25

Es dämmerte, als Vivian erwachte. Sie spürte, daß sie nicht lange geschlafen haben konnte; ihre Augen fielen immer wieder zu, und sie hatte Mühe, aufzustehen und zum Fenster hinüberzuwanken. Der Korridor war in tiefes Dunkel getaucht, und die Silhouetten der Dinge vor dem Fenster waren zu flachen, schwarzweißen Umrissen geworden, vor denen nächtliche Schatten dahintrieben. Über den Dächern Manhattans schimmerte noch ein schmaler, grauer Streifen, aber in wenigen Minuten würde es stockdunkel sein.

Vivian begriff, daß sie schnellstens hier heraus mußte. Dieses irrsinnige Haus war schon am Tage gefährlich genug - in der Dunkelheit würde es zu einer tödlichen Falle werden, wenn sie die jäh aufklaffenden Abgründe nicht einmal mehr sehen könnte.

Sie ging zur Treppe zurück. Die morschen Holzstufen knarrten unter ihrem Gewicht. Sie erreichte die erste Etage und ging - vorsichtig an die Wand gepreßt und angstvoll darauf bedacht, nicht in den schon jetzt unsichtbaren Abgrund zu stürzen, der auf der rechten Seite des Korridors klaffte, und erreichte das Schlafzimmer, durch das sie hier heraufgekommen war. Sie wußte, daß sie die genaue Stelle nicht wiederfinden würde, an der sie durch die Schwärze geklettert war, und es wäre Wahnsinn, wenn sie sich blindlings durch die Schwärze in das tiefergelegene Stockwerk hinablassen würde. Die Gefahr, den schmalen Bodenstreifen zu verpassen und für immer im Nichts zu stranden, war viel zu groß.

Vivian zögerte einen Moment, ehe sie das Fenster aufschob und sich auf den Sims hinaustastete. Aber es gab keinen anderen Weg. Die Treppe, die von der zweiten Etage hier heruntergeführt hatte, endete wenige Stufen tiefer im Nichts. Wahrscheinlich besaß das Haus noch andere Ausgänge, aber Vivian wußte, daß es sinnlos war, bei der hier drinnen herrschenden Dunkelheit danach zu suchen. Glücklicherweise jedoch stammte das Haus aus einer Zeit, in der die Feuervorschriften der Stadt noch peinlich genau eingehalten worden waren. Neben dem Fenster war eine schmale, rostige Eisenleiter in die Wand eingelassen. Jedes Kind hätte mühelos daran hinunterklettern können.

Zumindest jedes Kind, das nicht an Höhenangst litt ...

Trotzdem hangelte sich Vivian Sprosse um Sprosse tiefer und atmete erleichtert auf, als sie den Boden erreicht hatte.

Sie blieb einen Augenblick reglos stehen und sah sich nach allen Seiten um, doch weder von Mark und seinen Begleitern noch von den anderen Spiegelwesen und ihren Bewachern war etwas zu entdecken. Langsam ging sie in die Richtung, in der diese verschwunden waren.

Sie war immer noch so mühe, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen, und am liebsten hätte sie sich ein halbwegs sicheres Versteck für die Nacht gesucht, aber sie konnte nicht tatenlos herumsitzen und warten, daß der Gegner seinen nächsten Zug machte. Spätestens seit dem Auftauchen Marks war ihr klargeworden, daß Ulthar sie keineswegs vergessen hatte - im Gegenteil. Er führte die Jagd auf sie selbst hier genauso verbissen weiter. Vielleicht war sogar alles von ihm geplant gewesen, und sie hatte hierhin gelangen sollen. In der realen Welt hätte sie eine Chance gehabt, ihm zu entkommen, irgendwo unterzutauchen. Hier jedoch ...

Gleich darauf aber wurde ihr der Fehler in ihrer Denkweise bewußt. Auf eine Weise, die ihr noch nicht ganz klargeworden war, stand Ulthar mit dieser bizarren Welt hinter den Spiegeln in Verbindung. Wahrscheinlich bezog er von hier seine ungeheuren Kräfte, aber dennoch stand dieser Ort außerhalb seiner Kontrolle. Er verlor die Kontrolle über seine Geschöpfe, wie sie an Mark gesehen hatte. Dies brachte ihr keinen Vorteil, da sie es immer noch nur mit dem negativen Spiegelbild Marks zu tun hatte, das sie nun sogar töten wollte, statt sie nur gefangenzunehmen, aber ebensowenig brachte es Ulthar einen Vorteil. Sie wußte kaum etwas über den Magier, aber bislang hatte sie ihn als einen sehr vorsichtigen Mann kennengelernt, der alle Risiken so weit wie möglich auszuschalten versuchte. Sie hierher gelangen zu lassen, an einen Ort, an dem er wesentlich weniger Macht besaß als in seinem Kabinett, vergrößerte das Risiko für ihn jedoch nur, also lag dies keineswegs in seiner Absicht.

Entweder wußte er kaum etwas über diese Welt, oder er mußte einen sehr triftigen Grund dafür haben, ihr seine Häscher sogar hierher nachzuschicken, obwohl die Gefahr bestand, daß er die Kontrolle über diese verlor. Die Gefahr, daß sie von den seinem Einfluß entronnenen Geschöpfen getötet wurde, erschien ihm anscheinend geringer, als sie hier frei herumlaufen zu lassen.

Vivian blieb unwillkürlich stehen und schaute sich noch einmal um. Sie begriff nicht, warum sie nicht schon früher darauf gekommen war. Wenn dies der Ort war, von dem Ulthar seine Macht über die Spiegel bezog, dann war dies wahrscheinlich auch der einzige Ort, von dem aus man ihm Schaden zufügen konnte. Irgendwo hier mußte es etwas geben, das ihm gefährlich werden konnte, und Vivian wußte auch, wo genau dies war. Es konnte sich nur um die Quelle dieser dumpfen, unmenschlichen Ausstrahlung handeln, die sie so überdeutlich spüren konnte, irgendwo vor ihr, im Zentrum der Stadt.

Sie ging weiter.

Irgendwo vor ihr zerschnitt ein gellender Schrei die Stille, leise und weit entfernt, aber fremdartig genug, um Vivian einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen. Das Bild der riesigen, grüngeschuppten Ungeheuer tauchte vor ihr auf. Vivian fror plötzlich, aber daran war nicht allein die nächtliche Kälte schuld.

