21

In diesem Augenblick – so schien mir wenigstens – begann zu verblassen, was Poirot das menschliche Element des Falles nannte. Es war, als hätten wir uns eine kurze Zeit menschlichen Belangen zuwenden dürfen, weil der Geist sich weigert, unausgesetzt dem Grauen gegenüberzustehen. Wir hatten gefühlt, dass wir zur Untätigkeit verdammt waren, bis der vierte Brief uns den Schauplatz der neuen geplanten Untat enthüllen würde. Diese Wartezeit hatte ein Nachlassen der Spannung mit sich gebracht. Aber nun, da uns die Blockbuchstaben von dem steifen weißen Papier entgegengrinsten, begann die Jagd von neuem.

Inspektor Crome kam vom Yard, und während er bei uns saß, wurden Franklin Clarke und Megan Barnard gemeldet.

Das Mädchen berichtete, dass sie eben von Bexhill hergefahren sei.

«Ich wollte Mr. Clarke etwas fragen.»

Sie schien ängstlich bestrebt, ihr Hiersein zu erklären, ja sie entschuldigte sich förmlich dafür. Ich bemerkte diese Tatsache wohl, legte ihr aber keinerlei Bedeutung bei. Der neueste Brief von ABC nahm mein ganzes Interesse in Anspruch.

Crome behagten die verschiedenen Teilnehmer an dieser Sitzung keineswegs. Er gab sich ungemein förmlich und distanziert.

«Ich werde das mitnehmen, Monsieur Poirot. Wenn Sie vielleicht eine Abschrift davon anfertigen wollen…»

«Nein, nein, das ist nicht nötig.»

«Was haben Sie für Pläne, Inspektor?», fragte Clarke.

«Ziemlich umfassende, Mr. Clarke.»

«Diesmal müssen wir ihn fangen», ereiferte sich Clarke.

«Ich möchte Ihnen mitteilen, Inspektor, dass wir uns aus eigenen Stücken zusammentaten, um dabei mitzuhelfen. Eine Gruppe, bestehend aus lauter Beteiligten.»

Inspektor Crome kommentierte höflich: «Ach? Wirklich?»

«Wahrscheinlich trauen Sie Amateuren nicht viel zu?»

«Nun, Sie können sich jedenfalls nur auf bescheidene Hilfsmittel stützen, nicht wahr?»

«Dafür verfolgen wir unsere persönlichen Interessen – das wiegt vieles auf!»

«Ach? Wirklich?»

«Im Übrigen ist auch Ihre Aufgabe keineswegs eine leichte, Inspektor. Denn bis jetzt hat Ihnen der alte ABC doch wohl recht übel mitgespielt.»

Crome war manchmal durch Spott zum Sprechen zu bringen, wenn alle anderen Methoden versagt hatten.

«Ich glaube, dass die Öffentlichkeit diesmal nichts an unseren Vorkehrungen auszusetzen haben wird», erwiderte er hochmütig. «Der Narr hat uns ja frühzeitig gewarnt. Der Elfte ist erst am nächsten Mittwoch. Das lässt uns genügend Zeit, um eine breit angelegte Zeitungskampagne in die Wege zu leiten. Doncaster wird nachhaltig gewarnt sein! Jeder, dessen Name mit D beginnt, wird auf der Hut sein. Außerdem werden wir ein erhebliches Polizeiaufgebot in die Stadt entsenden. Das ist bereits mit allen Polizeichefs von England abgesprochen. Ganz Doncaster, Polizei und Zivilbevölkerung, wird auf der Jagd nach dem Mann sein, und mit etwas Glück sollten wir ihn diesmal wirklich fassen.»

«Man merkt, dass Sie kein Sportsmann sind, Inspektor», warf Clarke hier ein.

Crome sah ihn verblüfft an.

«Menschenskind! Sie wissen ja nicht einmal, dass nächsten Mittwoch in Doncaster das St.-Leger-Pferderennen stattfindet!»

