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Konferenzen!

In meiner Erinnerung lebt der ABC-Fall als eine Anhäufung von Konferenzen fort!

Konferenzen in Scotland Yard. In Poirots Wohnung. Offizielle Konferenzen. Private Konferenzen.

Diese besondere Konferenz galt dem Beschluss, ob man die mit den anonymen Briefen zusammenhängenden Tatsachen in den Zeitungen veröffentlichen sollte oder nicht. Der Mord in Bexhill hatte viel mehr Staub aufgewirbelt als der von Andover. Er war ja auch tatsächlich dazu angetan, eine breitere Öffentlichkeit zu interessieren. Erstens war das Opfer ein junges, hübsches Mädchen, und zweitens hatte er in einem bekannten, viel besuchten Badeort stattgefunden.

Jede Einzelheit des Verbrechens wurde ungekürzt in allen Zeitungen breit getreten; täglich tauchten neue Vermutungen auf, die ebenfalls analysiert und gedeutet wurden. Der ABC-Fahrplan spielte eine wesentliche Rolle in diesen Artikeln. Die beliebteste Theorie war die, dass er in Bexhill selber gekauft worden sei und dass diese Tatsache wertvolle Schlüsse über die Person des Täters zulasse. Auch beweise sie, dass der Mörder per Zug gekommen sei und beabsichtigt habe, nach London zu reisen. Da der Fahrplan in den mageren Berichten über den Mord in Andover nicht erwähnt worden war, lag es kaum nahe, dass die öffentliche Meinung die beiden Verbrechen miteinander in Verbindung bringen würde.

«Wir müssen uns zu einem Vorgehen entschließen», sagte Sir Lionel, der Commissioner der Londoner Kriminalpolizei. «Die Frage ist nur, auf welche Weise wir die besten Resultate erzielen. Sollen wir der Öffentlichkeit alle uns bekannten Tatsachen mitteilen, sie zur Mitarbeit auffordern, um nach dem Geisteskranken zu suchen…»

«Der notabene keineswegs wie ein solcher aussehen wird», warf Dr. Thompson ein.

«… um nach Verkäufen von ABC-Fahrplänen zu forschen und so weiter und so weiter? Demgegenüber würde es einen unbedingten Vorteil bedeuten, sich bedeckt zu halten, unbemerkt weiterzuarbeiten und unseren Mann nicht wissen zu lassen, worauf wir aus sind. Andrerseits weiß er natürlich ganz genau, dass wir manches wissen. Er hat ja schließlich selber die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, indem er diese Briefe schrieb… Nun, Crome, was sagen Sie dazu?»

«Ich betrachte die Sache so, Sir: Wenn Sie die Angelegenheit publik machen, kommen Sie ABC entgegen, denn das ist es ja gerade, was er sucht – Aufsehen, Berühmtheit. Nur daran ist ihm gelegen. Glauben Sie nicht auch, Doktor?»

Thompson nickte.

Der Commissioner dachte über diese Ansicht nach.

«Also sind Sie dafür, dass wir ihn ignorieren? Dass wir ihm den Ruhm, nach dem er strebt, verweigern? Und Sie, Monsieur Poirot?»

Poirot antwortete nicht sofort. Als er schließlich sprach, setzte er seine Worte ungemein sorgfältig.

«Eine Entscheidung ist schwer für mich, Sir Lionel», sagte er. «Ich bin schließlich sozusagen ein Hauptakteur, da die brieflichen Herausforderungen an mich gerichtet wurden. Wenn ich nun sage: Unterschlagen Sie diese Tatsache, machen Sie sie nicht publik – wird man mir diese Stellungnahme nicht als Eitelkeit auslegen? Wird man nicht denken, dass ich um meinen Ruf besorgt sei? Es ist recht schwierig! Alles zu sagen, aus nichts ein Hehl zu machen – das bietet viele Vorteile. Zumindest kommt es einer Warnung gleich… Aber auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass Inspektor Crome ganz Recht hat, dass der Mörder nach dieser traurigen Berühmtheit lechzt.»

«Hm, ja», murmelte der Commissioner und rieb sich das Kinn. Er sah Dr. Thompson an. «Wenn wir dem Wahnsinnigen die Publizität verweigern, nach der er zu dürsten scheint, Doktor, was wird er dann tun?»

«Einen weiteren Mord begehen», antwortete der Arzt sofort.

