30

Melissa war zufrieden.

Sie wußte nicht recht, ob sie sich darüber freuen sollte, daß Vivian Taylor erneut entkommen war, oder ob sie es bedauern sollte. Hätten die Hedons Erfolg gehabt, wäre es für sie leicht gewesen, Vivians Leiche zu beseitigen und endgültig deren Position einzunehmen.

Andererseits bereitete ihr das Spiel immer mehr Spaß. Bislang war alles nach Plan verlaufen. Vivian war in Todesgefahren geraten, aus denen sie sich nur durch den Einsatz ihrer PSI-Kräfte hatte befreien können. Wenn es soweit war, hatten diese instinktiv die Kontrolle über ihr Handeln übernommen, sowohl beim Absturz des Flugzeugs wie auch beim Mordversuch der Hedons.

Genau das hatte Melissa erreichen wollen. Nun war Vivian Taylor mit ihrer Kraft fast am Ende. Sie war so stark geschwächt, daß sie ein leichtes Opfer darstellte, und deshalb bedauerte Melissa das Scheitern der Hedons licht übermäßig. Hätten sie Erfolg gehabt, hätte es sie im das Vergnügen gebracht, ihrer Gegnerin höchstpersönlich den Todesstoß zu versetzen.

Es wurde Zeit, Vivian zu holen.

Melissa stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. Die Sonne würde in wenigen Augenblicken aufgehen; es wurde hell. Heute noch, dachte Melissa. Dieser lag würde die Entscheidung bringen.

Bevor die Sonne das nächste Mal aufging, würde Vivian Taylor tot sein.


Das Erwachen kam genauso übergangslos wie die Bewußtlosigkeit. Es gab kein langsames Hinüberdämmern, wie Mark es von anderen Gelegenheiten her kannte. Er erwachte so abrupt, als habe jemand irgendwo einen Schalter umgelegt und sein Denken wie eine Glühbirne wieder angeschaltet.

Grelles, orangerot gefärbtes Sonnenlicht blendete ihn. Mark hob instinktiv die Hand, um seine Augen vor der blendenden Helligkeit zu schützen. Er blinzelte. Irgendwo in seinem Unterbewußtsein nagte der Gedanke, daß etwas nicht in Ordnung war, aber es dauerte fast eine Minute, ehe er wirklich erkannte, was es war.

Seine Umgebung hatte sich verändert. Dort, wo eigentlich die verkohlten Überreste der Hedon-Farm sein sollten, erstreckte sich eine sanft abfallende, nach Süden hin von Felsen und riesigen Findlingen begrenzte Wiese. Die Luft roch nach frisch geschnittenem Gras und Wildnis statt nach verkohltem Holz, und statt des Sirenengeheuls, das er halbwegs erwartet hatte, drang nur das heisere Krächzen eines Vogels an sein Ohr.

Auf der anderen Seite ragten die Mauern Hillwood Manors auf.

Im ersten Moment glaubte Mark, noch immer in den Spinnweben eines Traums gefangen zu sein, der ihn bis in die Realität hinein verfolgte. Er blinzelte noch ein paarmal und erwartete, daß das alte Herrenhaus verschwand, sich als die Illusion entpuppte, die es nur sein konnte. Aber das tat es nicht. So schwer es Mark auch fiel, sich das vorzustellen, er war fast zweihundert Meilen von der niedergebrannten Farm entfernt aufgewacht!

Er fuhr herum, sah sich um und sprang mit einem Satz auf die Füße, als er Vivian wenige Meter neben sich im Gras liegen sah. Mit einem Satz war Mark bei ihr. Vivian war bei Bewußtsein. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber Mark hatte den Eindruck, daß sie ihn überhaupt nicht wahrnahm. Ihr Blick schien direkt durch ihn hindurchzugehen und auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter seinem Rücken gerichtet zu sein. Sie bewegte die Lippen, aber alles, was Mark verstehen konnte, waren sinnlose, verworrene Satzfetzen und ein hohes, kindliches Wimmern.

Er kniete neben ihr nieder, legte ihren Kopf vorsichtig auf seinen Schoß und berührte mit einer hilflosen Geste ihre Stirn. »Kannst du mich ... verstehen?« fragte er stockend.

Zuerst schien es, als würde Vivian nicht reagieren. Aber dann, nach einer scheinbaren Ewigkeit, klärte sich ihr Blick. Sie bewegte den Kopf und nickte unmerklich.

