16

Ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten kam Jeremy an diesem Tag zum Mittagessen nach Hause. Er hupte zweimal kurz, als er den Wagen in die Garage fuhr, stieg dann aus und kam lächelnd ins Haus. Mary-Lou erwartete ihn im Wohnzimmer. Jeremy lächelte sanft, als er den Raum betrat.

»Du bist schon da?« fragte Mary-Lou.

Jeremy stellte seine Aktentasche in die Ecke, eilte auf seine Frau zu und umarmte sie herzlich. Mary-Lou erschauderte unwillkürlich. »Ich habe mir den Rest des Tages frei genommen«, erklärte er. Er trat zurück, hielt sie auf Armeslänge von sich und sah sie ernst an. »Ich glaube, ich habe mich ziemlich grob benommen, heute nacht«, sagte er leise. »Es tut mir leid, Liebling.« Als er den abweisenden Ausdruck in Mary-Lous Augen bemerkte, fügte er etwas lauter hinzu: »Vergiß es, bitte. Ich wollte dich nicht kränken, wirklich, aber ich hatte gestern einen ziemlich schweren Tag. Dazu noch der Empfang bei Conelly, der endlose Smalltalk mit allen möglichen Leuten - ich war gestreßt und habe mich wohl ziemlich gehen lassen. Sei mir nicht mehr böse, ja? Dafür machen wir uns heute einen gemütlichen Nachmittag.«

Für einen Moment wünschte sich Mary-Lou nichts sehnlicher, als ihm zu glauben, aber sie konnte es nicht. Jetzt nicht mehr.

»Kannst du tatsächlich ein paar freie Stunden mit deiner Arbeit vereinbaren?« erkundigte sie sich bitter. Die Worte taten ihr fast augenblicklich wieder leid, aber sie waren ihr einmal herausgerutscht und ließen sich nicht wieder rückgängig machen.

Ein flüchtiger Schatten schien über Jeremys Gesicht zu ziehen, und für einen winzigen Augenblick stand wieder der gleiche harte Glanz in seinen Augen wie am Morgen. Aber seine Stimme klang sanft, als er antwortete. »Die Nacht war lang genug, Schatz. Ich habe mir einen halben Tag Urlaub mehr als redlich verdient. Sind die Kinder noch in der Schule?«

Mary-Lou schaute ihn einen Moment lang fast traurig an. »Hast du schon vergessen, daß sie mit ihrer Klasse bis Ende der Woche ins Ferienlager gefahren sind?«

»Entschuldige, daran habe ich tatsächlich nicht mehr gedacht.« Jeremy wirkte für einen Moment irritiert. Er drehte sich um, ging zur Bar und schaltete im Vorübergehen die Stereoanlage ein. Leise Gitarrenmusik klang durch den Raum. »Möchtest du auch etwas trinken?« fragte er.

Vor Mary-Lous Augen erschien das Bild eines achtlos weggeworfenen Metallverschlusses. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich - ich habe noch in der Küche zu tun. Entschuldige mich bitte.«

Jeremy drehte sich langsam um. Er hatte sich einen Whisky eingeschenkt, und seine Finger umklammerten das Glas so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Ich habe mir nicht extra frei genommen, um dir beim Arbeiten zuzusehen«, sagte er.

»Es ... es dauert nicht lange«, beharrte Mary-Lou. »Ich muß nur nach dem Kuchen sehen. Er verbrennt sonst. Oder ißt du gerne angebrannten Sandkuchen?«

»Gut. Aber beeil dich, bitte. Ich habe mich auf den Nachmittag mit dir gefreut.«

Mary-Lou nickte, drehte sich herum und ging zur Tür. Sir Winston, der Burma-Kater, den Jeremy ihr vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, kam über das Fensterbrett geturnt, strich in typischer Katzenmanier um ihre Beine und bewegte sich schnurrend auf Jeremy zu. Doch noch während er sich näherte, ging eine seltsame Veränderung mit dem Tier vor sich. Es blieb stehen, legte die Ohren an und stellte den Schwanz kerzengerade auf. Mary-Lou hörte, wie das sanfte Schnurren Sir Winstons in ein dumpfes, drohendes Grollen überging. Wie eine Doppelreihe winziger Klappmesser erschienen die Krallen an seinen Samtpfoten.

