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Es war ein klarer Novembertag. Dr. Thompson und Chefinspektor Japp waren gekommen, um Poirot das Resultat des polizeigerichtlichen Verfahrens gegen Alexander Bonaparte Cust mitzuteilen. Ein leichter Bronchialkatarr hatte Poirot gehindert, den Verhandlungen beizuwohnen.

«Wie sehen Sie die ganze Sache, Doktor?», wandte Poirot sich an Thompson.

«Den Fall Cust? Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich sagen soll. Er spielt den Gesunden bemerkenswert gut. Natürlich ist er Epileptiker.»

«Die Lösung des Knotens war ja erstaunlich!», sagte ich.

«Dass er wie ein Klotz direkt in die Polizeistation Andover hineinfiel? Allerdings, kein Theaterstück hätte dramatischer enden können. ABC wusste ja seine Effekte immer sehr geschickt zu setzen.»

«Ist es möglich, dass man ein Verbrechen begeht, ohne dass man sich dessen bewusst ist?»

Dr. Thompson lächelte ein wenig über meine Frage.

«Nun, sein Leugnen klang doch stellenweise durchaus glaubwürdig!»

«Sie dürfen sich nicht von der theatralischen ‹Ich-schwöre-bei-Gott›-Pose beeindrucken lassen. Meiner Ansicht nach weiß Cust ganz genau, dass er die Morde begangen hat. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen», fuhr Thompson fort, «so ist es absolut möglich, dass ein Epileptiker in einem Zustand von nachtwandlerischer Benommenheit eine Tat verübt, von der er nachher nichts mehr weiß. Aber die Briefe zeigen in diesem Fall, dass Vorbedacht und sorgfältige Planung vorliegen.»

«Und wer diese Briefe geschrieben hat, wissen wir noch immer nicht», sagte Poirot.

«Interessieren Sie sich so sehr dafür?»

«Selbstverständlich! Sie waren schließlich an mich gerichtet! Und gerade im Hinblick auf diese Briefe bleibt Cust beharrlich bei seinem Leugnen. Solange die Herkunft dieser Briefe nicht zwingend und eindeutig geklärt ist, wird der Fall für mich nicht abgeschlossen sein.»

«Ja – diesen Standpunkt kann ich verstehen. Es liegt auch kein Grund vor, weshalb man annehmen sollte, dass Ihnen dieser Mann irgendwann mal im Leben begegnet ist.»

«Genauso denke ich auch.»

«Nun, dafür könnte es eine Erklärung geben. Ihr Name!»

«Mein Name?»

«Ja. Cust ist durch zwei reichlich bombastische Taufnamen belastet – Alexander und Bonaparte. Merken Sie was? Alexander, der unbesiegbare Held, der nach immer neuen Welten lechzte, die er hätte erobern können – und Bonaparte, der große Franzosenkaiser. Nun sucht er nach einem Gegner, nach einem ebenbürtigen Gegner natürlich, und da tauchen Sie auf – Herkules, der Starke.»

«Das alles ist einleuchtend, Doktor, und Ihre Gedanken schreien förmlich nach Weiterungen…»

«Ach, sie sind eine Anregung, sonst nichts. Ja, und jetzt muss ich gehen.»

Dr. Thompson ging. Japp blieb zurück.

«Bedrückt Sie das Alibi?» fragte Poirot.

«Ja, ein wenig schon», gestand der Inspektor. «Wohlgemerkt: Ich glaube nicht daran, weil es einfach nicht wahr sein kann. Aber es wird verteufelt schwer sein, es zu widerlegen. Dieser Strange ist ein hartnäckiger Kerl.»

«Beschreiben Sie ihn mir.»

«Vierzig Jahre alt. Stark, unbeugsam und selbstsicher – ein Mineningenieur. Ich vermute, dass er selber darauf bestanden hat, seine Aussage jetzt zu machen. Er möchte nach Chile abreisen und wollte die Sache noch vorher erledigt wissen.»

«Ich habe selten einen Menschen gesehen, der seiner Sache so sicher war wie er», sagte ich.

«Also jemand, der nicht leicht zugeben würde, dass er sich geirrt haben könnte», folgerte Poirot nachdenklich.

