8

Vivians Herz begann wild zu schlagen, als sie durch den schmalen Gang zum Ballsaal zurückging. Der leere, helle Fleck an der Wand, an der der Spiegel gehangen hatte, schien sie höhnisch anzugrinsen. Sie wußte jetzt, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Ihre Nervosität war nicht unbegründet gewesen, und das Gefühl der Bedrohung, das wie ein übler Pesthauch über dem Ball zu schweben schien, entsprang ganz und gar nicht ihrer Einbildung.

Sie blieb am Eingang des Ballsaales stehen und hielt über das Meer wogender Köpfe nach Mark Ausschau, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Bei der Anzahl der hier versammelten Menschen würde es fast an ein Wunder grenzen, einen einzelnen Mann auf Anhieb herauszufinden.

Jemand berührte sie zaghaft an der Schulter. »Äh ... Verzeihung ...«

Vivian fuhr unnötig heftig herum, »Ja?«

»Sie ... Sie sind Missis Taylor?« fragte der Mann. Er war groß, beinahe ein Riese und höchstens zwanzig Jahre alt. Seine Schultern schienen sein Jackett sprengen zu wollen, und seine Hände, die ungeschickt den zerbrechlichen Stiel eines Sektglases umklammerten, schienen eher dazu geneigt, einen Schmiedehammer zu schwingen.

»Ich bin Missis Taylor«, antwortete Vivian. »Warum?«

Der Junge lächelte ungeschickt. »Sie ... Sie werden mich nicht kennen«, sagte er unbeholfen. »Aber ich muß Sie sprechen. Sofort.«

»Warum?«

»Sehen Sie, das ist ...« Er brach ab und suchte sichtlich nach Worten. »Ich habe Sie beobachtet«, stieß er schließlich hervor. »Vorhin, als Sie mit Bender und den anderen sprachen. Und ... Sie haben es gemerkt, nicht?«

»Was gemerkt?« fragte Vivian. Irgend etwas an dem Jungen störte sie, etwas, das sie auf beunruhigende Art an Bender und Cramer und die anderen erinnerte. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Die Spiegel«, sagte er. »Ich weiß, was es damit auf sich hat. Aber ... sehen Sie, niemand würde mir glauben. Und da habe ich gedacht, Sie ...« Er stockte, spielte nervös mit seinem Glas und warf Vivian einen fast flehenden Blick zu. »Vielleicht gehen wir irgendwohin, wo wir in Ruhe sprechen können«, sagte er dann. »Ich ... ich traue hier niemandem.«

Vivian zögerte noch. Sie wünschte sich, Mark wäre hier, aber sie konnte ihn auch jetzt nirgends entdecken. »Gut«, sagte sie schließlich. »Gehen wir.«

Der Junge nickte erleichtert, stellte sein Glas auf den Tisch und machte eine einladende Bewegung. »Dort drüben ist ein kleiner Salon«, sagte er. »Dort können wir reden.«

Sie folgte ihm in einen kleinen, im altenglischen Stil eingerichteten Raum, der dazu dienen mochte, Partygäste Gelegenheit zur Ruhe oder zu einem privaten Flirt zu geben. Im Augenblick war er leer, aber eine Anzahl benutzter Gläser und der Geruch von kaltem Zigarettenrauch in der Luft verrieten, daß er vor wenigen Augenblicken benutzt worden war.

»Also«, sagte Vivian, nachdem sie den Raum betreten hatte, »was gibt es so Geheimnisvolles?« Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie der Mann die Tür hinter sich ins Schloß zog und den Schlüssel herumdrehte. »Was ...«

»Sie interessieren sich für das Geheimnis der Spiegel, nicht wahr, Missis Taylor?« sagte der Fremde. Seine Stimme klang plötzlich ganz anders als noch vor wenigen Sekunden. Überhaupt schien er sich vollkommen verändert zu haben. Das war nicht mehr der große Junge, der sie mit vor Aufregung zitternder Stimme hierhergebeten hatte. Vivian spürte plötzlich die Gefahr, die von dem Fremden ausging. Eine Aura der Gewalt schien ihn zu umgeben. Es war das gleiche Gefühl, das sie schon bei der Begegnung mit dem Polizeipräsidenten gehabt hatte. »Sie sollen es erfahren.«

»Öffnen Sie sofort die Tür!« befahl Vivian.

Ein häßliches Lächeln spielte um die Lippen des Riesen. Er trat zurück, lehnte sich mit den Schultern gegen die Tür und verschränkte die Arme. »Nicht, bevor ich Ihnen mein kleines Geheimnis gezeigt habe«, sagte er. »Sie haben sich schon gedacht, daß es mit dem Verschwinden der Spiegel etwas Besonderes auf sich hat, nicht wahr? Sie sind eine intelligente junge Frau mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, Missis Taylor.« Er stieß sich vom Türrahmen ab und blieb zwei Schritte vor Vivian stehen. »Schauen Sie!« Seine ausgestreckte Rechte deutete auf irgend etwas an der Wand hinter ihr.

Vivian überlegte kurz, ob es sich um einen Trick handelte, begriff dann aber, daß sie ohnehin schon in der Falle saß und drehte sich um. Ein breiter, aus wuchtigem Naturstein erbauter Kamin beherrschte beinahe die gesamte Rückwand des Salons. Darüber hing ein großer, rechteckiger und von einem weißen Laken verhüllter Gegenstand an der Wand.

»Nehmen Sie das Tuch herunter«, befahl der Fremde.

Vivian ging automatisch zum Kamin hinüber. Sie spürte instinktiv, daß ihr von dort Gefahr drohte, aber ihre Hände schienen ihrem Willen nicht mehr zu gehorchen. Sie griff hinauf, packte das weiße Leinen mit beiden Händen und zog es mit einem energischen Ruck herunter.

An der Wand hing ein riesiger Spiegel.