Jeremy runzelte die Stirn, ging auf den Kater zu und bückte sich, um ihn wie gewohnt zu streicheln. Sir Winston fauchte, machte einen Buckel und schlug nach seiner Hand, ehe er auf der Stelle herumfuhr und mit einem Satz aus dem Fenster war.

Mary-Lou starrte ihm verwirrt nach.

»Was ist denn mit dem verdammten Vieh los?« brummte Jeremy. Er hatte den Zeigefinger in den Mund gesteckt und schien daran zu lutschen. Wahrscheinlich hatte Sir Winston ihn gekratzt.

Mary-Lou hob in einer hilflosen Geste die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Als er vorhin bei mir in der Küche war, schien er ganz normal. Vielleicht hatte er Streit mit Johnsons Schäferhund.«

»Oder es ist ein anderer Kater aufgetaucht«, sagte Cramer grinsend, ohne den Finger aus dem Mund zu nehmen.

Mary-Lou starrte ihren Mann schockiert an. Während der vergangenen Stunden hatte sie sich beinahe unentwegt gefragt, ob sie sich nicht getäuscht, sich nur etwas eingebildet hatte. Die Begegnung mit dieser Vivian Taylor und die Erkenntnis, daß die Frau allem Anschein nach wirklich über paranormale Fähigkeiten zu verfügen schien, Vivians Ohnmacht bei der Seance, später dann die vergeblichen Versuche, Jeremy zu erreichen und sein sonderbares Verhalten nach seiner Rückkehr hatten Mary-Lou zutiefst verunsichert, aber je mehr Zeit verstrich, desto stärker waren ihre Zweifel geworden, ob sie sich nicht nur in etwas hineingesteigert hatte, und Jeremy lediglich überarbeitet gewesen war. Jetzt aber wußte sie, daß dies nicht der Fall war. Der weggeworfene Verschluß und seine abweisende Art hätten vielleicht wirklich noch bloß Zeichen von Streß und Erschöpfung gewesen sein können, doch schlüpfrige Witze dieses Niveaus widersprachen völlig Jeremys Charakter. In all den Jahren, die sie ihn schon kannte, hatte er niemals eine obszöne Bemerkung gemacht, fand es sogar außerordentlich widerlich, wenn in seiner Gegenwart von anderen oder im Fernsehen welche gemacht wurden.

Der Mann, der Mary-Lou gegenüberstand, sah zwar genau aus wie Jeremy, dennoch unterschied er sich völlig von dem Mann, den sie kannte und liebte. In seinem Innern hatte er eine schreckliche Verwandlung durchgemacht. Mary-Lou fuhr auf dem Absatz herum, stürmte aus dem Zimmer und rannte in die Küche.

Jeremy stürmte hinter ihr her. Unter seinen Schritten schien das Haus zu beben. »Mary-Lou!« Seine Stimme war scharf, schneidend, ein Befehl, dem sie sich einfach nicht widersetzen konnte. Sie blieb stehen, schloß die Augen und ballte hilflos die Fäuste. »Mary-Lou, was, zum Teufel, ist eigentlich mit dir los?« fragte Jeremy. Er riß sie grob an den Schultern herum und funkelte sie wütend an. »Verdammt noch mal, sag endlich etwas!«

Sie versuchte schwach, sich aus seinem Griff zu befreien, aber es war aussichtslos. Jeremys Hand war wie ein Schraubstock. Sie stöhnte vor Schmerz und plötzlicher Angst, schlug in einem blinden Reflex nach seinen Händen und taumelte zurück, als er abrupt losließ. Seine Haut hatte sich kalt und hart angefühlt.

»Mary-Lou!« Jeremy trat erneut auf sie zu, berührte sie, diesmal sanft, an der Schulter und legte seine Hand unter ihr Kinn, hob es an, so daß sie gezwungen war, ihn anzusehen. »Was ist denn heute bloß mit dir los?« fragte er leise.

»Nichts. Wirklich ... ich ... ich fühle mich nicht sehr wohl, das ist alles.«

Jeremy schien sich mit dieser Erklärung zufriedenzugeben, aber Mary-Lou hatte den Eindruck, als ob es ihn in Wirklichkeit überhaupt nicht interessierte, sondern auch nur Teil der Rolle war, die er spielte. »Soll ich einen Arzt rufen?« fragte er.