«Und wenn wir die ganze Affäre in dicken Schlagzeilen veröffentlichen?»

«Ebenfalls. Das eine würde seinem Größenwahn schmeicheln, das andere käme einer Beleidigung seiner Person gleich, und das Ergebnis wäre in jedem Fall ein neues Verbrechen.»

«Eine Zwickmühle, wie? Und wie viele Morde plant dieser Verrückte noch Ihrer Ansicht nach?»

Dr. Thompson sah Poirot an.

«Vermutlich von A bis Z», antwortete er lachend, wurde aber gleich wieder ernst. «Das wird ihm natürlich niemals gelingen. Sie werden ihn lange vorher gefasst haben. Mich hätte allerdings interessiert, wie er beim Buchstaben X verfahren wäre.» Fast schuldbewusst fiel ihm ein, dass eine solche Spekulation eigentlich grausig klang, und er korrigierte sich selber, indem er rasch einwarf: «Aber Sie werden den Mann vorher fangen, sagen wir beim G oder H.»

Der Commissioner ließ plötzlich die Faust auf die Tischplatte sausen.

«Herrgott, wollen Sie damit sagen, dass wir mit fünf weiteren Morden zu rechnen haben?»

«So viele werden es nicht sein, Sir», sagte Crome. «Verlassen Sie sich auf mich!»

Das klang selbstbewusst und überzeugend.

«Auf welchen Buchstaben des Alphabets tippen Sie, Inspektor?», fragte Poirot, und es klang Ironie in seiner Stimme mit. Crome sah ihn mit so viel deutlicher, empörter Abneigung an, dass es seinem sonst so überlegenen Gehabe ein bisschen Abbruch tat.

«Vielleicht erwische ich ihn schon beim nächsten Mal, Monsieur Poirot. Auf jeden Fall spätestens beim Buchstaben F.»

Er wandte sich wieder seinem Vorgesetzten zu.

«Ich bilde mir ein, Sir, die psychologische Seite des Falles so ziemlich erfasst zu haben. Dr. Thompson wird mich korrigieren, falls ich mich geirrt haben sollte. Ich stelle mir vor, dass jedes geglückte neue Verbrechen die Selbstsicherheit dieses Menschen um hundert Prozent erhöht. Jedes Mal, wenn er sich sagen kann: ‹Ich bin gerissen, sie erwischen mich nicht› – wächst sein Selbstvertrauen, und er wird so übermütig, dass er eines Tages zu unvorsichtig werden wird. Er überschätzt seine eigene Intelligenz und die Dummheit aller anderen. Bald wird er es überhaupt nicht mehr für nötig halten, irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Ist das richtig, Doktor?»

Thompson nickte. «Das ist meistens der Fall. In nichtmedizinischen Ausdrücken hätte man den Fall nicht besser darlegen können. Sie sind doch in diesen Dingen ebenfalls sehr bewandert, Monsieur Poirot. Sind Sie nicht auch meiner Meinung?»

Ich glaube, dass Crome diese Frage an Poirot seitens des Arztes nicht sonderlich schätzte. Er hielt sich – und nur sich – für den Sachverständigen in diesen Fragen.

«Doch, Inspektor Crome hat vollkommen Recht», sagte Poirot.

«Paranoia», murmelte der Arzt.

«Haben Sie schon rein materielle Anhaltspunkte in diesem Bexhill-Mord eruieren können, Inspektor?», fragte Poirot.

«Nichts Bestimmtes. Ein Kellner im ‹Splendide› von Eastbourne erkannte anhand der Fotografie des toten Mädchens eine junge Dame, die mit einem Herrn mittleren Alters, der eine Brille trug, in dem Lokal speiste. Auch in einem Gasthaus, auf halbem Weg zwischen Bexhill und London, konnte man sich dem Bild nach an sie erinnern. Dort behauptet man allerdings, sie sei mit einem Herrn gekommen, der wie ein Marineoffizier ausgesehen habe. Beide Versionen können nicht stimmen, aber eine wird sicher zutreffen. Natürlich liegen noch eine ganze Menge anderer Identifizierungen vor, aber die meisten taugen überhaupt nichts. Auf die Spur des ABC hat uns nicht eine einzige davon gebracht.»