Sie fragte sich, was aus Mark und den anderen geworden sein mochte. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, daß Masterton diesen gräßlichen, verzweifelten Schrei ausgestoßen hatte, weil die Wächter ihn entdeckt hatten, während er vor dem Haus stand und auf Mark wartete. Wahrscheinlich hatten sie ihn ebenso wie die willenlosen Spiegelwesen verschleppt, ihn und wahrscheinlich auch die anderen. Vivian empfand bei diesem Gedanken weder Befriedigung noch Erleichterung. Das Wesen, in das Mark sich verwandelt hatte, hatte sie zu töten versucht, aber es war dennoch Mark, auch wenn in dieser Kopie die negativen Eigenschaften seinen Charakter bestimmten. Was sie ängstigte, war nur der Gedanke, daß es möglicherweise auch auf den echten Mark Auswirkungen haben könnte, wenn seinem Spiegelbild hier etwas zustieß.

Sie schritt schneller aus. In der Dunkelheit wirkten die Häuser rechts und links der Straße noch bizarrer; riesige, schwammige aufgequollene Umrisse, die eine stumme Drohung auszustrahlen schienen. Vivian war plötzlich froh, daß sie nicht alle Einzelheiten erkennen konnte.

Die Straße wurde schmaler; gleichzeitig schienen die Häuser zu beiden Seiten an Höhe zu verlieren, als wären Stein und Beton aufgeweicht und zusammengesackt. Die Straße nahm mehr und mehr das Aussehen einer tiefen, von schwarzen, schimmernden Wänden begrenzten Schlucht an. Nur mit Mühe unterdrückte Vivian den Wunsch, wie ein verängstigtes kleines Mädchen einfach loszulaufen. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, rammte die Hände in die Jackentaschen und ging um die nächste Straßenbiegung.

Sie spürte, daß sie dem Zentrum der finsteren Ausstrahlung jetzt ganz nahe war, dennoch schrie sie entsetzt auf, als sie das Ding sah. Sie hatte versucht, sich in Gedanken, auf den Anblick vorzubereiten, aber was sie jetzt sah, war anders als alles, als sie sich vorzustellen vermocht hatte.

Die Häuser schienen in weitem Umkreis wie von einer ungeheuren Gewalt plattgewalzt zu sein. Ein runder, vielleicht eine Meile durchmessender Platz war entstanden, und in seinem Zentrum ...

Vivian wandte sich angeekelt ab und schloß die Augen, aber es nutzte nichts. Die wenigen Sekunden, die sie das Ding angesehen hatte, hatten gereicht. Der Anblick hatte sich wie ein glühendes Eisen in ihr Bewußtsein gebrannt; ein Bild, das so schrecklich und völlig verschieden von allem war, was menschliche Augen jemals gesehen hatten, daß es vielleicht ausgereicht hätte, um einen schwächeren Verstand als den Vivian Taylors durch seinen bloßen Anblick zerbrechen zu lassen. Auch sie spürte bereits die eisige Welle des Irrsinns, die aus ihrem Unterbewußtsein herausdrängte. Das Gebäude ähnelte einem gigantischen schwarzen Kristall. Seine Flanken schienen sich Hunderte von Metern weit in die Höhe zu erstrecken; ein Kaleidoskop aus schimmernden Facetten und schwarzem Wahnsinn.

Vivian drehte sich langsam um und zwang sich, noch einmal hinzusehen. Sie nahm die Hände von den Augen, senkte zunächst den Blick und ließ ihn dann vorsichtig, Stück für Stück, an den Flanken des riesigen Gebildes emporwandern. Nacht und Entfernung legten einen barmherzigen Schleier über die Umrisse des Monstrums, aber das wenige, das sie erkennen konnte, reichte aus, um sie bis ins Mark zu erschüttern.

Es war ein Gebäude. Jetzt, da sie genauer hinsah, konnte Vivian erkennen, daß es Öffnungen in den geschliffenen Facetten gab: Türen, Fenster und surrealistische, bizarre Balken und Erker, die einer kranken Phantasie entsprungen zu sein schienen. Der gesamte Koloß schien auf eine unmögliche, geistesverwirrende Art in sich selbst verdreht und gewunden zu sein. Blutrote Helligkeit schimmerte hinter einigen der Öffnungen hervor, pulsierendes, flackerndes Licht, das die Fremdartigkeit noch betonte. Hinter anderen schienen sich dunkle, grotesk geformte Schatten zu bewegen.

Vivian nahm all ihre Kraft zusammen und versuchte, auf die Kristallfestung zuzugehen. Es ging nicht. Ihr Körper weigerte sich einfach, ihr zu gehorchen. Sie versuchte es noch einmal, machte einen zögernden Schritt und blieb zitternd stehen. Die Entfernung zwischen ihr und dem Gebäude betrug nicht einmal zweihundert Meter - aber es hätten genauso gut zweihundert Lichtjahre sein können.

Es ging nicht.

Sie stöhnte, schloß die Augen und tastete sich blind weiter. Das grauenhaft verzerrte Bild der Kristallfestung stand noch immer vor ihren Augen, aber sie sah wenigstens keine weiteren Einzelheiten, als sie näher kam. Der Boden wurde zunehmend unebener. Sie stolperte, fiel auf Hände und Knie und kroch mühsam weiter, krampfhaft darum bemüht, nur nicht aufzusehen, den Blick nicht versehentlich auf das alptraumhafte, tödliche Bild zu lenken. Sie war sicher, daß der reine Anblick dieses Dinges sie töten oder zumindest in den Wahnsinn treiben würde. Plötzlich war sie dankbar dafür, während der Nacht hier hergekommen zu sein. Sie kroch weiter, stand schwankend auf und taumelte vorwärts. Alles in ihr revoltierte dagegen, auch nur noch einen einzigen Schritt in diese Richtung zu tun, aber ihr blieb keine andere Wahl. Dort vorne lag der einzige Ausgang, die einzige Verbindung zu der Welt, aus der sie gekommen war.