Mary-Lou schüttelte schwach den Kopf. »So schlimm ist es nicht.«

»Na dann ...« Er zuckte mit den Achseln. »Ich werde dir ein wenig in der Küche helfen.« Er bewegte die Hände, fuhr sich mit einer fahrigen Geste über die beginnende Stirnglatze und suchte in seiner Jackentasche nach Zigaretten. Als er die Hand wieder herauszog, sah Mary, daß sein Finger unversehrt war. Sir Winstons Krallen hatten nicht den leisesten Kratzer darauf hinterlassen. Und plötzlich fiel ihr wieder ein, wie seltsam sich seine Haut angefühlt hatte.

Kalt. Hart und unnachgiebig. Nicht wie menschliche Haut, sondern wie Metall - nein, wie Glas, verbesserte sie sich gleich darauf selbst.

»Du ... du brauchst mir nicht zu helfen«, sagte sie und versuchte zu lächeln, doch sie spürte, daß es zu einer Grimasse wurde. »Du weißt doch, viele Köche verderben den Brei.«

Sie wandte sich um, eilte fast fluchtartig in die Küche und registrierte erleichtert, daß Jeremy ihr nicht folgte. Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm mit mechanischen Bewegungen die Kuchenzutaten aus dem Schrank und begann mit der Zubereitung, damit Jeremy keinen Verdacht schöpfte. Währenddessen überlegte sie, was sie tun sollte. Solange sie nicht wußte, was überhaupt mit Jeremy los war, konnte sie sich nicht einmal an seine Dienststelle wenden. Man würde sie nicht ernst nehmen, sondern im günstigsten Fall für überspannt halten, wenn sie behauptete, Jeremy hätte sich verändert. Was hatte sie schon vorzuweisen, außer daß er sich unfreundlich verhielt, den Verschluß einer Milchflasche wegwarf und eine obszöne Bemerkung gemacht hatte? Sie würde sich lächerlich machen.

Was hatte Vivian Taylor gesagt? Es wäre gut, daß die Kinder nicht zu Hause wären. Genau das empfand auch Mary-Lou in diesem Moment.

Das Telefon schrillte. Das Geräusch kam ihr überlaut vor, riß sie aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken, so daß sie fast die Zigarette fallengelassen hätte. Sie trat vom Herd zurück und wollte gewohnheitsgemäß ins Wohnzimmer eilen, ehe ihr bewußt wurde, daß Jeremy ja zu Hause war. Sie hörte, wie er aufstand, mit schweren Schritten zum Apparat ging und den Hörer abhob. Sie konnte nicht hören, was er sagte, aber seine Stimme klang erregt.

Mary-Lou drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, schob die Küchentür einen Spalt breit auf und spähte vorsichtig ins Wohnzimmer. Jeremy stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Tisch, hielt den Hörer gegen das Ohr gepreßt und schien aus dem Fenster zu starren. Seine freie Rechte bewegte sich aufgeregt, wie um seine Worte zu untermalen. »Komme gleich selbst rüber ...« verstand Mary-Lou. »Nein, unternehmt nichts. Wir beobachten nur ... ja, genau ... Ulthar wünscht nicht, daß wir eingreifen ...«

Mary-Lou ließ die Tür zugleiten und runzelte die Stirn. Jeremy hatte erregt geklungen, aber gleichzeitig unterwürfig und beinahe ängstlich. Seine Stimme hatte einen Klang gehabt, den sie noch nie zuvor gehört hatte. Einen Moment war Mary-Lou versucht, ins Wohnzimmer zu eilen und Jeremy zur Rede zu stellen. Aber sie wußte, daß sie damit alles nur verschlimmern würde. Das erstickende Gefühl, einen Fremden im Haus zu haben, verstärkte sich noch. Sie versuchte, sich Jeremy vorzustellen, wie er jetzt wenige Meter hinter ihr stand und ins Telefon sprach. Sie konnte es nicht. Sein Gesicht schien sich ihrer Vorstellung immer wieder zu entziehen, sie sah nichts als eine leere weiße Fläche.

Schritte ließen sie auffahren, sie eilte zum Herd zurück und beugte sich in gespielter Konzentration über den Kuchenteig, als Jeremy die Tür öffnete. »Ich muß noch einmal fort«, sagte er. »Es tut mir leid, daß aus unserem gemütlichen Nachmittag nichts wird. Vielleicht ein anderes Mal.«

Sie antwortete nicht, aber Jeremy schien dies auch gar nicht von ihr erwartet zu haben. Er drehte sich um, verließ die Küche und stapfte mit schweren Schritten durch die Diele.