Der Unterkiefer des Inspektors sank herunter. Um sein Leben wäre er in diesem Augenblick nicht fähig gewesen, sein stereotypes «Ach? Wirklich?» zu. äußern. Stattdessen sagte er:

«Stimmt. Ja, das erschwert die Sache natürlich…»

«ABC ist kein Narr, auch wenn er verrückt ist.»

Wir schwiegen alle und machten uns mit dieser neuen Situation vertraut. Die Zuschauermengen bei einem Pferderennen – das sportliebende englische Publikum – die endlosen Schwierigkeiten…

«C’est ingénieux», murmelte Poirot. «Das ist wirklich glänzend ausgedacht.»

«Ich vermute», sagte Clarke, «dass der Mord auf dem Rennplatz stattfinden wird, vielleicht gerade während des St.-Leger-Rennens.»

Inspektor Crome stand auf und nahm den Brief an sich.

«Dieses Rennen ist tatsächlich eine unglückliche Komplikation», stimmte er Clarke zu.

Dann ging er. Vom Korridor klang Stimmengemurmel herein. Kurz darauf trat Thora Grey ein.

«Der Inspektor sagte mir eben, es sei ein neuer Brief gekommen», stieß sie erregt hervor. «Wo soll diesmal etwas geschehen?»

Es regnete. Thora Grey trug einen schwarzen Mantel und Rock und einen Pelz. Ein kleiner schwarzer Hut thronte ganz zuoberst auf dem blonden Haar.

Sie hatte diese Frage an Franklin Clarke gerichtet, und auf ihn ging sie auch zu, legte die Hand leicht auf seinen Arm und erwartete eine Antwort von ihm.

«Doncaster, am Tag des St. Leger.»

Wir begannen die neue Situation zu besprechen. Selbstverständlich wollten wir alle in Doncaster anwesend sein, aber dieses Rennen erschwerte alle Pläne, die wir früher gemacht hatten.

Mich überkam ein Gefühl der Entmutigung. Was konnte unsere kleine Gruppe, bestehend aus sechs Personen, schon ausrichten, wie ehrlich immer ihre persönlichen Interessen an dieser Sache auch sein mochten? Die vielhundertköpfige Polizistenschar würde scharfsichtig, wachsam überall auf ihrem Posten sein. Was lag unter diesen Umständen an den sechs weiteren Augenpaaren? Als hätte er meine Gedanken erraten, erhob Poirot plötzlich seine Stimme. Er sprach wie ein Lehrer oder Pfarrer.

«Mes enfants», begann er, «wir müssen mit Überlegung und mit vereinten Kräften vorgehen und dürfen uns nicht verzetteln. Von innen, gedanklich, müssen wir die Wahrheit zu ergründen suchen, nicht von außen. Wir müssen uns fragen: Was weiß ich von dem Mörder? Und aus unseren Antworten müssen wir ein Bild erstehen lassen, das Bild des Mannes, nach dem wir fahnden.»

«Wir wissen ja nichts über ihn», seufzte Thora Grey mit einer hilflosen Geste.

«Nein, Mademoiselle, das ist nicht wahr! Jeder von uns weiß etwas über ihn – wenn wir nur wüssten, was wir wissen! Ich bin überzeugt, dass darin die Lösung aller Rätsel liegt: dass wir uns darüber klar werden, was wir von dem Mann wissen.»

Clarke schüttelte den Kopf.

«Nichts wissen wir! Nicht ob er alt oder jung, groß oder klein, blond oder dunkel ist! Niemand hat ihn jemals gesehen oder mit ihm gesprochen! Wir haben doch jede kleinste Wahrnehmung wieder und wieder durchgekaut!»

«Nicht jede! Zum Beispiel hat Miss Grey uns erzählt, dass sie keinen Fremden in der Nähe von Combside gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen habe am Mordtag.»

Thora Grey nickte. «Ja, das stimmt.»

«Wirklich? Lady Clarke berichtete uns, Mademoiselle, dass sie von ihrem Fenster aus beobachtet hat, wie Sie an jenem Tag beim Haupteingang mit einem fremden Mann gesprochen haben.»

«Ich? Mit einem fremden Mann?» Das Mädchen schien ehrlich erstaunt zu sein. Dieser klare Blick konnte unmöglich lügen.