Irgendwann, nach einer Ewigkeit, wie es ihr erschien, tauchte eine schwarze Wand vor ihr auf. Sie prallte dagegen, stieß sich mit einem kleinen, spitzen Schrei wieder ab und betrachtete angeekelt ihre Hände. Sie brannten. Spritzer mit einer dunklen, schleimigen Flüssigkeit klebten an ihrer Haut. Sie wischte sich angewidert die Hände an der Hose ab und zwang sich dann, die Wand vor ihr noch einmal anzusehen. Nirgendwo waren Fugen zu erkennen; das Gebäude schien nicht aus einzelnen Steinen, sondern aus einer einzigen kompakten Masse gearbeitet zu sein. Es handelte sich um ein schwarzglitzerndes Material, das aus unmittelbarer Nähe noch deutlicher an stumpfen Kristall erinnerte. Es kam Vivian vor, als bestünde es aus nichts als gestaltgewordener Schwärze.

Sie hielt nach einem Eingang Ausschau. Rechts von ihr befand sich eine Art Tor - ein mannshohes, unregelmäßig geformtes Loch, das tiefer in das Kristallgebäude hineinzuführen schien. Sie bewegte sich vorsichtig darauf zu. Jetzt, da sie das Gebäude erreicht und sich endgültig dazu entschlossen hatte, in sein Inneres vorzudringen, schien der unsichtbare Widerstand, gegen den sie bisher angekämpft hatte, schwächer zu werden.

Der Eingang war unbewacht. Entweder, überlegte Vivian, gab es auf dieser Welt niemanden, der in das Gebäude eindringen würde, oder seine Besitzer fühlten sich so sicher, daß sie es nicht einmal für nötig hielten, Wachen aufzustellen. Vielleicht traf beides zu. Abgesehen von Mark und seinen Begleitern waren die willenlosen Spiegelgeschöpfe die einzigen auch nur menschenähnlichen Wesen, die sie bislang in dieser Welt gesehen hatte, und selbst wenn es noch andere gab - wer würde schon so verrückt sein, freiwillig in diesen materialisierten Alptraum einzudringen? Überhaupt mußte sie aufhören, menschliche Logik, menschliche Reaktionen und Handlungen vorauszusetzen.

Die Form des Eingangs erinnerte sie ein wenig an einen gierig aufgerissenen Raubtierrachen. Vorsichtig spähte Vivian in den Gang. Rötliches, unangenehmes Licht erhellte seine Umrisse nur verschwommen. Der Gang besaß keine regelmäßige Form, sondern wand sich in irrsinnigen Windungen tiefer in das Gebäude. Wände und Decke schienen von purem Zufall geformt worden zu sein, waren wellig und aufgeworfen, und der Boden war mit unzähligen Rissen und Kratern übersät, aus denen heller, übelriechender Dampf quoll. Überall befanden sich bizarre Vorsprünge und Nischen, und von der Decke hingen skurril geformte Stalagtiten herab, Gebilde, die wie riesige, erstarrte Tropfen aussahen oder einfach große, unregelmäßig geformte Löcher, die ins Nirgendwo zu führen schienen. Ein dumpfes, rhythmisches Pochen, das an den Schlag eines gigantischen Herzens erinnerte, drang aus den Tiefen des Gebäudes. Vivian atmete tief ein, nahm all ihren Mut zusammen und betrat den Stollen. Der Boden war weich und federte unter ihrem Gewicht. Sie spürte eine leise, vibrierende Bewegung, die im Takt mit dem pochenden Geräusch zu schwingen schien. Das Ganze erinnerte sie auf unbestimmbare Weise an etwas, das ihr seltsam bekannt und vertraut vorkam, etwas, mit dem sie das Gefühl von Gefahr und Bedrohung verband, das sie aber nicht einzuordnen vermochte.

Vivian machte einen zaghaften Schritt, dann noch einen. Das Gefühl der Bösartigkeit, das ihr entgegenschlug, grenzte fast an körperlichen Schmerz, dennoch zwang sie sich, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Nach ein paar Metern machte der Gang einen Knick und endete ein Stück weiter. Vivian gelangte in einen großen, saalähnlichen Raum, dessen Decke sich irgendwo über ihrem Kopf in Schatten und wogendem Dunst verlor. An den Wänden entlang waren über ein Dutzend große, grotesk geformte Statuen aufgereiht.

Vivian blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen und schaute sich um. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Beherrscher dieser Welt so unvorsichtig waren und keinerlei Wachen aufstellten, aber außer ihr schien sich kein lebendes Wesen auf dem Hof aufzuhalten. Trotzdem spürte sie die Gefahr, die von diesen schwarzen, kristallenen Wänden ausging.

Erst jetzt bemerkte sie, daß es außer dem Gang, durch den sie gekommen war, keinen weiteren Ausgang gab.

Sie trat neugierig an eine der Statuen heran und musterte sie mit einer Mischung aus morbider Faszination und Ekel. Die Gestalt stellte ein Wesen dar, wie es noch kein Mensch zu Gesicht bekommen hatte. Es war etwa anderthalb Meter groß und ungeheuer massig. Drei kurze, stämmige Beine trugen einen tonnenförmigen, kopflosen Rumpf, der über und über mit spitzen Stacheln bewachsen war. Aus der Körpermitte heraus starrte ein einziges, lidloses Auge zu Vivian herauf. Das Ding hatte zwei lange, fast menschlich wirkende Arme, die in fürchterlichen Klauenhänden endeten.

Eine fast durchsichtige, schleimig glänzende Substanz bedeckte die gesamte Oberfläche der Statue, als wäre sie in eine Art Kunststoffhülle verpackt.

Vivian schauderte. Wer immer dieses Ding erschaffen hatte, mußte über eine geradezu krankhafte Phantasie verfügen.

Sie wandte sich mit einem Ruck von der Skulptur ab und ging zur nächsten. Kaum eine der Statuen ähnelte der anderen, jede schien ein anderes Lebewesen zu zeigen, eine neue Scheußlichkeit, die ihren Vorgänger noch zu übertreffen suchte, und alle waren von dieser schleimigen Substanz überzogen. Jemand hatte hier ein Kabinett des Grauens erschaffen, eine Sammlung, deren Ziel es zu sein schien, die fürchterlichsten Erscheinungsformen des Lebens zu versammeln. Die Statuen sahen zudem so ungeheuer lebensecht aus, daß Vivian einen Moment lang ernsthaft überlegte, ob sie nicht vielleicht mehr als eine bloße Skulpturensammlung sah.