Mary-Lou wartete, bis sie das Geräusch der aufgleitenden Garagentür hörte. Dann streifte sie eilig ihre Schütze ab, stürzte aus der Küche und in die Garage, wo sie in ihren kleinen, roten Sportwagen stieg und Jeremy in geraumem Abstand in westlicher Richtung folgte. Sie mußte herausfinden, was mit ihm geschehen war, und vielleicht würde es ihr auf diese Art gelingen.

Er würde sich vermutlich halbtot lachen, wenn er wüßte, daß seine Frau dabei war, auf eigene Faust Privatdetektiv zu spielen, aber das war ihr gleichgültig. Sie folgte ihm ohne große Mühe quer durch die Stadt zu einer verlassenen Fabrik im Westen New Yorks. Dort stieg Jeremy aus, verschwand im Gebäude und kehrte wenige Augenblicke später in Begleitung zweier fremder Männer zurück. Einer von ihnen war wie ein Rocker gekleidet, der andere hatte sich Jeremys Trenchcoat um die Schultern gehängt. Darunter war er seltsamerweise bis auf Socken und Unterwäsche nackt. Nach einigen Sekunden erst erkannte Mary-Lou, daß es sich bei dem Mann um Mark Taylor handelte.

Ihre Verwirrung wuchs mit jeder verstreichenden Minute. Sie konnte sich keinen Reim auf das Geschehen machen.

Jeremy war schon lange nicht mehr im aktiven Dienst tätig. Als Chef des New Yorker FBI war er in erster Linie für die administrative Arbeit verantwortlich - er war sozusagen das Gehirn des Ganzen. Jeremy hatte sich schon oft darüber beklagt, daß er praktisch den ganzen Tag hinter seinem Schreibtisch sitzen und Papierberge wälzen mußte. Um so erstaunlicher war es, daß er jetzt offensichtlich auf eigene Faust handelte. Jeremy hatte ihr eine Menge Tricks verraten, mit denen man Verfolger - auch solche, die ihr Handwerk verstanden - erkennen konnte, und Mary-Lou hatte nach etwaigen Begleitern Jeremys Ausschau gehalten. Aber es gab keine. Was immer er vorhatte - offensichtlich waren nur er und die beiden Männer aus der Fabrik daran beteiligt.

Sie fuhren ein Stück die gleiche Strecke zurück, die sie gekommen waren, und fuhren dann weiter südwärts, um auf der Interstate 278 nach Westen abzubiegen, über Staten Island nach Brooklyn. Mary-Lou ließ ihren Wagen ein wenig zurückfallen. Es war ohnehin ein Wunder, daß Jeremy sie nicht längst erkannt hatte. Auch wenn sie ein paar Tricks von ihm gelernt hatte, war sie nur ein Amateur, er hingegen ein Profi. Außerdem kannte er ihren Wagen, und schon daß machte eine unauffällige Verfolgung fast unmöglich.

Nach einer Weile bog Jeremy in eine schmale, kaum befestigte Seitenstraße, die geradewegs zum Strand hinunter führte.

Mary-Lou fuhr an der Abzweigung vorbei, wendete und folgte Jeremy in noch größerem Abstand. Schließlich hielt sie an, kramte eine Zigarette aus der Tasche und schaltete den Motor aus. Sie wußte, wohin diese Strecke führte - nach Coney Island, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Jeremy dort zu suchen hatte. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, einfach zurückzufahren und das Ganze zu vergessen. Sie benahm sich wahrscheinlich unglaublich albern. Aber sie war schon zu weit gegangen, um jetzt noch aufzuhören.

Sie rauchte ihre Zigarette zu Ende, startete den Motor und fuhr langsam weiter.


Die Gestalt bewegte sich wie ein lautloser Schatten durch den Gang; ein großer, dunkler Umriß von nicht genau zu erkennenden Konturen, dessen Schritte auf dem polierten Boden nicht das leiseste Geräusch zu verursachen schienen. Manchmal warfen die an den Wänden befestigten Spiegel sein Bild zurück, aber auch dieser Reflex wirkte irgendwie verzerrt, entstellt, so, als wären selbst die unbestechlichen Spiegel nicht in der Lage, das wahre Aussehen der Erscheinung zu erfassen.