«Er hält stur an seiner Erzählung fest und ist durch nichts zu erschüttern. Er schwört bei seinem Augenlicht, dass er Cust am Abend des 24. Juli im ‹Whitecross› in Eastbourne getroffen hat. Er fühlte sich einsam und suchte nach einem Gesprächspartner. Cust gab anscheinend einen idealen Zuhörer ab, der sein Gegenüber nie unterbrach! Nach dem Abendessen spielten die beiden Domino. Strange behauptet von sich, ein hervorragender Dominospieler zu sein; aber zu seiner großen Verwunderung sei Cust ihm sozusagen ebenbürtig gewesen. Ein komisches Spiel – Domino. Die Leute können wie besessen davon sein. Stundenlang sieht man sie ganz versunken dasitzen. Und genau das haben Strange und Cust auch getan. Cust soll wiederholt verlangt haben, endlich schlafen zu gehen, aber Strange überhörte diesen Wunsch – bis mindestens um Mitternacht, das ist er bereit zu beschwören. Um zehn nach zwölf trennten sie sich dann. Und wenn also Cust um zehn Minuten nach Mitternacht im Hotel in Eastbourne war, dann kann er nicht gut Betty Barnard am Strand von Bexhill zwischen zwölf und ein Uhr erwürgt haben.»

«Das scheint tatsächlich ein unüberwindbares Problem darzustellen», sagte Poirot. «Wirklich, das gibt einem zu denken.»

«Crome jedenfalls verursacht es gehörige Kopfschmerzen», grinste Japp.

«Und dieser Strange ist also seiner Sache ganz sicher?»

«Unumstößlich sicher. Ein starrsinniger Teufel! Und es ist vorläufig nicht zu sehen, wo der Haken sitzen könnte. Angenommen, Strange irrt sich und der Mann ist nicht Cust gewesen – warum, um alles in der Welt, sollte er dann angegeben haben, Cust zu heißen? Und die Handschrift im Gästebuch ist die seinige. Man kann auch nicht voraussetzen, dass er sein Komplize gewesen ist – mordbesessene Wahnsinnige haben keine Komplizen! Starb das Mädchen vielleicht später? Der Arzt machte doch höchst präzise Angaben. Und dann hätte Cust immerhin einige Zeit gebraucht, um ungesehen aus dem Hotel zu entwischen und nach Bexhill hinüberzukommen – vierzehn Meilen entfernt…»

«Ja, es ist wirklich ein Problem», murmelte Poirot.

«Natürlich spielt es im Grunde genommen keine Rolle mehr. Wir haben Cust beim Mord in Doncaster erwischt – der blutbefleckte Mantel, das Messer –, daran gibt es nichts mehr zu rütteln. Nicht ein Geschworenengericht würde ihn daraufhin noch freisprechen. Aber es verdirbt unseren schönen Fall. Er beging den Mord in Doncaster. Er beging den Mord in Churston. Er beging den Mord in Andover. Dann muss er doch, bei allen Teufeln, auch den Mord in Bexhill begangen haben! Aber ich sehe nicht recht, wie!»

Er schüttelte verzweifelt den Kopf und stand auf.

«Jetzt haben Sie Ihre große Chance, Monsieur Poirot! Crome tappt vollkommen im Dunkeln. Lassen Sie nun dieses Zellenarrangement spielen, von dem ich schon soviel gehört habe! Enthüllen Sie uns, wie er diesen vierten Mord doch begangen haben könnte!»

Japp verabschiedete sich.

«Nun, Poirot? Werden die kleinen grauen Zellen Ihrer Aufgabe gewachsen sein?», fragte ich.

Poirot beantwortete meine Frage mit einer Gegenfrage.

«Sagen Sie, Hastings, betrachten Sie den Fall als abgeschlossen?»

«Ja, praktisch schon. Wir haben den Mann. Und wir haben erdrückende Beweise gegen ihn. Fehlen nur noch einzelne Verbindungsglieder.»

Poirot schüttelte den Kopf.

«Der Fall ist abgeschlossen! Der Fall! Aber der Fall ist der Mann, Hastings! Bevor wir nicht alles über den Mann wissen, ist der Tatbestand unklar wie eh und je. Ihn auf die Anklagebank gesetzt zu haben, bedeutet noch nicht den Sieg!»

«Wir wissen aber doch recht viel von ihm und über ihn.»