Sie schüttelte den Kopf. «Lady Clarke muss sich geirrt haben. Ich habe nie… Ach!» Dieser Ausruf entfuhr ihr ganz plötzlich, und ihr Gesicht wurde purpurrot.

«Jetzt erinnere ich mich! Wie dumm von mir! Das hatte ich total vergessen! Es war aber auch keineswegs wichtig. Einer der vielen Hausierer, wissen Sie, ehemalige Kriegsteilnehmer, die dauernd irgendetwas verkaufen wollen. Dieser war besonders hartnäckig mit seinen Strümpfen, ich konnte ihn kaum loswerden. Da ich gerade an der Tür vorbeiging, als er läuten wollte, sprach er mich an. Ein ganz harmloser Mensch übrigens, deshalb habe ich ihn wahrscheinlich vergessen.»

Poirot hielt seinen Kopf mit beiden Händen umklammert und wiegte den Oberkörper hin und her. Er murmelte so heftig vor sich hin, dass niemand im Zimmer etwas zu sagen wagte, sondern alle ihn wie gebannt anstarrten.

«Strümpfe…», murmelte er. «Strümpfe… Strümpfe… Strümpfe… ca vient!… Strümpfe… Da haben wir es! Vor drei Monaten… vor wenigen Tagen… und jetzt! Bon Dieu, das ist es!»

Er setzte sich auf und sah mich an.

«Erinnern Sie sich, Hastings? Das Geschäft… das Schlafzimmer im oberen Stock… und auf dem Stuhl? Ein Paar neue Seidenstrümpfe! Und jetzt weiß ich auch, was mir vor zwei Tagen durch den Kopf fuhr. Sie, Mademoiselle Megan, Sie sprachen davon, dass Ihre Mutter weinte, weil sie Ihrer Schwester ein Paar Strümpfe gekauft hatte… am Tag des Mordes…»

Er sah uns alle der Reihe nach an.

«Begreifen Sie? Da haben wir das Motiv, das sich dreimal wiederholte. Das kann kein Zufall sein. Während Mademoiselle sprach, fühlte ich, dass ihre Worte mit irgendetwas zusammenhingen, und jetzt weiß ich, mit was: mit den Worten von Mrs. Aschers Nachbarin, Mrs. Fowler. Dass dauernd Reisende kämen und einen belästigten mit Strümpfen und was weiß ich. Sagen Sie mir, Mademoiselle Megan, kaufte Ihre Mutter diese Strümpfe nicht an der Haustür von einem Hausierer?»

«Doch… doch, jetzt erinnere ich mich. Sie sagte, dass ihr diese armen Teufel immer leid täten, die so darauf angewiesen seien, etwas zu verkaufen.»

«Aber wo ist denn da der Zusammenhang?», rief Franklin Clarke. «Dass ein Mann Strümpfe verkaufen kam, beweist doch nicht das Geringste!»

«Ich sage euch, meine Freunde, dass dies keine Zufälle gewesen sein können. Drei Morde – und vor jedem tauchte ein Mann auf, der mit Strümpfen hausierte, wobei er vermutlich die Schauplätze seiner Verbrechen genau studierte.»

Er wandte sich jäh nach Thora Grey um.

«A vous la parol! Beschreiben Sie diesen Mann!»

Sie sah ihn verzweifelt an.

«Das kann ich nicht… Beschreiben! Ich wüsste nicht wie! Er trug eine Brille… soweit ich mich erinnere… und einen schäbigen Regenmantel…»

«Mieux que ca, Mademoiselle!»

«Er ging leicht vornübergeneigt… Ich weiß wirklich nicht mehr! Ich sah den Menschen kaum an. Es war ein gänzlich unauffälliger Mann… Ja, das war er…»

Poirot sah sich ernst im Kreise um.

«Mademoiselle hat Recht. Das ganze Geheimnis dieser Morde liegt in dieser Beschreibung… denn er war der Mörder, daran ist nicht zu zweifeln: ‹Ein vollkommen alltäglicher, unauffälliger Mensch!›…»

Загрузка...