Vivian schrie unwillkürlich auf, als sie hineinsah. Der Spiegel zeigte ein getreues Abbild des Raumes hinter ihr. Mit ihrer eigenen Gestalt.

»Verstehen Sie jetzt, warum es in diesem Haus keine Spiegel gibt?« fragte der Fremde leise. Vivian spürte den warmen Atem des Mannes an ihrem Ohr, hörte das Rascheln seiner Kleidung ... aber der Mann selbst war im Spiegel nicht zu sehen!

Für eine endlose, quälende Sekunde stand sie wie gelähmt da und versuchte, das Unglaubliche zu verstehen. Dann fuhr sie mit einem spitzen Aufschrei herum, tauchte unter den zupackenden Händen des Hünen hindurch und hetzte zur Tür. Mit fliegenden Fingern drehte sie den Schlüssel herum und griff nach der Klinke, obwohl sie wußte, daß sie es nicht schaffen würde.

Der Mann war mit einem einzigen, schnellen Schritt bei ihr, packte sie an der Schulter und schleuderte sie in den Raum zurück. »Ich habe Sie nicht nur hierhergebeten, um Ihnen den Spiegel zu zeigen«, sagte er spöttisch. »Ich fürchte, Sie werden mich begleiten müssen.«

Vivians Herz begann wild zu schlagen. Sie spürte, daß es hier um viel mehr als ein gewöhnliches Verbrechen ging. Irgend etwas an ihrem Gegner irritierte sie, jagte ihr größere Furcht ein als die Gefahr, in der sie sich befand. Der junge Hüne war kein Entführer, der es auf ein Lösegeld abgesehen hatte, auch kein Terrorist, dessen war sie sich völlig sicher. Sie wich unwillkürlich zurück, als er auf sie zutrat. Er sah aus wie ein Mensch, bewegte sich und sprach wie einer - aber etwas an ihm war ... falsch.

Vivian kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Der Mann sprang mit einem wütenden Knurren auf sie zu und versuchte sie zu Boden zu reißen. Sie taumelte unter dem Anprall des schweren Körpers zurück, wich seinem Fausthieb instinktiv aus und ließ den Angreifer über ihr vorgestrecktes Bein stolpern. Der Riese krachte schwer zu Boden. Vivian spürte instinktiv, daß sie dem Mann keine Chance geben durfte, wenn sie dieses Zimmer lebend verlassen wollte. Sie sprang zurück, atmete hörbar ein und ließ ihren Ellbogen mit vernichtender Wucht in den Nacken des Mannes krachen. Der Hüne stöhnte dumpf und brach ein zweites Mal zusammen. Es gab einen seltsamen, metallischen Ton, als sein Körper auf die Marmorfliesen krachte.

Von Kindheit an hatte Vivian viel Sport getrieben, und seit der Hochzeit mit Mark hatte sie auch begonnen, Kampfsport zu erlernen. Sie war nicht gerade das weibliche Gegenstück zu Chuck Norris geworden, aber sie beherrschte eine Reihe von Tricks, mit denen sie selbst Gegner, die ihr an Körpergewicht weit überlegen waren, außer Gefecht setzen konnte.

Aber diesmal blieb die erhoffte Wirkung aus.

Ungläubig sah Vivian, wie ihr Gegner ein drittes Mal auf die Füße kam und sich auf sie zu bewegte. Jeder normale Mensch wäre nach einem solchen Schlag für Stunden bewußtlos gewesen, aber dem Fremden schien die Attacke nicht sonderlich viel auszumachen.

»Sie sollten einsehen, daß Sie verloren haben, Missis Taylor«, sagte er leise. »Es ist vollkommen sinnlos, weiteren Widerstand zu leisten. Ihnen wird nichts geschehen.«

Vivian sprang mit einem wütenden Schrei auf ihn los, fegte seine zupackende Hand beiseite und schmetterte ihm die Handkante gegen die Halsschlagader. Ein dumpfer, betäubender Schmerz zuckte durch ihren Atem. Sie spürte, wie die Kraft, die sie in den Schlag legte, von ihrem Gegner abglitt. Der Mann lachte, griff mit einer blitzschnellen Bewegung nach ihrem Arm und schleuderte sie grob zu Boden.

Vivian rollte sich blitzschnell zur Seite. Neben ihr krachte der schwere Körper des Angreifers auf den Marmorfußboden. Eine Hand tastete nach ihr, versuchte sie zu packen und fetzte ein Stück Stoff aus ihrem Kleid. Schweratmend kam sie hoch und versuchte, die Tür zu erreichen, aber ihr Gegner reagierte mit übermenschlicher Schnelligkeit. Er sprang auf, hetzte hinter ihr her und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie.

Vivian wurde unter dem Angreifer regelrecht begraben. Instinktiv versuchte sie, dem Angreifer noch im Fallen das Knie in den Leib zu rammen, aber das einzige Ergebnis war ein dumpfer, lähmender Schmerz, der durch das Bein bis in die Hüfte hinaufschoß, und sie aufschreien ließ. Vivian hatte das Gefühl, unter einer niederstürzenden Marmorstatue begraben zu werden.

Der Unheimliche schien gegen Schmerzen völlig immun zu sein. Sein haßverzerrtes Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter über ihr. »Geben Sie endlich auf, Missis Taylor«, keuchte er. »Ich möchte Sie nicht verletzen.«

Vivian glaubte ihm kein Wort, sondern wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung. Sie bäumte sich auf, trat um sich und versuchte, den auf ihr hockenden Gegner abzuschütteln, aber ihre Bemühungen blieben erfolglos. Sie spürte, wie ihre Kräfte allmählich nachließen. Der Mann preßte sie mit übermenschlicher Kraft gegen den Boden. Seine riesigen Hände hatten sich wie Schraubstöcke um ihre Handgelenke geschlossen.

Ein dumpfer Schlag erschütterte die Tür.