»Hast du Schmerzen?«

Die Frage war mehr als überflüssig. Vivians Körper war über und über von Brandwunden und Hautabschürfungen entstellt, und ihre rechte Gesichtshälfte war geschwollen und dunkel angelaufen. Trotzdem schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Ich bin nur ... müde.«

»Versuch, ob du aufstehen kannst. Ich helfe dir. Es sind nur ein paar Schritte zum Haus.«

Vivian richtete sich mit erstaunlicher Kraft in eine sitzende Position auf. »Wie ... wie sind wir hierher gekommen?«

Mark zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur noch, wie die Farm abgebrannt ist und ich mit dir aus dem brennenden Haus geflohen bin. Dann wurde ich ohnmächtig, und als ich wieder erwachte, befanden wir uns hier.«

»Die Farm ist abgebrannt?«

Mark nickte. Ein bitterer Kloß saß ihm plötzlich im Hals. »Die Hedons haben versucht, uns umzubringen.«

»Ich erinnere mich vage«, stammelte Vivian. »Es war ein ... Inferno. Ich hatte solche Angst, und dann ...« Ein entsetzter Ausdruck trat in ihre Augen. »Mark, ich wollte das nicht, das mußt du mir glauben! Es war nicht ich, die das getan hat. Es kam einfach über mich. Ich konnte mich nicht dagegen wehren.«

»Ich glaube dir ja«, murmelte Mark. »Wir können später darüber reden. Denkst du, du schaffst es, aufzustehen?«

Vivian nickte. Sie stemmte sich langsam in die Höhe, doch Mark mußte ihr dabei helfen. Zweimal wäre sie fast gestürzt, wenn er sie nicht festgehalten hätte. Er hielt sie auch noch am Arm fest, als sie die ersten zögernden Schritte machte. Erst als sie einigermaßen sicher auf den Beinen stand, ließ er sie los.

»Versuchen wir es. Es ist nicht weit.«

Langsam näherten sie sich dem Haupteingang von Hillwood Manor. Nirgendwo zeigte sich ein Zeichen von Leben, das Anwesen schien wie ausgestorben. Das zweiflügelige Tor stand einladend offen.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Mark, während sie in die große Eingangshalle traten. »Wo steckt das Personal? Und warum steht hier alles offen?«

»Melissa«, murmelte Vivian. »Wir ... wir haben uns getäuscht. Verdammt, ich hätte früher darauf kommen können.«

»Was meinst du?«

»Ich habe mir die ganze Zeit eingebildet, hier wären wir sicherer vor ihr als an irgendeinem anderen Ort. Dabei hat sie die ganze Zeit hier auf uns gewartet.«

»Ganz recht«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Gleichzeitig schlug das Tor mit dumpfem Dröhnen zu.

Mark drehte sich langsam herum - und erstarrte. Hinter ihm stand Melissa.

Es war das erste Mal, daß er das von Melissas Geist beherrschte Spiegelbild Vivians persönlich sah. Sekundenlang starrte er in das schmale, von schwarzem Haar umrahmte Gesicht, suchte fast verzweifelt nach irgendeiner Abweichung, einem Fehler, aber die Kopie war so perfekt, wie ein Spiegelbild nur sein konnte, sah man davon ab, daß die echte Vivian zerschunden und verletzt war.

Hinter Marks Stirn tobte ein Chaos. Er war unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Plötzlich konnte er gut nachvollziehen, wie Vivian zumute gewesen sein mußte, als sie seinem eigenen negativen Spiegelbild gegenübergestanden hatte.

Melissa lächelte kalt. »Du hast recht, Vivian«, sagte sie spöttisch. Sie breitete die Arme aus. Der rote, lose fallende Umhang ließ ihre Gestalt größer und drohender erscheinen, als sie wirklich war. Eine seltsame Veränderung schien plötzlich mit ihrer Umgebung vorzugehen. Das durch die hohen Fenster hereinfallende Licht schien schwächer und diffuser zu werden. Die Möbelstücke verblaßten zu harten, skeletthaften Konturen. »Ich wußte ja, daß ihr kommen würdet und brauchte nur hier zu warten. Dieser Ort schien mir ideal für einen Entscheidungskampf.«

»Du ... du bist wahnsinnig«, flüsterte Mark.