Eine der Figuren erregte ihre besondere Aufmerksamkeit. Das Wesen kam ihr auf eine seltsam erschreckende Weise bekannt vor. Es war riesig - vielleicht zweieinhalb Meter groß, ungeheuer breitschultrig und massig. Die Haut war über und über mit kleinen, schimmernden Schuppen bedeckt, und aus seinem Kopf wuchs eine bizarre Ansammlung scheinbar zufällig geformter Spitzen und Schneiden. Arm- und Kniegelenke waren mit langen, hornigen Stacheln versehen. Die Statue stellte eines der Wächterwesen dar, die sie in der Stadt gesehen hatte.

Vivian prallte erschrocken zurück, sog scharf die Luft ein und kämpfte mühsam um ihre Beherrschung, aber auch diese Gestalt war keine Wache, sondern nur eine leblose, aus der schwarzen Kristallmasse geformte Skulptur.

Ein leises, scharrendes Geräusch hinter ihr ließ Vivian herumfahren. Ein Stück entfernt öffnete sich in der Wand vor ihr ein unregelmäßig geformter Durchgang. Schwarzer, von dunkelroten Blitzen durchwobener Dampf quoll daraus hervor. Der Boden vibrierte leicht.

Ein großer, düsterer Schatten bewegte sich unruhig inmitten des Durchgangs. Ein haariges, dünnes Etwas stach aus dem wogenden Dampf hervor und zog sich blitzartig wieder zurück. Dann schob sich ein riesiger, mißgestalteter Körper ins Freie.

Vivian schrie auf, als sie erkannte, was sich ihr da näherte. Es war eine Spinne, zumindest ein Wesen, das einer irdischen Spinne verblüffend ähnlich war. Es gab im Grunde nur zwei Unterschiede. Sie hatte zehn Bein statt acht - und war mehr als drei Meter groß.

Vivian wich Schritt für Schritt zurück, während sich das Monster aus kleinen, boshaften Augen umsah und seine Umgebung zu erkunden schien. Die kräftigen, fast unterarmlangen Mandibeln mahlten gierig. Heller Schleim tropfte aus dem Maul der Bestie und verdampfte zischend am Boden. Mit langsamen, beinahe gemächlich wirkenden Bewegungen krabbelte die Spinne näher. Ihre Beine bewegten sich in einem komplizierten Rhythmus, und der lauernde, gierige Ausdruck in ihren schimmernden Kristallaugen ließ sie fast menschlich erscheinen.

Vivian preßte sich eng gegen die glatte Wand. Ihre Finger fuhren nervös über das kristallharte Material, während sie verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Keine der Öffnungen in den Wänden war groß genug, daß sie hindurchkriechen konnte; der einzige Ausgang aus dem gewaltigen Raum war der Gang, durch den sie gekommen war - oder der Durchgang direkt hinter der Spinne. Um diesen Gang jedoch zu erreichen, mußte sie die Bestie zunächst besiegen, und schon der bloße Gedanke daran erschien Vivian absurd. Sie hatte keinerlei Waffen, und das Ungeheuer hatte eine Spannweite von mehr als drei Metern. Der Körper allein maß mindestens achtzig Zentimeter, und die langen, messerscharfen Fänge sahen aus, als könnten sie einen menschlichen Körper mit einem einzigen Biß zerteilen.

Trotzdem zögerte die Bestie noch. Sie krabbelte langsam näher, verharrte etwa zwei Meter vor Vivian und musterte sie aus kleinen, boshaften Augen. Die feinen Härchen auf ihrem Körper bewegten sich wie unter einem unsichtbaren Wind, und die hornigen Krallen am Ende ihrer zehn Beine scharrten im Sand. Es klang, als zöge man mit dem Fingernagel über eine Schiefertafel.

Vivian fragte sich, warum das Monstrum zögerte, sich einfach aus sie zu stürzen. Sie drängte den aufkommenden Ekel zurück und zwang sich, das Tier mit fast wissenschaftlichem Interesse anzusehen. Es mußte einen ganz bestimmten Grund für das sonderbare Verhalten des Ungeheuers geben. Vivian wußte, wie stark Spinnen im Verhältnis zu ihrer Körpergröße waren. Ein solcher Koloß mußte es an Kräften mit jedem beliebigen Gegner aufnehmen können. Statt dessen beschränkte sich das Ungeheuer darauf, sie zurückzudrängen. Vivian bewegte sich ein Stück nach rechts. Die Spinne folgte ihrer Bewegung, ohne näher zu kommen. Ihre Kiefer klackten nervös.

Und dann plötzlich begriff Vivian. Die Aufgabe des Ungeheuers war es in erster Linie, den Durchgang zu bewachen. Je weiter es sich in den Raum hinausbewegte, desto größer war die Gefahr, daß sie es umrundete und die Öffnung in der Wand erreichte.

Vivian warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Durchgang, durch den sie gekommen war. Noch könnte sie fliehen, aber was dann? Sie zweifelte nicht daran, daß es - wenn überhaupt - den einzigen Rückweg in ihre Welt tiefer im Inneren des Kristalls gab. Wenn sie floh, war sie für immer hier gefangen, ständig auf der Flucht vor den gepanzerten Kreaturen, und irgendwann würden diese Wächter sie erwischen. Nein, eine Flucht war keine Alternative. Selbst ein rascher Tod durch das Spinnenungeheuer erschien ihr noch gnädiger als ein Leben als Gejagte in dieser entsetzlichen Welt. Ihre einzige Chance bestand darin, das Ungeheuer zu täuschen und den Durchgang zu erreichen.

Sie wich weiter nach rechts aus. Das Monstrum folgte ihrer Bewegung auch diesmal, darauf bedacht, direkt zwischen ihr und dem Durchgang zu bleiben. Das Klacken der Kiefer wurde schneller und klang jetzt fast rhythmisch. Die Spinne drückte die hinteren drei Beinpaare durch und stemmte den Hinterleib in die Höhe. Ein dünner, glitzernder Schleimfaden tropfte aus ihren Drüsen.

Vivian erkannte die Gefahr fast zu spät. Das Tier zischte, schien sich in ein wirbelndes Chaos aus haarigen Beinen und reiner Bewegung aufzulösen und sprang auf sie zu. Aus ihrem Hinterleib zuckte ein fast fingerdicker, weißer Faden auf Vivians Gesicht zu.

Vivian ließ sich im letzten Moment fallen und rollte gleichzeitig herum. Der Faden klebte dort, wo er gegen die Wand geprallt war. Er spannte sich, als das Rieseninsekt zurückkrabbelte.