Der Kopf des Angreifers ruckte herum. Für einen Sekundenbruchteil war er abgelenkt, und Vivian nutzte die Gelegenheit sofort aus. Sie zog blitzschnell die Knie an, rammte sie dem Mann gegen die Brust und schleuderte ihn mit letzter Kraft von sich.

Wieder wurde gegen die Tür geschlagen, und Vivian hörte Mastertons Stimme dumpf durch das Holz dringen. »Missis Taylor? Sind Sie dort drinnen?« Masterton unterstützte seine Worte mit ein paar kräftigen Hieben, die die Türfüllung erzittern ließen.

»Helfen Sie mir!« rief Vivian. Sie rappelte sich mühsam hoch, wich rückwärts gehend vor dem unheimlichen Angreifer zurück und sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch es gab keine. Der Raum besaß zwar zwei schmale, hohe Fenster, aber ganz davon abgesehen, daß ihr Gegner ihr sicher nicht die Zeit lassen würde, sie zu öffnen, befand sich das Zimmer im zweiten Stock. Sie stieß gegen ein Hindernis, tastete blind hinter sich und spürte Glas und Chrom unter ihren Fingern. Mit einer blitzschnellen, ansatzlosen Bewegung fuhr sie herum, riß den Teewagen hoch und schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Angreifer. Der Mann riß schützend die Arme vors Gesicht und wich zur Seite aus, aber seine Reaktion kam um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Vivians improvisiertes Wurfgeschoß riß ihn von den Beinen und ließ ihn in einem Hagel von zersplitterndem Glas niederstürzen.

Der Lärm schien auch draußen gehört worden zu sein. Die Tür erbebte plötzlich unter dem wuchtigen Anprall eines schweren Körpers. Holz splitterte, dann flog die gesamte Tür nach innen und krachte gegen die Wand, als Jonathan Masterton sich ein zweites Mal dagegenwarf. Er stolperte, von der Wucht seines eigenen Stoßes mitgerissen, ein paar Schritte weit ins Zimmer hinein und warf sich mit einem wütenden Knurren auf den Angreifer.

Der Mann wandte sich mit haßverzerrtem Gesicht seinem neuen Gegner zu, streckte die Arme aus und fand sich im nächsten Augenblick auf dem Rücken liegend wieder, als Masterton sich abduckte und ihm die Beine wegtrat.

»Passen Sie auf!« schrie Vivian. »Er ist gefährlich!«

Masterton schien ihre Worte gar nicht zu hören. Er wartete, bis der Fremde keuchend wieder hochgekommen war, griff dann mit überraschender Schnelligkeit nach dessen Rockaufschlägen und setzte zu einem perfekten Schulterwurf an. Der Riese wurde wie ein gewichtsloses Spielzeug durch die Luft gewirbelt und landete keuchend auf einem Sofa, das unter dem Aufprall zusammenbrach.

Masterton schnaubte verächtlich, reckte kampflustig das Kinn vor und kam auf Vivian zu. »Was wollte der Kerl von Ihnen?« fragte er.

Vivians Warnung kam zu spät. Sie hatte die Bewegung aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen - ein huschendes, nebelhaftes Fließen und Gleiten auf der polierten Oberfläche des Spiegels -, aber es ging viel zu schnell, als daß sie oder Masterton noch Zeit zur Flucht oder Gegenwehr hatten.

Für einen Moment wurde das Glas milchig, dann traten zwei, drei weitere Gestalten direkt aus dem Spiegel heraus; große, hochgewachsene Männer in altmodischen Straßenanzügen und mit Schmalzlocken, die so aussahen, als wären sie aus einem Spielfilm der späten fünfziger Jahre entsprungen.

Zwei der Männer stürzten sich mit wütenden Schreien auf Masterton und rangen ihn nieder, während der dritte auf Vivian zustürmte. Auch der Hüne war wieder auf den Beinen und wandte sich zu ihr.

Vivian wehrte sich verzweifelt, doch sie spürte, wie ihre Kraft beinahe mit jeder Sekunde nachließ. Ihr Atem ging hektisch und stoßweise, und in ihrem Mund war ein bitterer Geschmack. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Masterton einen seiner Gegner mit einer geschickten Drehung zu Fall brachte und den anderen kurzerhand über den Haufen rannte. Der Manager hielt sich in dem ungleichen Kampf besser, als Vivian dies angesichts seines Alters für möglich gehalten hätte. Trotzdem war es nur noch eine Frage von Augenblicken, bis ihn die beiden Angreifer überwältigt haben würden. Mastertons Judogriffe, mit denen er die übermenschliche Kraft der Angreifer gegen diese selbst richtete, schleuderten sie immer wieder zu Boden, doch die unheimlichen Fremden schienen unverletzbar zu sein. Aus eigener Kraft würde sich Masterton nicht mehr lange halten können.

Aber Vivian hatte keine Zeit, ihm zu Hilfe zu eilen. Die beiden Männer drängten sie unbarmherzig in die Ecke, versuchten immer wieder, sie zu fassen und schienen ihre wütende Gegenwehr gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das einzige, was sie noch daran hinderte, sie einfach mit bloßer Gewalt niederzuringen, war ihr offenkundiges Bemühen, sie nicht zu verletzen. Wer immer hinter dieser heimtückischen Falle steckte - er schien es darauf abgesehen zu haben, sie nicht nur lebend, sondern nach Möglichkeit sogar unversehrt in die Hände zu bekommen.

Sie tauchte unter den ausgestreckten Armen des Angreifers hindurch und rammte ihm den Ellbogen in die Rippen. Aber genausogut hätte sie versuchen können, eine der Marmorsäulen draußen in der Halle auf diese Weise zu fällen. Sie taumelte, prallte gegen die Wand und stieß den Fremden unter Aufbietung aller Kraft von sich. Seine nieder sausende, zu einer Kralle verkrümmten Hand verfehlte sie nur um Millimeter.

