doch nach Cars Tod, als die Rede davon war, dass Miss Grey bleiben solle – da wurde Charlotte sehr böse. Das bringt natürlich die Krankheit mit sich, ich weiß – das Morphium und all das –, Schwester Capstick hat mir das erklärt und gesagt, man dürfte die Wahnideen Charlottes nicht zu ernst nehmen…»

Hier verstummte er.

«Ja?»

«Mir liegt daran, Monsieur Poirot, dass Sie wissen, wie unbegründet das alles ist. Hirngespinste einer kranken Frau, weiter nichts. Bitte, hier –» Er suchte nervös in seinen Taschen herum. «Hier ist ein Brief, den mein Bruder mir nach Malaysia schrieb. Ich möchte, dass Sie ihn lesen, damit Sie genau wissen, wie die Dinge wirklich lagen.»

Poirot nahm das Blatt Papier. Franklin trat neben ihn und las, indem er die Zeilen mit dem Zeigefinger verfolgte, einige Stellen laut vor.


…hier alles seinen gewohnten Gang nimmt. Charlottes Schmerzen sind verhältnismäßig erträglich. Ich wünschte, ich könnte dir besseren Bescheid geben. Erinnerst du dich an Thora Grey? Sie ist ein liebes Mädchen und mir mehr Beistand, als ich dir schildern kann. Ich wüsste nicht, wie ich ohne sie diese schreckliche Zeit überstehen sollte. Ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme sind überwältigend. Sie hat einen untadeligen Geschmack und viel Verständnis für schöne Dinge. Außerdem teilt sie mein Interesse für chinesische Kunst. Es ist wirklich ein großes Glück, dass ich sie gefunden habe. Eine Tochter könnte mir kein besserer und tröstlicherer Kamerad sein. Ihr Leben war kein leichtes und verlief nicht immer glücklich, umso mehr freue ich mich, dass sie hier ein Heim und ehrliche Zuneigung gefunden hat…


«Sehen Sie, so waren die Gefühle meines Bruders für Thora Grey. Er betrachtete sie quasi als seine Tochter. Deshalb empfinde ich es als große Ungerechtigkeit, dass das Mädchen, kaum dass mein Bruder tot war, von dessen Frau aus dem Hause gewiesen wurde! Frauen sind wirklich manchmal Teufel, Monsieur Poirot!»

«Ihre Schwägerin ist sehr krank, und sie leidet, das dürfen Sie nicht vergessen, Mr. Clarke.»

«Ich weiß, ich weiß! Das sage ich mir ja auch dauernd. Man darf nicht zu hart über sie urteilen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich Ihnen das zeigen sollte. Ich möchte nicht, dass Sie nach den Aussagen meiner Schwägerin eine schlechte Meinung von Thora bekommen.»

Poirot gab ihm den Brief zurück.

«Ich kann Ihnen versichern», sagte er lächelnd, «dass ich mir niemals und von niemandem Meinungen einreden lasse. Die bilde ich mir immer selber – nach meinen eigenen Beobachtungen.»

«So oder so – ich bin froh, dass Sie das gelesen haben.» Clarke steckte den Brief wieder weg.

«Und da sind auch schon die Mädchen! Also können wir abmarschieren.»

Auf der Schwelle rief Poirot mich zurück.

«Sind Sie entschlossen, die Expedition mitzumachen, Hastings?»

«Ja. Ich könnte ein untätiges Dasitzen nicht ertragen.»

«Es gibt eine Tätigkeit des Geistes, mon ami.»

«Die liegt Ihnen besser als mir.»

«Damit haben Sie ganz unzweifelhaft Recht, Hastings. Ist meine Annahme richtig, dass Sie eine der Damen begleiten wollen?»

«So war es abgemacht.»

«Und welche der Damen werden Sie mit Ihren Beschützertalenten beglücken?»

«Das – hm – darüber habe ich noch nicht nachgedacht.»

«Was sagen Sie zu Miss Barnard?»

«Nun, sie ist eine eher unabhängige Natur», wich ich aus.

«Und Miss Grey?»

«Ja – vielleicht – ja, eher.»

«Ich entdecke an Ihnen eine eigentümliche, wenn auch absolut durchsichtige Unehrlichkeit, Hastings! Sie sind seit langem entschlossen, diesen Tag mit Ihrem blonden Engel zu verbringen!»

«Poirot! Ich muss doch bitten…»

«Es tut mir leid, Ihre Pläne zu durchkreuzen, aber ich muss Sie bitten, jemand anders zu eskortieren.»

«Bitte! Bitte sehr! Mir scheint, dass Sie eine Schwäche für diese Holländerpuppe von einem Mädchen gefasst haben!»

«Sie werden Mary Drower begleiten, Hastings, und ich bitte Sie, das Mädchen nicht aus den Augen zu lassen!»

«Aber warum denn, Poirot?»

«Weil ihr Name mit einem D beginnt, mein Freund, und weil wir keine Risiken eingehen dürfen!»

Diese Überlegung war gerechtfertigt, das sah ich ein. Im ersten Augenblick mutete sie vielleicht etwas weit hergeholt an; aber dann machte ich mir klar, dass ABC, der Poirot leidenschaftlich zu hassen schien, sich sehr wohl über jede Bewegung seines Gegners informiert haben konnte. Und in diesem Fall konnte ihm die Ausschaltung Mary Drowers als ein besonders boshafter vierter Streich vorschweben.

Ich gelobte, meinen Beschützerpflichten getreulich nachzukommen.

Als ich das Zimmer verließ, saß Poirot beim Fenster. Vor ihm auf dem Tisch stand ein kleines Roulett. Er setzte die Kugel in kreisende Bewegung. Ich wollte eben die Tür hinter mir ins Schloss ziehen, als er mir nachrief:

«Rouge! Das ist ein gutes Omen, Hastings! Das Glück hat sich gewendet!»

Загрузка...