«Nun, Sie scheinen jedenfalls alles getan zu haben, was getan werden konnte», sagte der Commissioner anerkennend. «Sind Sie nicht auch meiner Ansicht, Monsieur Poirot? Oder fällt Ihnen vielleicht noch eine Linie ein, die zu verfolgen man bisher versäumte?»

«Meines Erachtens gibt es hier überhaupt nur eine wirklich wichtige Frage zu lösen», antwortete Poirot nachdenklich, «und das ist die Frage nach dem Motiv für die Morde!»

«Liegt das denn nicht auf der Hand? Ein alphabetischer Komplex. So nannten Sie es doch, nicht wahr, Doktor?»

«Bien sûr, oui», stimmte Poirot ihm bei. «Ein alphabetischer Komplex. Gerade Verrückte haben ja immer besonders stichhaltige Gründe für die Verbrechen, die sie begehen.»

«Aber, aber, Monsieur Poirot», mischte Crome sich ins Gespräch. «Denken Sie an Stoneman Anno 1929! Der versuchte doch schließlich, jeden Menschen umzubringen, der ihm nur im Entferntesten auf die Nerven ging.»

«Gewiss.» Poirot wandte sich dem Inspektor zu. «Aber wenn Sie ein großer und wichtiger Mann sind, dann ist es nur richtig, dass Ihnen auch die kleinsten Belästigungen erspart bleiben. Wenn sich eine Fliege mit unbezwinglicher Hartnäckigkeit immer und immer wieder auf Ihrer Stirn niederlässt – was tun Sie dann? Sie versuchen diese Fliege totzuschlagen, und zwar ohne die geringsten Gewissensbisse. Sie sind wichtig – die Fliege ist es nicht. Also töten Sie die Fliege, und die Belästigung hört auf. Ihre Handlungsweise erscheint Ihnen durchaus richtig und berechtigt. Ein anderer Grund für das Töten von Fliegen ist der Hang zur Hygiene. Die Fliege ist eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle für die menschliche Gemeinschaft, also muss sie vernichtet werden. Und genauso folgert das Gehirn eines geistesgestörten Verbrechers. Aber betrachten Sie nun einmal diesen besonderen Fall. Wenn die Opfer nach alphabetischen Gesichtspunkten ausgewählt wurden, dann können sie nicht beseitigt worden sein, weil sie dem Täter lästig fielen. Diese beiden Möglichkeiten zu kombinieren, würde denn doch zu viel zufälliges Zusammentreffen heißen.»

«Das ist ein Gesichtspunkt», warf Dr. Thompson ein. «Ich erinnere mich an eine Frau, deren Mann zum Tode verurteilt worden war und die daraufhin die Geschworenen einen nach dem anderen tötete. Es dauerte eine ganze Weile, bis man die verschiedenen Morde miteinander in Verbindung brachte, so zufällig kamen sie einem vor. Aber wie Monsieur Poirot sehr richtig bemerkte: Es gibt keinen Mörder, der grundlos mordet. Entweder schafft er Leute beiseite, die ihm (wenn auch in absolut bedeutungslosen Dingen) im Wege stehen, oder er tötet aus irgendeiner Überzeugung heraus, bringt lauter Pfarrer oder Polizisten oder Prostituierte um, weil er fest daran glaubt, dass diese Menschen umgebracht werden müssen. Auch diese Variante trifft aber in unserem Fall nicht zu, soweit ich die Lage zu überblicken vermag. Mrs. Ascher und Betty Barnard können ihrer Herkunft nach unmöglich miteinander in Verbindung gebracht werden. Vielleicht handelt es sich auch um einen Geschlechtskomplex. Beide Opfer waren Frauen. Nach dem nächsten Mord werden wir klarer sehen…»

«Um Himmels willen, Thompson, sprechen Sie nicht so beiläufig vom nächsten Mord!», unterbrach ihn Sir Lionel. «Wir werden tun, was in unseren Kräften steht, um diesen nächsten Mord zu verhindern!»

Dr. Thompson unterdrückte eine zynische Antwort und schnäuzte sich dafür um so lauter.

«Bitte, wie Sie meinen, mein Guter», schien dieses trompetende Geräusch auszudrücken, «wenn Sie nicht den Mut haben, den Tatsachen ins Auge zu sehen…!»

Sir Lionel sah Poirot groß an.

«Ich ahne, worauf Sie hinauswollen, Monsieur Poirot, aber wirklich klar sehe ich noch nicht.»