Vivians Blick glitt hilfesuchend durch den Raum, streifte den Spiegel und erhaschte eine kurze, aber witzige Szene: Sie sah Jonathan Masterton, der einen unsichtbaren Gegner über die Schulter schleuderte und gleich darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie brach.

»Gib endlich auf!« zischte einer der Männer. Vivian sah, wie sich seine Brust in hektischen Stößen hob und senkte. Feiner, glitzernder Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er ging unmerklich in die Knie, breitete die Arme aus und kam einen Schritt näher. Sein Atem ging keuchend. Die unheimlichen Gestalten mochten unverwundbar sein, aber sie kannten wenigstens Erschöpfung.

Vivian sprang. Ihr Fuß kam in einem perfekten Halbkreis hoch und traf den Gegner auf der Brust. Der Mann schrie auf, taumelte zurück und prallte gegen einen seiner Begleiter. Ein hoher, singender Ton zerriß die Luft, als die beiden Körper mit ungeheurer Wucht zusammenstießen.

Sofort reagierte Vivian. Sie hechtete vor, rammte einem dritten Angreifer, der inzwischen von Jonathan Masterton abgelassen hatte, die Schulter in den Magen und versuchte, die Tür zu erreichen.

Sie schaffte es nicht.

Irgend etwas krachte hart und schmerzhaft gegen sie. Vivian wurde von den Füßen gerissen, rollte sich instinktiv ab und blieb schweratmend liegen. Als sich die blutigen Schleier vor ihren Augen lichteten, sah sie die Gestalten der drei Männer groß und drohend über sich aufragen. Die drei griffen jedoch kein weiteres Mal mehr an; sie schienen zu spüren, daß von ihr jetzt keine Gefahr mehr ausging. Einer von ihnen eilte zur Tür, schloß sie und lehnte sich grinsend dagegen, während die beiden anderen Vivian beim Aufstehen halfen und sie vor sich hertrieben. Ihre Gesichter waren so unbeweglich, als wären sie Statuen.

Vivian wich Schritt für Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Sie fühlte sich ausgebrannt, zu Tode erschöpft und unendlich müde.

Kämpfe! flüsterte eine Stimme in ihr. Wehr dich! Du bist verloren, wenn sie dich in die Hände bekommen!

Vivian kämpfte gegen die Wellen der Müdigkeit an. Sie stöhnte, stieß sich mit letzter Kraft von der Wand ab und versuchte, an den Männern vorbeizulaufen.

Ihre Gegner ließen ihr nicht einmal die Spur einer Chance. Vivian fühlte sich plötzlich von übermenschlich starken Händen gepackt und zurückgerissen. Ein harter Stoß trieb ihr die Luft aus den Lungen, dann wurden ihr die Arme schmerzhaft auf den Rücken gedreht. Wimmernd brach sie in die Knie, während die beiden Männer sie auf den Spiegel zuschleiften.


Zuerst hatte er das Empfinden von unglaublicher Kälte, verbunden mit einem übelkeiterregenden Gefühl des Fallens. Es war, als würde sein Körper warnungslos in eiskaltes Wasser getaucht, in der nächsten Sekunde in Flammen gehüllt und dann in ein weites, eisiges Nichts hinausgeschleudert. Aber keiner dieser Eindrücke dauerte lange genug, um den Schmerz wirklich an sein Bewußtsein dringen lassen. Für einen kurzen, grauenhaften Moment schien er in jenem schwarzen Nichts zwischen den Dimensionen gefangen zu sein, dann hüllte ihn plötzlich gleißende Helligkeit ein, und er stürzte aus einer Höhe von kaum einem halben Meter auf einen stahlharten Boden nieder.

Dennoch raubte der Aufprall ihm fast das Bewußtsein. Ein scharfer, stechender Schmerz zuckte durch seine Handgelenke, als er versuchte, den Sturz aufzufangen, und seine Stirn prallte unsanft auf den glasharten Fußboden.

Mark benötigte ein paar Sekunden, um wieder einigermaßen zu sich zu kommen und sich zu orientieren. Er blinzelte, richtete sich mühsam auf Hände und Knie auf und sah sich neugierig um. Er lag im Zentrum eines runden, ganz mit Spiegeln ausgeschlagenen Raumes von unbestimmbarer Größe. Weißes, fast schmerzhaft intensives Licht stach in seine Augen. Der Raum schien nicht besonders groß zu sein, aber die sinnverwirrenden, tausendfach gebrochenen Spiegelbilder, die Spiegelungen von Spiegelungen, Lichtblitze und irisierenden Farbflecken an den Wänden machten es unmöglich, seine wirklichen Dimensionen abzuschätzen. Er hatte das Gefühl, im Mittelpunkt eines ungeheuren Kristalls zu schweben. Sein Gleichgewichtssinn und die Nervenenden in seinen Fingern verrieten ihm, das unter ihm solider, harter Boden war, aber die Spiegel waren so geschickt geschliffen, daß ihm seine Augen die Illusion vorgaukelten, über einem metertiefen Abgrund zu schweben.

Mark richtete sich vorsichtig auf und sah sich um. Der Raum schien keinen sichtbaren Ausgang zu besitzen; wohin Mark auch blickte, überall starrte ihm sein eigenes, schreckensbleiches Spiegelbild entgegen.

Er drehte sich einmal um seine Achse, zuckte mit den Schultern und ging mit tastend vorgestreckten Händen auf die gegenüberliegende Wand zu. Der Raum schien sich mit ihm zu bewegen, sich auf unglaubliche, vollkommen unlogische Weise zu verzerren und zu verwerfen, aber Mark achtete nicht darauf. Alles, was er sah, war Illusion, ein Werk dieser verteufelt geschickt angeordneten Spiegel, die wahrscheinlich nur dem einzigen Zweck dienten, einen Fremden zu verwirren, der in diese Falle geriet.