Conelly blieb stehen und versuchte, das seltsame Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte, näher zu ergründen. Die endlosen labyrinthisch verzweigten Gänge und Räume, durch die er während der vergangenen Minuten gegangen war, beunruhigten ihn. Er spürte die ungeheure Macht, die diesen Spiegeln innewohnte, aber zum erstenmal fühlte er auch, wie fremdartig diese Macht war, völlig anders als seine eigene oder die anderer paranormal begabter Menschen, so fremd, daß unmöglich Ulthar allein sie geschaffen haben konnte. Zum erstenmal fragte sich Conelly, mit welchen Kräften sich der Magier möglicherweise eingelassen hatte.

Der Gedanke verstärkte seine Beunruhigung noch. Er trat dicht an einen der deckenhohen Spiegel heran, streckte die Hand aus und berührte ihn leicht mit den Fingerspitzen. Das Kristallglas fühlte sich unnatürlich kalt an, fast eisig, obwohl es im Inneren des Labyrinths eher warm war. Conelly starrte einen Moment lang sein eigenes Spiegelbild an, und ein seltsames, nie gekanntes Gefühl, das fast so etwas wie Angst zu sein schien, stieg in ihm empor. Er versuchte, mit seinen Para-Sinnen hinter den Spiegel zu schauen, das Geheimnis, das in der kalt glänzenden Glasplatte verborgen war, zu ergründen, aber er schaffte es nicht. Seine tastenden Gedankenfühler schienen auf ein unsichtbares Hindernis zu stoßen. Zorn wallte in Conelly auf. Er konzentrierte sich und versuchte noch einmal, die unbegreifliche Barriere zu durchbrechen, aber wieder war da diese Mauer, die seinen Vorstoß bremste und seine Kraft zurückwarf. Es war kein Widerstand, wie er ihn kannte, keine Mauer, die er greifen und zerbrechen konnte. Diese fremde, seltsame Kraft schien seine wütenden Vorstöße genauso mühelos zurückzuwerfen, wie der Spiegel einen Lichtstrahl reflektierte.

Wütend trat Conelly noch näher an den Spiegel heran und schlug mit der Faust dagegen. Es gab einen peitschenden, schmerzhaften Ton, der die Wände des Ganges zum Bersten zu bringen schien. Das Glas vibrierte unter der Wucht des Schlages, aber es zerbrach nicht. Conelly starrte den Spiegel noch einige Sekunden lang wütend an, dann drehte er sich abrupt um und stürmte den Gang hinunter. Das Bewußtsein, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, vertiefte sich. Er hatte geglaubt, Ulthar nun endlich richtig einschätzen zu können, aber der Magier hatte seine wirkliche Macht noch nicht einmal gezeigt.

»Halt dich bereit, Quaraan«, flüsterte Conelly. »Du weißt, was du zu tun hast.«

»Ja, Herr«, antwortete eine unhörbare Stimme in seinem Kopf. Ein flüchtiger, verschwommener Schatten entstand hinter ihm, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Das war Quaraans besondere Fähigkeit, die ihn für Conelly unersetzlich machte: Er war in der Lage, sich jeder Umgebung so perfekt anzupassen, daß es einer Unsichtbarkeit gleichkam. Solange er sich so nah bei ihm aufhielt, wurde auch Conelly zum Teil darin einbezogen. Im Gegensatz zu Quaraan wurde er nicht auch vollständig unsichtbar, aber er war wesentlich schwerer zu erkennen, vor allem, wenn er sich in dunklen Ecken und Nischen verbarg. Auf diese Art waren sie unbemerkt bis nach Coney Island gekommen. Hier jedoch, im Inneren des Kabinetts, wo es keinerlei Möglichkeit gab, sich zu verstecken, nutzte ihm diese Fähigkeit nicht viel. Aber er hatte ja auch nicht vor, sich selbst unbemerkt an Ulthar heranzuschleichen. Wichtig war nur, daß der Magier Quaraan nicht zu früh entdeckte.

Er öffnete eine Tür und trat in den dahinterliegenden Raum. Hinter ihm schlug die Tür krachend zu, noch bevor auch Quaraan eintreten konnte.

Ulthar schien ihn erwartet zu haben, zumindest zeigte er keinerlei Spuren von Überraschung oder Erschrecken, als Conelly so plötzlich vor ihm auftauchte.