«Ich versuche mir vorzustellen, was im Gehirn des Mörders vorgeht», erklärte Poirot. «Nach seinen Briefen zu urteilen, tötet er pour le sport, um sich zu amüsieren. Aber kann das wirklich sein? Und wenn es stimmt – nach welchen Gesichtspunkten wählt er dann seine Opfer aus, von der rein alphabetischen Ordnung abgesehen? Wenn er wirklich lediglich um seines Vergnügens willen mordet, dann würde er uns doch vermutlich seine Absichten nicht vorher bekannt geben. Heimlich und still ausgeführt, würden seine Verbrechen vielleicht unentdeckt bleiben und er straflos ausgehen. Aber nein! Er sucht ja, wie wir alle wissen, öffentliches Aufsehen, eine Bestätigung seiner Persönlichkeit. In welcher Art können die beiden Opfer, die er bis dahin ausgewählt hat, seine Persönlichkeit unterdrückt oder eingeengt haben? In welchen Zusammenhang könnte man ihn und die beiden Frauen bringen?… Eine letzte Vermutung: Ist sein Mordmotiv persönlicher Hass auf mich, Hercule Poirot? Fordert er mich in aller Öffentlichkeit heraus, weil ich ihm – unbewusst – irgendwann im Laufe meiner Karriere eine Niederlage bereitet habe? Oder ist seine Gereiztheit unpersönlich und ganz einfach gegen einen Ausländer gerichtet, und wenn ja, was kann ihn dazu geführt haben? Welches Unrecht hat er durch einen Landesfremden einmal erleiden müssen?»

«Sehr einleuchtende Fragen», bemerkte Dr. Thompson.

Inspektor Crome räusperte sich.

«Glauben Sie? Ein wenig schwierig zu beantworten vielleicht, nein? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls!»

«Und doch, mein Freund, ist die Lösung des Falles in diesen Fragen enthalten.» Poirot sah dem Inspektor fest in die Augen. «Wenn wir wüssten, aus welchem Grund – wie fantastisch er uns auch vorkommen mag, ihm erscheint er durchaus logisch – dieser Wahnsinnige seine Verbrechen beging, dann würde uns vielleicht klar, wer das nächste Opfer sein wird.»

Crome schüttelte den Kopf.

«Er wählt sie völlig willkürlich aus, das ist meine feste Überzeugung.»

«Der großmütige Mörder», murmelte Poirot.

«Wie bitte?»

«Ich sagte: der großmütige Mörder! Franz Ascher wäre voraussichtlich des Mordes an seiner Frau, Donald Fraser des Mordes an Betty Barnard angeklagt worden, wenn ABC nicht seine Warnbriefe geschrieben hätte. Ist er denn so weichherzig, dass er den Gedanken nicht ertrüge, einen Unschuldigen für ein Verbrechen leiden zu sehen, das dieser nicht begangen hat?»

«Es geschehen noch weit eigenartigere Dinge», sagte Dr. Thompson. «Ich habe Männer gekannt, die nach einem halben Dutzend Morden plötzlich vollkommen zusammenbrachen, weil eines ihrer Opfer nicht rasch und schmerzlos starb, sondern qualvoll zu Grunde ging. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass unser Täter sich von solchen Motiven leiten lässt. Er will den Ruhm und die Ehre dieser Verbrechen für sich allein haben. Diese Erklärung scheint mir die einleuchtendste zu sein.»

«Wir haben noch keinen Entschluss gefasst bezüglich der Veröffentlichung», erinnerte der Londoner Commissioner.

«Darf ich einen Vorschlag machen, Sir?», fragte Crome eifrig. «Warten wir den nächsten Brief ab. Dann allerdings publizieren wir den ganzen Fall mit allen Einzelheiten, ganz groß, Spezialausgaben, dicke Schlagzeilen – und so weiter. Das wird zwar in der Stadt, die uns der Mörder als nächsten Tatort nennen wird, eine gewisse Panik auslösen, aber andererseits wird es jeden Menschen, dessen Name mit einem C beginnt, aufrütteln und zu besonderer Vorsicht veranlassen, was das Vorgehen von ABC erheblich erschweren wird. Er muss, um auch diesmal zu triumphieren, besonders raffiniert sein, und dabei werden wir ihn erwischen.»

Wie wenig ahnten wir doch, was uns die Zukunft bringen sollte.

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