So leicht aber gab Mark nicht auf. Von den Wesen, vor denen er geflohen war, war nichts zu entdecken, aber der Besitzer dieses Spiegellabyrinths wußte vermutlich schon von seiner Anwesenheit oder würde sie bald bemerken. Mark dachte gar nicht daran, tatenlos abzuwarten, bis man ihn fand. Wenn er sich nicht mehr auf seine Augen verlassen konnte, mußten eben seine anderen Sinne ausreichen.

Seine Finger stießen gegen ein glattes, hartes Hindernis, lange, bevor sie mit den ausgestreckten Fingerspitzen seines Spiegelbildes zusammentrafen. Er preßte beide Hände gegen das unsichtbare Hindernis und begann dann, sich Schritt für Schritt an der Wand entlangzutasten. Eine mühsame Art, vorwärts zu kommen, aber seine Anstrengungen wurden belohnt, als er den Raum etwa zur Hälfte umkreist hatte, und seine Finger plötzlich ins Leere stießen.

Mark glitt geduckt durch den plötzlich aufklaffenden Durchgang. Nach der geradezu schmerzhaften Helligkeit des Spiegelraumes sah er im ersten Moment nur Schwärze, und er stieß sich schmerzhaft den Kopf. Seine Augen benötigten fast eine Minute, um sich an die Dunkelheit in dem angrenzenden Zimmer umzustellen, bevor er überhaupt etwas erkennen konnte.

Der Raum war so niedrig, daß Mark nur geduckt stehen konnte, ohne mit dem Kopf die Decke zu berühren.

Durch ein schmales, schießschartenähnliches Fenster an der Rückwand fiel silbernes Mondlicht herein; die einzige Beleuchtung der vielleicht zehn Quadratmeter großen Kammer. An der rechten Wand stand ein niedriges, unbequem aussehendes Feldbett, darüber ein Regal mit wenigen, zerlesenen Büchern und einem tönernen Trinkbecher. Ein niedriger, dreibeiniger Tisch und ein lehnenloser Hocker stellten die gesamte übrige Einrichtung dar. Mark nahm all diese Eindrücke mit einem einzigen Blick auf. Es hielt sich niemand in dem Raum auf, aber durch die dünnen Bretterwände hörte er dumpfes Stimmengemurmel, das die Anwesenheit mehrerer Personen verriet.

Mark schlich geduckt zur Rückwand und spähte vorsichtig durch das Fenster ins Freie. Der Mond hing halbrund am Himmel und verwandelte die Landschaft in ein bizarres Muster aus grauen und schwarzen Flächen. Mark hatte den Eindruck, auf die Filmkulisse einer Geisterstadt zu sehen. Alte, baufällige Bretterbuden wechselten mit rostigen Wellblechgebäuden ab, und über der schwarzen, unregelmäßigen Skyline des Ortes erhob sich etwas, das ihn an die Reste eines halb verfallenen Riesenrades erinnerte. Es mußte ein Vergnügungspark oder so etwas sein. Mark versuchte sich zu erinnern, wo er eine solche Szenerie schon einmal gesehen hatte, gab dann aber schulterzuckend auf und schlich zur gegenüberliegenden Tür.

Die Stimmen waren mittlerweile verklungen, und das einzige Geräusch, das er hörte, war sein eigener, keuchender Atem. So leise wie möglich drückte er die Klinge herunter und spähte in den angrenzenden Raum. Es handelte sich um einen langen, niedrigen Gang, von dem zahllose Türen zu beiden Seiten hin abzweigten. Unendlich vorsichtig und ängstlich darum bemüht, auch nicht das leiseste Geräusch zu verursachen, öffnete Mark die Tür weiter und trat auf den Korridor hinaus. Sein Herz begann vor Aufregung wild zu schlagen. Offenbar hatte bisher noch niemand etwas von seinem Eindringen bemerkt.

Er ging zögernd über den Flur, starrte die glatten, gleichförmigen Türen an und versuchte sich über sein weiteres Vorgehen klar zu werden. Es nutzte niemandem etwas, wenn er hier herumstand und darauf wartete, entdeckt zu werden. Hinter einigen der Türen klangen Stimmen oder andere Geräusche auf, aber bei der seltsamen Akustik dieses Gebäudes ließ sich beim besten Willen nicht sagen, hinter welchen.

Mark wählte irgendeine Tür aus und trat hindurch. Dahinter lag ein weiterer schmaler Gang. Seine Konturen schienen in der Entfernung zusammenzufließen und bis in die Unendlichkeit zu reichen, und an den Wänden hingen Hunderte von lebensgroßen, in kostbare Goldrahmen gefaßte Bilder.

Mark stutzte. Irgend etwas an diesen Bildern irritierte ihn. Er schob die Tür hinter sich ins Schloß und trat neugierig an einen der Rahmen heran. Erst jetzt bemerkte er, daß es sich nicht um ein gemaltes Bild handelte, sondern um eine Glasscheibe, hinter der ein weiterer Gang zu sehen war. Eine untersetzte, kräftige Männergestalt war innerhalb des Rahmens zu sehen. Sie schien direkt auf das Glas gemalt zu sein; es war die exakteste Abbildung eines Menschen, die Mark jemals gesehen hatte. Sie trug die gleiche anachronistische Kleidung wie die Männer, die er auf dem Dachboden von Conellys Haus beobachtet hatte. Er trat noch einen Schritt näher und musterte die Gestalten aus zusammengekniffenen Augen. Der Künstler hatte jede noch so feine Struktur des Anzugstoffes, jedes Staubkörnchen und jede winzige Pore, buchstäblich jedes Haar auf das Glas gebannt. Die Gestalt wirkte so unglaublich lebensecht, als würde sie auf der anderen Seite der Scheibe stehen, aber während sich die Perspektiven des Ganges verschoben, sobald Mark den Kopf ein wenig bewegte, blieb das zweidimensionale Abbild des Mannes starr auf der Scheibe. Es konnte sich unmöglich um ein gemaltes Bild handeln, eher schon um ein Photo, das irgendwie auf das Glas projiziert worden war.