»Du bist also zurückgekommen«, sagte er ruhig. »Das war zu erwarten, aber ich hätte nicht erwartet, daß du dich allein noch einmal hierherwagst. Es sei denn, du bist gekommen, um mich um Frieden zu bitten und dich mir zu unterwerfen.«

Conelly lachte auf. »Du bist verrückt, alter Mann. Ich soll mich dir unterwerfen? Ich bin hier, um dich zu töten.«

Noch während er sprach, zog er ein Messer aus der Tasche und sprang vor. Doch statt den Magier zu fassen zu bekommen, prallte er gegen irgend etwas Hartes und wurde zurückgeschleudert.

Ulthars dröhnendes Gelächter erfüllte die Luft. Er ging durch den Raum, lehnte sich an den Tisch und musterte Conelly aus kalten, mitleidslosen Augen. »Hast du geglaubt, ich hätte mich nicht auf deinen Besuch vorbereitet, Conelly?« fragte er fast mitleidig. »Hast du wirklich angenommen, ich wäre so dumm, mich dir schutzlos auszuliefern, nachdem ich dich bis hierher kommen gelassen habe?«

Conelly brüllte in sinnloser Wut auf, sprang vor und prallte erneut klirrend gegen ein unsichtbares Hindernis.

»Spiegel!« keuchte er. »Du bist ebenfalls nur ein ...«

»Selbst du hast es nicht gemerkt«, fiel ihm Ulthar lächelnd ins Wort. »Du bist mir in den vergangenen Tagen nicht ein einziges Mal wirklich nahe gekommen, Monstermacher.«

»Du hast alles geplant«, keuchte Conelly. »Du hast von Anfang an vorgehabt, mich in deine Gewalt zu bringen.«

»Eine direkte Konfrontation mit dir hätte mich nur von wichtigeren Dingen abgehalten. Ich hatte gehofft, dich noch ein wenig länger täuschen zu können«, gestand Ulthar. Sein Blick wurde plötzlich hart. »Aber das macht jetzt nichts mehr, Conelly. Ich habe dich da, wo ich dich haben wollte. Du sitzt in der Falle.«

Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wurde es dunkel. Conelly keuchte überrascht auf, warf sich herum und prallte gegen eine kühle, glatte Wand. Zwei, drei Sekunden lang schlug er wütend gegen das unsichtbare Hindernis, bevor er einsah, daß er hier mit bloßer körperlicher Gewalt nicht weiterkam. Er trat zurück, stieß ein wütendes Knurren aus und richtete seine paranormale Kraft gegen die Barriere.

Das Ergebnis war - Chaos.

Ein greller, unerträglich heißer Blitz schien ihn einzuhüllen. Er schrie, brüllte vor nie gekanntem Schmerz und wälzte sich in Agonie auf dem Boden. Jede einzelne Nervenfaser, jede Zelle seines Körpers schien in Flammen zu stehen. Flüssige Lava kroch durch seine Adern, brachte sein Blut zum Kochen und schien seinen Körper sprengen zu wollen. Es war seine eigene Kraft, die auf ihn zurückgeworfen wurde und ihn zu vernichten drohte.

Nach einer Ewigkeit erst begann der Schmerz langsam zu verebben.

Conelly fand sich zusammengekrümmt am Boden liegend, gedemütigt wie nie zuvor. Er versuchte aufzustehen, aber der Schmerz kam wieder und zwang ihn erneut auf Hände und Knie herunter.

»Du siehst, Monstermacher, auch deinen Kräften sind Grenzen gesetzt«, vernahm er Ulthars scheinbar aus dem Nichts ertönende Stimme.

Conelly stöhnte. »Ich ... ich werde dich vernichten«, preßte er hervor. »Ich kriege dich, und dann werde ich dich töten!«

»Nichts wirst du, Conelly«, gab Ulthar ruhig zurück. »Deine Macht ist gebrochen. Du wirst nie wieder herrschen. Niemand kann meinen Spiegeln entkommen.« Er kicherte. »Das kannst du nun am eigenen Leib erfahren. Versuch ruhig, dich zu befreien. Ich habe Wichtigeres zu tun, als meine Zeit mit dir zu vergeuden. Es interessiert dich sicher, daß Vivian Taylor gerade gefangen zu mir gebracht wird.«

»Ulthar!« Conelly sprang, den aufflammenden Schmerz ignorierend, auf die Füße und hämmerte wütend gegen die Wände. Aber der Magier meldete sich nicht mehr.

»Quaraan«, stöhnte Conelly. »Quaraan, hörst du mich?«

Langsam, ganz langsam nur begriff Conelly, daß er wirklich gefangen war.

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