Vorsichtig stand sie auf, während die Spinne geschickt mit den hinteren vier Beinen nach dem Faden griff, ihn abriß und am Boden befestigte. Im schwachen, rötlichen Licht glänzte er schleimig, war aber ansonsten kaum zu sehen. Trotzdem wußte Vivian, daß sie ihn auf keinen Fall berühren durfte. Schon in der realen Welt waren Spinnweben im Vergleich zu ihrem winzigen Durchmesser ungeheuer stark.

Vivians Blick irrte zu den Statuen an der Wand, und plötzlich wußte sie, woran der Faden sie erinnerte. Die Spinne mußte die Skulpturen in diese schleimig glänzende Substanz gehüllt haben, die sie gesehen hatte.

Wenn es wirklich nur Skulpturen waren. Spinnen pflegten ihre Opfer in einen Kokon einzuspinnen.

Der Gedanke, daß es sich bei den Gestalten einst um lebende Wesen gehandelt haben könnte, ließ Vivian schaudern. Möglicherweise hatten die Wesen wie sie versucht, in den Kristall einzudringen und waren auf den Spinnenwächter getroffen.

Sie wich erneut zur Wand zurück und erwartete den nächsten Angriff des Monsters. Die Spinne schien es damit nicht sonderlich eilig zu haben. Offensichtlich war sie sich ihrer Beute vollkommen sicher. Sie befestigte einen zweiten Faden an der Wand, zupfte daran, als wollte sie seine Festigkeit überprüfen und klebte ihn schließlich neben dem ersten am Boden fest, so, daß beide eine Barriere vor dem Durchgang bildeten. Dann fuhr sie herum, musterte Vivian fast spöttisch und huschte auf wirbelnden Beinen auf sie zu.

Diesmal war Vivian vorbereitet. Als der Hinterleib der Spinne herumzuckte, warf sie sich gedankenschnell zur Seite und entging dem heranzuckenden Seidenfaden.

Es war fast zu leicht. Das Ende des Fadens klatschte mehr als einen Meter neben ihr gegen die Wand und blieb kleben. Sekunden später folgte ihm ein zweiter. Erst jetzt erkannte Vivian die Methode, die hinter dem Vorgehen des Ungeheuers steckte. Die Spinne hatte gar nicht vor, sie unmittelbar zu attackieren. Aber sie hatte Vivian bereits eingeschlossen. Zwischen den jeweils zwei Fäden blieben ihr höchstens fünf Meter freier Raum. Einen Augenblick lang überlegte sie, welche Chancen sie bei einem direkten Ausbruchsversuch hatte. Aber sie hatte gesehen, wie unglaublich schnell ihre Gegnerin war.

Die Spinne verharrte einen Augenblick lang reglos, huschte dann auf wirbelnden Beinen an Vivian vorüber und fügte einen weiteren Faden zu den beiden ersten. Ihr Gewebe war von fast mathematischer Präzision. Die drei Fäden waren in einem so geschickten Winkel zueinander angeordnet, daß ein Entkommen an dieser Seite praktisch unmöglich war, ohne einen der Fäden zu berühren.

Vivian ging in die Knie, hob einen kleinen Stein auf und warf ihn kraftvoll nach den Fäden. Er streifte einen Faden, brachte ihn zum Schwingen und blieb trotz der Wucht, mit der sie geworden hatte, daran kleben.

Vivian ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Das Ungeheuer krabbelte unablässig vor ihr her und fügte Faden an Faden zu ihrem Netz. Wenn sie weiter tatenlos zusah, würde sie in wenigen Augenblicken in einer Viertelkugel aus dünnen, tödlichen Fäden eingeschlossen sein. Die Spinne brauchte dann nur noch zu warten, bis ihr Opfer verdurstet war - oder sich in einem selbstmörderischen Ausbruchsversuch selbst vernichtete.

Vivian sah sich verzweifelt nach einer Waffe um, aber es gab nichts. Sie zögerte noch einen Moment, dann atmete sie tief ein und stürzte sich mit einer entschlossenen Bewegung auf das Monstrum. Gegen die Aussicht, lebendig eingesponnen und ausgehungert zu werden, erschien ihr sogar der Tod unter den Fängen der Riesenspinne wie eine Gnade.

Das Monstrum reagierte mit unglaublicher Schnelligkeit. Es fuhr herum, richtete sich auf die hinteren sechs Beine auf und schlug wütend nach Vivian. In dieser Stellung überragte es sein Opfer um mehr als das Doppelte.

Vivian tauchte unter den zupackenden Kiefern weg, warf sich zur Seite und trat noch im Fallen nach den haarigen Beinen des Ungetüms. Ihr Fuß traf eines der Beine mit vernichtender Wucht.

Das Bein brach ab.

Die Spinne stieß ein hohes, zischendes Geräusch aus und hüpfte mit einer fast komisch aussehenden Bewegung zurück. Der abgebrochene Beinstumpf zuckte, als wäre er von eigenständigem Leben erfüllt. Schwarzes Blut sickerte daraus hervor und bildete eine stinkende Lache.

Vivian war völlig verblüfft. Mit einer solchen Wirkung hatte sie nicht gerechnet. Ihr Tritt war nicht sonderlich hart gewesen, nur eine instinktive Abwehrreaktion. Sie war zwar körperlich durchtrainiert, aber nicht übermäßig stark, und nach allem, was sie durchgemacht hatte, fühlte sie sich so ausgelaugt, daß sie froh war, sich überhaupt noch auf den Beinen halten zu können.

Sie stand auf, wich zwei, drei Schritte zurück und blieb stehen. Ihre Nerven schienen vor Anspannung zu vibrieren. Das Spinnenmonstrum mußte unglaublich zerbrechlich sein. Deshalb also scheute es den direkten Angriff. Sein Körper schien nur aus weichem, verwundbarem Plasma zu bestehen, das von einer hauchdünnen, zerbrechlichen Chitinschicht umgeben war.

Langsam kam es näher. Seine Augen funkelten boshaft, und die Kiefer waren weit und gierig geöffnet. Das Ungeheuer war verletzt, aber der Schmerz schien seine Wucht erst richtig anzustacheln. Es war immer noch gefährlich, vielleicht sogar gefährlicher als vorher.

Vivian tänzelte vorsichtig vor der Spinne auf und ab. Das Monstrum machte eine zaghafte Bewegung und prallte sofort zurück, als Vivian ihrerseits vorsprang. Es schien seine eigene Verwundbarkeit sehr gut zu kennen.