Mark richtete seine Aufmerksamkeit auf den Gang hinter der Gestalt und die Bilder dort, soweit sie zu erkennen waren. Ein paarmal schaute er sich um, betrachtete die Bilder hinter sich und stieß ein ersticktes Keuchen aus, als er die Wahrheit begriff. Sowohl in dem Gang, in dem er stand, wie auch in dem Ausschnitt des parallelen Ganges hingen exakt die gleichen Bilder, nur, daß die Perspektive seitenverkehrt war. Mark trat an eines der Bilder auf der gegenüberliegenden Seite, in dem eine ältere, ebenfalls völlig unmodisch gekleidete Frau abgebildet war. Auch hinter ihr war seitenverkehrt eine exakte Abbildung des gleichen Ganges zu sehen, hinter den darin hängenden Bildern ein weiterer und noch einer.

Mark zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke und begann, auf der Scheibe zu malen, immer noch in der Hoffnung, daß er sich getäuscht hatte. Der Kugelschreiber schrieb nur schlecht auf dem glatten Glas, so daß es eine Weile dauerte, bis er einen einigermaßen deutlichen blauen Balken hinbekommen hatte. Zögernd drehte sich Mark um, trat wieder auf das andere Bild zu und betrachtete die Abbildung des hinter ihm hängenden Bildes darin. Es zeigte ebenfalls den blauen Balken, der sichere Beweis, daß es sich um ein und denselben Gang handelte.

Was er vor sich sah, war keine durchsichtige Glasscheibe mit einem dahinter liegenden Gang, sondern ein Spiegel, aber ein Spiegel, in dem zwar der Hintergrund zu sehen war, in dem er selbst jedoch unsichtbar blieb. Dafür sah er das Bild des fremden Mannes!

Marks Gedanken sträubten sich gegen die Erkenntnis, obwohl es nur eine Erklärung gab.

Die Männer und Frauen, die ihn aus den unzähligen goldenen Rahmen anzustarren schienen, waren weder gemalt noch fotografiert, sondern eingefangene Spiegelbilder wirklicher Menschen!

Plötzlich bekam alles einen Sinn. Die Männer ohne Spiegelbilder, die er auf dem Eingang gesehen hatte - ihre Spiegelbilder waren hier! Gefangen in unzähligen Spiegeln, die in schier endloser Folge an den Wänden aufgereiht waren, auch wenn es allen Naturgesetzen Hohn sprach. Und dennoch konnte es nicht anders sein.

Fast ohne sich dessen bewußt zu sein, begann Mark zu rennen, den Blick auf die leblosen, eingefrorenen Spiegelbilder gerichtet. Er wußte nicht, wie lange er so durch den Gang lief, wie viele Spiegelbilder an ihm vorbeizogen, aber es waren viele, entsetzlich viele. Hunderte.

Nach einer Weile fiel ihm eine Veränderung auf: Die Spiegelbilder waren nicht alle gleich. Die meisten waren so scharf und gestochen wie präzise Farbfotografien, aber bei einigen war eine deutliche Veränderung zu bemerken. So wie Fotos im Laufe der Zeit verblaßten, wirkten auch die Konturen der Spiegelbilder seltsam zerfasert, verschwommen, die Farben blaß und ausgebleicht, als befänden sie sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls.

Dann traf er auf den ersten leeren Spiegel. Die Oberfläche des Glases wirkte stumpf und glanzlos, beinahe blind - unglaublich alt. Mark berührte den Spiegel zögernd mit den Fingern. Das Glas fühle sich spröde und rissig an; eine dünne, weiße Staubschicht blieb an seinen Fingerspitzen hängen, und dort, wo er den Spiegel berührt hatte, bildeten sich für Sekunden winzige Wellenkreise, als bestünde er nicht aus Glas, sondern aus gefrorenem Quecksilber, das durch seine Körperwärme aufgetaut worden war.

»Seien Sie herzlich willkommen, Mister Taylor«, ertönte eine Stimme hinter ihm.

Mark wirbelte herum. Kaum zwanzig Meter hinter ihm stand ein alter, einarmiger Mann. Er wirkte irgendwie klein und verloren in dem Spiegelgang, aber in seinen grauen Augen lag ein ungeheuer starkes Selbstvertrauen, ein unerschütterliches Bewußtsein von Stärke und Macht.

»Ich gratuliere Ihnen«, sagte der Alte. Seine Stimme klang belustigt. »Bisher hat es noch niemand geschafft, gegen meinen Willen so tief in mein Reich vorzudringen.«

»Wer ... wer sind Sie?« stieß Mark hervor. Er spürte, daß von diesem so harmlos aussehenden alten Mann eine ungeheure Gefahr ausging.

»Mein Name ist Ulthar«, erklärte der Einarmige. »Aber der wird Ihnen sicher nichts bedeuten. Vielleicht hilft es Ihnen weiter, zu erfahren, daß diese Spiegel, für die Sie sich so interessieren, mein Werk sind.« Er lächelte dünn, trat beiseite und machte eine einladende Handbewegung. »Folgen Sie mir, Mister Taylor. Es redet sich hier nicht so gut.«

Mark rührte sich nicht von der Stelle. »Diese Spiegel«, sagte er vorsichtig. »Was ... was bedeutet das alles?«

Ulthar hob die Schulter, eine Geste, die bei seiner einarmigen Erscheinung irgendwie lächerlich wirkte, aber Mark war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. »Sie wissen es doch längst, Mister Taylor«, erklärte Ulthar nach kurzem Zögern. »Und jetzt«, seine Stimme wurde laut und befehlend, »folgen Sie mir!«

Mark warf sich mit einem wütenden Aufschrei nach vorne, doch Ulthar reagierte mit ungeheurer Schnelligkeit. Seine Hand fuhr mit einer kaum sichtbaren Bewegung in die Tasche und zog einen Revolver hervor.