«Nichts wissen wir! Wir wissen, wo er geboren wurde. Wir wissen, dass er im Krieg gekämpft hat und dabei eine leichte Kopfverletzung davontrug, die dazu führte, dass er wegen Epilepsie vom Dienst befreit wurde. Wir wissen, dass er seit bald zwei Jahren bei Mrs. Marbury wohnte. Wir wissen, dass er ein stiller, zurückgezogener Mensch war – von der Sorte Mensch, die niemand beachtet. Wir wissen, dass er einen ungemein klugen Mordplan ausdachte und systematisch ausführte. Wir wissen, dass er ein paar unsäglich dumme Fehler machte. Wir wissen, dass er mitleidlos und sehr grausam mordete. Wir wissen auch, dass er weichherzig genug war, niemanden für seine Untaten büßen zu lassen. Wenn er unbehelligt hätte morden wollen – wie leicht hätte er da anderen die Schuld für seine Verbrechen aufbürden können! Merken Sie denn nicht, Hastings, dass dieser Mann aus lauter Widersprüchen zusammengesetzt zu sein scheint? Dumm und gerissen, grausam und weich – und dass es irgendetwas geben muss, was diese zwei Naturen verbindet?»

«Bitte, wenn Sie ihn natürlich als psychologisches Studienobjekt betrachten…», begann ich.

«Was war denn dieser ganze Fall anderes von Anfang an? Mühsam bin ich vorwärts gekrochen – immer bestrebt, den Mörder kennen zu lernen. Und jetzt, Hastings, sehe ich ein, dass ich überhaupt nichts von ihm weiß! Nichts, gar nichts!»

«Machtgier…»

«Ja, das würde manches erklären… Aber es befriedigt mich nicht. Es gibt so vieles, was mir unklar ist… Warum beging er diese Morde? Warum tötete er gerade diese Menschen?»

«Alphabetischer Komplex…»

«War denn Betty Barnard der einzige Mensch in ganz Bexhill, dessen Namen mit B begann? Betty Barnard… Dabei ist mir doch etwas aufgefallen… Ja, so muss es sein… Das muss ganz einfach stimmen… Aber dann…»

Er versank plötzlich in tiefes Schweigen. Ich wagte nicht, ihn zu stören. Tatsächlich muss es so gewesen sein, dass ich ganz unvermittelt einschlief. Ich erwachte erst, als Poirot mich sanft an der Schulter rüttelte.

«Mon cher Hastings», sagte er fast liebevoll, «mein guter Genius!»

Diese Ehrenerklärung verwirrte mich zutiefst.

«Doch, doch, das sind Sie wirklich», beharrte Poirot. «Immer helfen Sie mir! Immer wieder bringen Sie mir Glück! Sie inspirieren mich!»

«Ach? Und in welcher Hinsicht, wenn ich fragen darf?»

«Während ich mir verschiedene Fragen durch den Kopf gehen ließ, fiel mir eine Bemerkung ein, die Sie gemacht hatten – eine Bemerkung, die vor Klarheit förmlich funkelte. Sagte ich Ihnen nicht schon einmal, dass Sie im Festhalten des Unverkennbaren genial seien? Gerade diese augenfälligen, selbstverständlichen Dinge habe ich vernachlässigt.»

«Und meine brillante Bemerkung lautete wie?»

«Sie macht alles kristallklar. Nun weiß ich die Antwort auf alle meine Fragen. Den Grund für Mrs. Ascher habe ich lange schon geahnt; den für Sir Carmichael Clarke, den für den Doncaster-Mord und schließlich den letzten, wichtigsten, den für Hercule Poirot, machte mir erst Ihre Bemerkung klar.»

«Wollen Sie mir nicht bitte erklären…»

«Im Augenblick nicht. Ich brauche noch einige Auskünfte. Die kann ich von unserer Spezialbrigade bekommen. Und dann wenn ich eine ganz bestimmte Auskunft bekommen habe – dann werde ich ABC gegenübertreten – endlich – von Angesicht zu Angesicht – Hercule Poirot und ABC, die Gegner.»

«Und dann?», fragte ich.

«Und dann werden wir miteinander reden! Je vous assure, Hastings, es gibt für einen Menschen, der etwas zu verheimlichen hat, nichts Gefährlicheres als Konversation! Sprechen, hat mir einmal ein sehr kluger, alter Franzose gesagt, hindert den Menschen am Denken. Ferner stellt es das unfehlbarste Mittel dafür dar, Dinge aus ihm herauszubekommen, die er eigentlich verbergen will. Kein Mensch, Hastings, kann der Versuchung widerstehen, sich in einer Unterhaltung auszudrücken, sich zu erklären. Er wird sich im Gespräch unweigerlich verraten.»

«Was erwarten Sie denn von Cust zu hören?»

Hercule Poirot lächelte.

«Eine Lüge. Und durch sie werde ich die Wahrheit erfahren.»

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