Aber Vivian war sich darüber im klaren, daß sie diese Taktik nicht lange durchhalten würde. Ihre Bewegungen wurden jetzt schon langsamer und mühevoller, und die Spinne war unglaublich schnell. Früher oder später würde sie einen Fehler machen.

Sie brauchte unbedingt eine Waffe. Erneut irrte ihr Blick zu den Statuen. Einige von ihnen trugen Schwerter oder vergleichbare Waffen, doch auch sie waren von der schleimigen Substanz eingehüllt und damit für sie unbrauchbar, selbst es ihr überhaupt gelingen sollte, bis zu den Statuen zu gelangen.

Es war Vivian ein Rätsel, wie all diese Wesen von der Spinne besiegt worden waren. Es befanden sich wahre Giganten darunter, Titanen, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Dennoch waren sie alle ein Opfer der Spinne geworden. Möglicherweise hatten sie sich überschätzt. Sich - oder die Spinne.

Sah man von seiner Kraft und seiner Größe ab, stellte das Monstrum wegen seiner Verletzlichkeit für einen schwerbewaffneten Gegner eigentlich keine übermäßig große Gefahr dar. Viel verheerender jedoch war seine psychologische Wirkung. Wer einem solchen Koloß gegenüberstand, der dachte vermutlich erst gar nicht mehr ans Kämpfen. Auch Vivian hatte nicht vorgehabt, sich auf einen Kampf einzulassen, sondern wollte dem Ungetüm nur ausweichen und versuchen, an ihm vorbeizukommen, weil sie von vornherein geglaubt hatte, keine Chance zu haben. Es war purer Zufall, daß sie entdeckt hatte, wie verletzlich die Spinne war, und daß es ihr überhaupt bewußt geworden war, hatte sie nur ihrer Wendigkeit zu verdanken. Vielleicht waren die anderen Wesen durch ihre schwere Panzerung zu stark behindert und deshalb leichte Beute gewesen, oder sie waren vor Angst so gelähmt gewesen, daß das Monstrum sie in ihrem Netz einspinnen konnte, bevor es überhaupt zu einem Kampf gekommen war.

Vivians Blick fiel auf das abgeschlagene Spinnenbein. Das Blut hatte aufgehört, daraus hervorzusprudeln und war zu einer schwarzen Masse erstarrt. Bei dem Gedanken, das ekelhafte Ding anzufassen, drehte sich ihr der Magen um, aber sie hatte keine andere Wahl. Das Bein war der einzige erreichbare Gegenstand, der sich zur Verteidigung benutzen ließ.

Vivian täuschte nach links an, federte dann mitten in der Bewegung nach rechts herum und griff noch im Fallen nach dem Bein. Die Spinne fiel auf die Finte herein und huschte in entgegengesetzter Richtung davon. Aber Vivian hatte ihre Kräfte unterschätzt. Sie prallte mehr als einen Meter vor dem Spinnenbein auf und blieb einen Herzschlag lang benommen liegen. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, aber sie griff blind nach vorne, und ihre Finger schlossen sich um etwas Hartes, Haariges.

Sie versuchte hochzukommen, bekam einen harten Stoß in den Rücken und riß automatisch die Hände vors Gesicht. Die Spinne hockte groß und häßlich über ihr. Ihre Augen funkelten vor Mordlust, und die weit geöffneten Kiefer zuckten gierig nach Vivians Kehle. Vivian dachte in diesem Augenblick nicht mehr, sondern handelte rein instinktiv. Sie bäumte sich auf, zog die Beine an und rammte sie dem Ungeheuer mit aller Kraft in den Leib.

Die Spinne wurde regelrecht von Vivian wegkatapultiert und segelte drei, vier Meter weit durch die Luft, bevor sie mit einem knirschenden Geräusch aufprallte.

Vivian richtete sich stöhnend auf. Sie durfte nicht aufgeben. Mühsam taumelte sie auf das Monstrum zu.

Das Ungeheuer krabbelte ihr schwerfällig entgegen. Der Aufprall schien es halb betäubt zu haben. Seine Kiefer schnappten ungelenk in Vivians Richtung. Die Beine schlugen wütend, aber die Bewegungen waren so unkontrolliert, daß Vivian keine Mühe hatte, ihnen auszuweichen.

Sie blieb mit zitternden Knien stehen, musterte ihre Gegnerin und sprang dann mit einem wütenden Schrei vor. Die Spinne antwortete mit einem ängstlichen Zischen. Sie fuhr herum, fegte Vivian von den Füßen und versuchte zu fliehen, aber sie schien schwerer verletzt zu sein, als es zunächst aussah. Der schaukelnde, majestätische Gang war in ein ungeschicktes Stolpern übergegangen, und aus ihrem Hinterleib tropfte schwarzes Blut.

Vivian sprang auf, holte das Ungeheuer ein und warf sich mit ihrem ganzen Körpergewicht darauf. Die Beine der Kreatur knickten wie Streichhölzer weg. Die Spinne stürzte in den Sand, zischte jämmerlich und wälzte sich herum. Ihre blutenden Beinstümpfe schienen anklagend in die Luft zu deuten, und in ihren Augen stand ein schmerzerfüllter, fast vorwurfsvoller Ausdruck.

Vivian holte mit dem Spinnenbein aus und ließ es wuchtig auf den Kopf der Kreatur niedersausen. Das Spinnenbein zerbrach unter der Wucht des Schlages. Vivian taumelte vorwärts, fiel schwer auf Hände und Knie und verharrte einen Augenblick lang reglos. Übelkeit wallte in ihr empor, gepaart mit Ekel und einer fast unüberwindlichen Müdigkeit. Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihr, die Augen zu öffnen und sich in eine sitzende Position emporzuarbeiten.

Die Spinne war tot. Der dünne Chitinpanzer war unter Vivians Schlag aufgeplatzt. Graues, schleimiges Plasma quoll aus der Wunde und vermischte sich mit dem schwarzen Dämonenblut des Ungeheuers, bis sich die Überreste des Monstrums in einen gewaltigen, zuckenden Schleimklumpen verwandelt hatte.

Der Anblick war zuviel für Vivian. Sie stöhnte, wandte sich ab und übergab sich, aber da sie seit Tagen kaum etwas gegessen hatte, würgte sie nur bittere Galle hervor, die wie Säure in ihrem Mund brannte.

Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sich das schleimige Ding, das einmal die Spinne gewesen war, verwandelt. Das Plasma hatte sich zu einem tonnenförmigen, haarigen Leib geformt, aus dem langsam, wie in Zeitlupe, dünne Extremitäten zu wachsen begannen.

Die Spinne entstand neu!

Zwei, drei Herzschläge lang starrte Vivian das widerwärtige Bild an, dann wich sie zitternd zurück. Unendlich vorsichtig kroch sie auf dem Bauch liegend unter den Spinnenfäden hindurch, die den Durchgang versperrten, und blieb ausgelaugt liegen. Wieder spürte sie die Müdigkeit und Erschöpfung wie eine dunkle Welle über sich zusammenschlagen. Sie hatte kaum noch die Kraft, die Arme zu heben. Alles, was sie wollte, war Schlaf, ein paar Stunden Ruhe und Erholung. Die Verlockung, einfach auf dem unebenen Boden liegenzubleiben und ihrem Körper ein paar Augenblicke der Erholung zu gönnen, wurde übermächtig, aber sie wußte, daß sie nie wieder erwachen würde, wenn sie jetzt einschlief.

Mühsam richtete sie sich auf und taumelte tiefer in den Gang hinein.


Mary-Lou hatte nicht einmal die Zeit, eine Warnung auszustoßen.

Sie bemerkte ein schattenhaftes, nur halb wahrgenommenes Huschen irgendwo schräg hinter ihr; eine verschwommene Bewegung, die zu schnell war, als daß sie noch rechtzeitig hätte reagieren können. Dennoch öffnete sie den Mund, um zu schreien, aber in diesem Augenblick gingen Sheldon und Jeremy bereits unter den Leibern der Angreifer zu Boden. Auch sie selbst spürte einen harten, schmerzhaften Stoß im Rücken, taumelte vorwärts und fiel auf die Knie. Durch die Bewegung wurde der Mann, der sie von hinten packen wollte, über sie hinweggeschleudert. Er überschlug sich, prallte schwer auf den Rücken und kam mit einer geschmeidigen Bewegung wieder hoch.

Mary-Lou versuchte verbissen, sich mit der Spiegelscherbe zu verteidigen, mit der sie sich bewaffnet hatte. Aber ihr Gegner schien die Gefahr, die von dem unscheinbaren Glasstück ausging, genau zu spüren. Er sprang vor, trat nach ihrer Hand, so daß sie die Scherbe fallenlassen mußte, und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf Mary-Lou. Erneut wurde sie zu Boden geschleudert. Der Aufprall raubte ihr fast das Bewußtsein. Sie stöhnte, machte ein paar schwache Abwehrbewegungen und versuchte den Körper des Mannes, der wie eine Zentnerlast auf ihrer Brust lag, abzuschütteln. Die einzige Reaktion bestand in einem brutalen Schlag, der ihren Widerstand endgültig brach.

Der Kampflärm neben ihr wurde schwächer. Jeremy hatte ebenfalls aufgehört, sich zu wehren, und auch Sheldons Kräfte schienen nachzulassen. Der ganze Kampf war in weniger als drei Minuten vorüber. Mary-Lou wurde auf die Füße gerissen. Ein Stoß in den Rücken trieb sie vorwärts. Hinter ihr wurden Sheldon und Jeremy jeweils von zwei der Spiegelwesen flankiert.

»Vorwärts«, kommandierte einer der Männer. »Ulthar möchte euch sehen.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, knurrte Sheldon.

Einer der Wächter quittierte diese Bemerkung mit einem Ellbogenstoß, der Sheldon nach Luft schnappen ließ. »Ihr redet nur, wenn ihr angesprochen werdet.«

Der Weg führte in einem scheinbar sinnlosen Zickzack-Kurs zwischen den Spiegeln hindurch. Der Boden schien zum Hintergrund der Halle hin leicht anzusteigen, aber vielleicht kam es Mary-Lou auch nur so vor, als fiele ihr das Gehen mit jedem Schritt schwerer. Sie wußte, daß der Weg in den Tod führte, und wenn nicht in den Tod, so doch in ewige Gefangenschaft; aber der Gedanke, für alle Zeiten in einen der Spiegel verbannt zu werden, erschien ihr fast schlimmer.

Mary-Lou sah sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch sie erkannte sehr schnell, daß ihre beiden Bewacher ihr keine Chance lassen würden. Sie waren schneller und stärker als sie, und sie hatten den Vorteil, sich hier auszukennen. Ein Fluchtversuch war sinnlos. Selbst wenn sie Ulthars Häschern entkam, würde sie den Ausgang aus diesem Labyrinth niemals finden.

Dieser Teil des Spiegellabyrinths war fast noch bizarrer als die endlosen Gänge, durch die sie hergekommen waren. Es war ein gespenstischer Anblick: große, in schmale Silberrahmen gefaßte Spiegel, in denen Opfer gefangen waren. Sie wirkten wie riesige, lebensechte Fotos, genaue Abbilder lebender Menschen, die mitten in der Bewegung erstarrt zu sein schienen. Das einzige Lebendige an ihnen waren die Augen. Mary-Lou glaubte einen Ausdruck tiefster Verzweiflung darin zu lesen, einen schwachen Abglanz der Qual, die diese unschuldigen Menschen erleiden mußten.

Sie stutzte, als ihr Blick auf einen der Spiegel fiel. Der Mann darin war der gleiche, der Sheldons rechten Arm umklammert hielt.

Mary-Lou wußte hinterher nicht mehr, wie sie auf die Idee gekommen war. Sie wußte auch nicht, wie sie es trotz der ungeheuer schnellen Reflexe ihrer Bewacher geschafft hatte, sich loszureißen und auf den Spiegel zuzustürmen. Es war ein aussichtsloser, verzweifelter Versuch, aber in aussichtslosen Situationen reagiert man manchmal, ohne zu denken. Sie lief mit zwei, drei Schritten auf den Spiegel zu, schloß im letzten Moment die Augen und warf sich mit aller Kraft gegen das Glas.

Hinter ihr erscholl ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei. Eine unmenschlich starke Hand griff nach ihrer Schulter und riß sie mitten in der Bewegung zurück, aber es war zu spät, um das Unheil aufzuhalten. Der Spiegel kippte langsam nach vorn, schien eine Zehntelsekunde reglos in der Luft zu hängen und zersplitterte dann auf dem Boden.