»Ich dachte mir, daß Sie Schwierigkeiten machen«, erklärte er ruhig, als Mark mitten in der Bewegung erstarrte. »Vielleicht überzeugt Sie das.«

Mark starrte wie hypnotisiert auf die Waffe, die genau auf seine Brust gerichtet war.

Ulthar lächelte kalt. Er trat beiseite, um Mark vorbeizulassen, und folgte ihm in einigen Schritten Abstand. »Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte er, als sie durch den Korridor zurückgingen. »Aber versuchen Sie es lieber nicht. Ich bin zwar ein alter Mann, den Sie vielleicht trotz des Revolvers überwältigen können, aber das würde Ihnen nicht viel nützen. Sie kämen niemals hier heraus, glauben Sie mir.«

Mark glaubte ihm. Was er bislang in diesem unheimlichen Spiegelkabinett gesehen hatte, hatte ihn zutiefst verstört. Hier hatte er es mit etwas zu tun, dem er nichts entgegenzusetzen hatte, das er nicht einmal in Ansätzen verstand. Widerstandslos schloß er sich Ulthar an, der sich nicht einmal umdrehte, um sich zu überzeugen, ob er ihm folgte.

Sie gingen ein Stück den Gang entlang, dann traten sie durch eine der Türen in einen Raum. Ein gigantischer ovaler Spiegel nahm fast die gesamte Breite der hinteren Wand ein.

Im ersten Moment hatte Mark den Eindruck, durch ein riesiges Fenster in einen Raum zu sehen, der von treibenden Nebeln und Schatten erfüllt zu sein schien.

Ulthar drehte sich halb herum und lächelte dünn. »Komm näher.«

Fast willenlos stolperte Mark auf Ulthar zu, blieb einen halben Schritt hinter ihm stehen und starrte mit klopfendem Herzen in den Spiegel. Ulthars Lippen formten eine Reihe krächzender, fremdartiger Laute. Die wesenlosen Schatten auf der Oberfläche des Spiegels gerieten in Bewegung, ballten sich zusammen, formten schließlich die Umrisse von Menschen.

»Vivian!«

Hilflos mußte Mark mit ansehen, wie Vivian von drei Männern angegriffen wurde. Auch Jonathan Masterton befand sich in dem Raum und setzte sich gegen einen Gegner zur Wehr, wurde jedoch von ihm niedergeschlagen. Vivian wehrte sich ebenfalls mit aller Kraft, aber ihr Widerstand wurde schwächer und schwächer, und schließlich wurde sie in die Ecke gedrängt. Mark konnte das furchterfüllte Flackern in ihren Augen selbst über die Entfernung hinweg wahrnehmen. Verzweifelt überlegte er, wie er ihr helfen konnte.

Auch Ulthar sah dem Geschehen gespannt zu. Wie gebannt hing sein Blick an dem Spiegel.

Mark erkannte seine Chance. Ulthar schien ihn völlig vergessen zu haben. Im gleichen Moment, in dem die Angreifer Vivian endgültig überwältigten, wirbelte er herum und stürzte sich auf den Einarmigen.

Ulthar stieß einen gellenden Schrei aus und versuchte, den Revolver herumzureißen, aber diesmal reagierte er zu langsam. Marks Faust traf sein Handgelenk; die Waffe fiel polternd zu Boden. Mark hechtete hinterher, bekam sie zu fassen und drückte ab, doch ihm blieb nicht genug Zeit, um richtig zu zielen. Die Kugel verfehlte Ulthar und traf dafür den Spiegel hinter ihm.

Mit einem explosionsartigen Knall zersprang das Kristallglas in Millionen Splitter, die wie winzige Geschosse durch den Raum rasten. Instinktiv riß Mark die Arme vors Gesicht, während Ulthar in irrer Wut aufkreischte. Er fuhr herum, war mit einem Satz bei Mark und schlug ihm die Waffe aus der Hand. »Du verdammter Narr!« schrie er.

Im gleichen Moment kamen zwei weitere Männer in den Raum gestürzt. Mark fühle sich von kräftigen Händen hochgerissen und gegen die Wand geschleudert. Dumpfer Schmerz schoß durch seinen Körper; Schläge prasselten auf ihn ein. Vor seinen Augen wallten rote Nebel, und für einen Moment drohte er in Bewußtlosigkeit zu versinken. Er versuchte zu schreien, aber er bekam keinen Ton heraus. Seine Kehle wurde wie von einer unsichtbaren, riesigen Faust zugedrückt.

Aber Ulthars Wut verrauchte genauso schnell wieder, wie sie aufgeflammt war. »Hört auf!« befahl er scharf. »Wir brauchen ihn vielleicht noch.«

Mark rutschte haltlos an der Wand zu Boden. Die beiden Männer blieben neben ihm stehen, bereit, ihn notfalls sofort wieder zu packen.

Ulthar kam mit langsamen Schritten auf ihn zu. »Sie sind ein Dummkopf, Mister Taylor«, zischte er. »Bevor Sie das nächste Mal den Helden spielen, sollten Sie sich erst einmal über die Hintergründe informieren. Meine Leute sind gerade dabei, Ihrer Frau das Leben zu retten.«

»Ach ja?« höhnte Mark. Er wischte sich einen Blutfaden vom Kinn, der aus seiner aufgeplatzten Unterlippe rann und stemmte sich mühsam hoch. »Genauso sah es auch aus.«

Ulthar schüttelte verächtlich den Kopf. »Sie verstehen nichts, Mister Taylor. Sie ahnen ja nicht einmal, um was es hier geht. Bürgermeister Conelly ist kein ... nun, er besitzt gewisse Fähigkeiten, die über die normaler Menschen hinausgehen, ebenso wie Ihre Frau und ich. Er wird Ihre Frau töten, wenn er die Gelegenheit dazu bekommt.«

Mark schluckte. Er begann zu begreifen, daß er möglicherweise einen Fehler gemacht hatte. Die Hintergründe dessen, was hier passierte, waren mit Sicherheit komplizierter und vielschichtiger, als er momentan auch nur ahnen konnte. »Und Sie?« fragte Mark herausfordernd. »Sie spielen den edlen und selbstlosen Retter, wie?«

»Wenigstens für den Moment«, bestätigte Ulthar. »Aber wie Sie richtig vermuten, handele ich nicht ganz selbstlos. Ich habe, sagen wir ... eigene Pläne mit Ihrer Frau.«

»Pläne? Was für Pläne?«

»Es wäre zu kompliziert, das jetzt alles zu erklären, und sinnlos obendrein. Durch Ihr törichtes Verhalten haben Sie alles etwas komplizierter gemacht, aber zum Glück habe ich Vorsorge getroffen. Ich bin überzeugt, daß Ihre Frau sicher hierher kommen wird. Sie ist sehr wichtig für mich, das muß Ihnen reichen.«

»O nein, das reicht mir nicht«, entgegnete Mark aufgebracht. Er wollte auf Ulthar zutreten, doch die beiden Männer neben ihm packten ihn und hielten ihn zurück. »Vivian ist immerhin meine Frau. Ich habe wohl ein Recht zu erfahren, was Sie mit ihr vor...«

Ulthar brachte ihn mit einer knappen Geste zum Verstummen. »Wie lange kennen Sie Ihre Frau schon, Mister Taylor?« fragte er.

Die Frage kam für Mark völlig überraschend. »Knapp vier Jahre«, antwortete er automatisch.

»Sehen Sie.« Ulthar nickte zufrieden. »Sie kennen Vivian Taylor seit vier Jahren und sprechen von Rechten? Ich kenne sie bereits seit mehr als sechsundzwanzig Jahren.«

Mark lachte schrill. »Sie sind verrückt!« stieß er hervor. »So lange lebt Vivian noch gar nicht.«

»Eben«, bestätigte Ulthar lächelnd. »Sie kennen Ihre Frau nicht nur erst seit vier Jahren, sondern auch nicht besonders gut. Sie kennen nicht einmal ihr wahres Ich. Ihre Frau besitzt ein sehr, sehr seltenes Wissen: Sie kennt das Geheimnis des ewigen Lebens.«

»Sie sind ...« Der Griff der beiden Männer verstärkte sich. Mark stöhnte schmerzerfüllt auf und brach in die Knie.

»Es war klar, daß Sie mir nicht glauben würden«, sagte Ulthar. »Deshalb hat es auch keinen Sinn, Ihnen mehr zu erzählen.« Er ging zu einer Tür an der Rückseite des Raumes, öffnete sie und machte eine befehlende Geste. »Wir haben genug geredet, jedenfalls für heute. Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Mark rappelte sich keuchend hoch. »Wenn ich Sie jemals ohne ihre Wachhunde in die Finger bekomme, drehe ich Ihnen den Hals um«, stieß er hervor.

Ulthar lächelte. »Das werden Sie, Mister Taylor, ganz bestimmt sogar. Aber ich garantiere Ihnen, daß Sie dann ganz anders darüber denken werden.«

Ein wuchtiger Stoß in den Rücken trieb Mark vorwärts, ließ ihn durch die Tür taumeln. Der Gang dahinter glich dem, in dem er Ulthar das erste Mal gesehen hatte. Auch hier hingen Hunderte von Spiegeln an den Wänden, aber die meisten waren leer.

»Gehen Sie weiter, Mister Taylor«, forderte Ulthar ihn auf. »Sie waren doch so begierig darauf, das Geheimnis meiner Spiegel zu lüften. Nun werden Sie es erfahren, sogar am eigenen Leib.« Seine Stimme ging in ein häßliches Lachen über, dann trat er in den Raum zurück und schloß die Tür hinter sich.

Die Beleuchtung des Ganges flackerte und ging dann ganz aus, aber trotzdem wurde es nicht dunkel. Einer der großen Spiegel begann plötzlich in geheimnisvollem Licht zu leuchten. Ein helles, elektrisches Knistern erfüllte mit einemmal die Luft.

Marks Blick wurde von dem Spiegel wie magisch angezogen. Mit aller Willenskraft bemühte er sich wegzusehen, doch es gelang ihm nicht. Er spürte, wie sein Widerstand rasch schwächer wurde. Langsam, mit roboterhaften, steifen Bewegungen, ging er auf den Spiegel zu. Er sah sich selbst, sein schreckensbleiches Gesicht, seine angstvoll aufgerissenen Augen, aber er kam nicht gegen die suggestive Wirkung des Spiegels an.

Dann hob das Spiegelbild plötzlich die Hand, winkte ihm auffordernd zu ...

Mark stöhnte. Auf dem Gesicht seines Spiegelbildes erschien ein kaltes, zynisches Lächeln. Er kämpfte verzweifelt gegen den fürchterlichen Sog an, der ihn auf den Spiegel zutrieb. Seine Finger prallten gegen die harte, kühle Oberfläche, aber nur für eine Sekunde, dann drangen sie so mühelos ein wie in Wasser. Gleichzeitig fuhr ein furchtbarer Schmerz durch seinen Körper, als ob sein Innerstes nach außen gekehrt würde. Er versuchte sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Die Welt um ihn herum war flach, eng und begrenzt; nur noch die Dimensionen Höhe und Breite existierten für ihn. Er sah, wie sich ein Mann auf der anderen Seite des Spiegels aufrichtete und langsam den Gang hinunterschritt.

Nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um. Mark konnte nicht einmal schreien, als er das Gesicht des Mannes sah, sein eigenes Gesicht, in dessen Augen ein grausamer, harter Ausdruck lag.

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