Im gleichen Augenblick zerbrach der Mann an Marks Seite. Ein hoher, schriller Ton erfüllte die Luft, und für einen winzigen Augenblick huschte ungläubiges Entsetzen über das Gesicht des Mannes, dann fiel er langsam zur Seite. Noch in der Luft zerfiel sein Körper in Tausende gläserner Bruchstücke.

Sheldon reagierte augenblicklich. Er nutzte die Überraschung seines anderen Bewachers aus, um sich loßzureißen, seine Kette aus der Tasche zu ziehen und damit zuzuschlagen. Der schwirrende Stahl schleuderte den Mann zurück, als er nachsetzen wollte. Er stand zwar sofort wieder auf, aber die wenigen Sekunden genügten Sheldon. Er stürmte los, riß im Vorüberlaufen einen von Jeremys Bewachern von den Füßen und ließ seine Kette mit wilder Entschlossenheit zwei-, dreimal hintereinander wahllos in die umstehenden Spiegel krachen.

Einer der Männer neben Mary-Lou explodierte. Sein Körper schien sich von einer Sekunde auf die andere in zerberstendes Glas zu verwandeln. Mary-Lou wich aufschreiend zurück und schlug die Hände vors Gesicht, als sie von einem Hagel kleiner, scharfkantiger Glassplitter überschüttet wurde.

»Keine Bewegung!« schrie Sheldon. Er stand breitbeinig zwischen den Spiegeln, ließ die Kette über seinem Kopf kreisen und funkelte die Angreifer wütend an. »Wenn ihr noch einen Schritt macht, schlage ich hier alles kurz und klein.«

Die Männer zögerten.

»Mary-Lou, Jeremy - kommt hierher«, befahl Sheldon.

Jeremy Cramer setzte sich zögernd in Bewegung und nahm hinter Porter Aufstellung. Mary-Lou postierte sich auf der anderen Seite. »Wenn sie irgend etwas versuchen, zerschlagt ihr alles, was auch nur entfernt an einen Spiegel erinnert«, wies Sheldon sie an.

Mary-Lou nickte impulsiv. Sie wußte, daß sie im Ernstfall keine Chance gegen die vier Männer hatten, aber sie hatten immer noch Zeit, vielleicht ein halbes Dutzend Spiegel zu zerstören. Offensichtlich schreckten die Angreifer vor diesem Risiko zurück - zumal der Spiegel darunter sein könnte, von dem ihr Leben abhing.

»Was versprecht ihr euch davon?« sagte einer der Männer. »Glaubt ihr im Ernst, ihr kommt hier heraus?«

Sheldon zuckte mit den Achseln. »Vielleicht.«

Einer der Männer machte einen Schritt. Sheldon ließ das Ende seiner Kette spielerisch nach einem Spiegel züngeln. Der Mann zuckte zusammen und wich hastig zurück. »Irgendwann werdet ihr müde.«

Sheldon grinste. »Möglich. Aber ich habe nicht vor, so lange zu warten. Ihr habt einen Auftrag bekommen, und genau den sollt ihr auch ausführen. Ich möchte, daß ihr uns zu Ulthar bringt.«

Cramer stöhnte erschrocken auf. »Sie wollen ...«

»Ganz recht«, sagte Sheldon, ohne die vier Spiegelwesen aus den Augen zu lassen. »Ich will diesen Ulthar sehen. Ich habe noch eine kleine Rechnung mit ihm zu begleichen.«

»Sie sind verrückt. Sie laufen direkt in die Höhle des Löwen.«

Sheldon lächelte kalt. »Da sind wir schon lange drin, mein Lieber. Oder bilden Sie sich wirklich ein, hier herauszukommen?« Er wechselte die Kette von der rechten in die linke Hand, bückte sich und hob eine spitze Scherbe auf. Dann winkte er einen der Männer zu sich heran.

Das Spiegelwesen gehorchte zögernd. Mary-Lou bildete sich ein, auf seinem Gesicht so etwas wie Angst zu sehen. Sheldon bedeutete dem Mann mit einer Geste, sich herumzudrehen und setzte ihm dann die messerscharfe Spitze der Scherbe an den Rücken. »Und jetzt wirst du uns führen. Ganz langsam. Und mach keine Dummheiten.«

Der Mann nickte verkrampft, schluckte und setzte sich widerstrebend in Bewegung. »Sie sind verrückt«, wiederholte er Jeremys Worte. »Zu Ulthar wollten wir euch ohnehin bringen.«

»Ja, aber jetzt gefallen mir die Umstände viel besser«, entgegnete Sheldon grinsend. »Es ist ein kleiner Unterschied, ob ich gefangen zu jemandem gebracht werde oder ob ich ihm selbst ein paar seiner Untertanen als Gefangene präsentieren kann. Ich kann nur in eurem Interesse hoffen, daß Ulthar etwas an eurem Leben liegt.«

Er bekam keine Antwort, hatte sie aber auch nicht erwartet.

Jeremy und Mary-Lou bewaffneten sich ebenfalls mit einigen der überall herumliegenden Scherben. »Paßt auf die anderen auf«, sagte Sheldon gepreßt. »Ich möchte nicht, daß unsere Freunde auf die Idee kommen, irgendwelche Dummheiten zu versuchen.«

Sie gingen langsam durch das Labyrinth von Spiegeln. Sheldon achtete darauf, immer in unmittelbarer Nähe einer größeren Anzahl von Rahmen zu bleiben, um sein einziges Druckmittel nicht aus der Hand zu geben. Aber ihre Gefangenen machten keine Schwierigkeiten. Trotz der grauenhaften Veränderung, die mit ihnen vorgegangen war, schienen selbst diese Wesen noch über einen Selbsterhaltungstrieb zu verfügen.

Der Saal endete vor einer rauhen, unverkleideten Felswand. Ihr Führer wies mit einer stummen Geste auf eine schmale Tür.

Sheldon gab Cramer einen Wink. Der FBI-Direktor ging vorsichtig zur Tür hinüber, öffnete sie und spähte hindurch. Dahinter lag ein niedriger, schmaler Gang, der mit unzähligen Spiegeln verkleidet war.

»Wohin jetzt?« erkundigte sich Sheldon.

Das Spiegelwesen vor ihm deutete nach rechts. »Es ist nicht weit, wenn man den Weg kennt. Schließlich erwartet Ulthar euch bereits.«

Загрузка...