»Bin ich das?« Melissa schüttelte den Kopf. »Ich tue nur, was sogar jeder halbwegs vernünftige Mensch an meiner Stelle tun würde. Ich werde den Taylor-Konzern regieren, aber das ist nur eine kleine Annehmlichkeit. Ich muß zugeben, es hat mich ziemlich überrascht, daß ihr es geschafft habt, lebend aus der Spiegelwelt zurückzukehren. Ich hatte gehofft, ihr würdet schon dort sterben, das wäre die einfachste Lösung gewesen, wenn auch etwas unbefriedigend für mich. Aber jetzt kann ich ja nachholen, was Moron versäumt hat.«

Mark atmete scharf ein, ballte die Fäuste und stellte sich schützend vor Vivian. »Du mußt mich schon mit umbringen, wenn du sie töten willst.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl«, entgegnete Melissa spöttisch. »Aber später - hab noch ein bißchen Geduld. Zuerst wirst du miterleben, wie deine Frau stirbt.«

Mark machte eine Bewegung, als wolle er auf sie zutreten, und blieb sofort wieder stehen, als Melissa drohend die Hand hob. Es war nicht einmal so, daß er Angst gehabt hätte - er wußte, daß dieser Teufel mit Vivians Gesicht die Macht besaß, ihn mit einem Fingerschnippen zu vernichten. Aber er hatte keine Angst vor dem Tod; nicht in diesem Moment. Alles, woran er dachte, war Vivian. Seine Gedanken überschlugen sich.

»Du kannst sie nicht töten!« sagte er.

»Ach?« Melissa lächelte zuckersüß, aber es war kein wirkliches Lächeln. In diesem Punkt war die Kopie nicht perfekt. So sehr sich Vivian und ihre schwarze Schwester auch ähneln mochten, so verschieden waren sie gleichzeitig auch. Es war kein Unterschied, der sichtbar gewesen wäre, aber dafür war er um so deutlicher zu fühlen. Diese Frau war kalt wie Eis. »Kann ich nicht?«

»Du würdest dich selbst umbringen!« sagte Mark. »Du hast es selbst gesagt - ihr zwei seid eins. Zwei Seiten der gleichen Münze. Du tötest dich selbst, wenn du sie umbringst.«

Melissas Blick wurde für einen Moment nachdenklich. Dann nickte sie, als hätte sie den Gedanken ernsthaft erwogen und zumindest in gewisser Hinsicht für interessant befunden. Aber ihr Blick blieb so kalt, wie er gewesen war. »Eine hübsche Theorie«, sagte sie. »Schade nur, daß sie falsch ist. Vivian und ich sind in der Tat zwei Erscheinungsformen ein und desselben Körpers, und in einem Punkt hast du sogar recht. Wir können nicht beide in dieser Welt leben. Einer von uns muß gehen. Und jetzt tritt zur Seite - bitte!«

Mark schüttelte entschlossen den Kopf. Ihm entging nicht der grausame Spott, der in Melissas Worten anklang. Vivian würde in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht einmal einen Kampf gegen einen normalen Menschen bestehen. Melissa hatte geschickt dafür gesorgt, daß sie mit ihren Kräften am Ende war. Plötzlich begriff er, welcher Sinn hinter dem Ganzen gesteckt hatte. Der Sturm, der Flugzeugabsturz, das Feuer - Melissa war es keine Sekunde lang darauf angekommen, Vivian zu töten. Alles hatte nur dem Zweck gedient, Vivian zum Einsatz ihrer paranormalen Kräfte zu zwingen, sie zu schwächen und der Hexe einen entscheidenden Vorteil für diesen Kampf zu verschaffen. Plötzlich war er nicht einmal mehr sicher, daß Melissa Vivian jemals wirklich hatte umbringen wollen. Vielleicht war es nicht der Tod, der ihr drohte, sondern etwas ungleich Schlimmeres.

»Sie hat recht, Mark«, ergriff Vivian das Wort. »Tu besser, was sie sagt. Dieser Kampf zwischen uns ist schon lange überfällig. Du kannst mir dabei nicht helfen.« Sie sah auf, blickte ihr Spiegelbild ein paar Sekunden lang auf eine Art an, die Mark einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, und fügte ganz leise und mit seltsamer Betonung hinzu: »Das hier geht nur uns beide etwas an.«

»Aber du kannst unmöglich kämpfen«, stieß er hervor. Seine Stimme brach fast vor Furcht. »Du bist viel zu schwach. Sie bringt dich um

»Du irrst dich, Mark«, sagte Vivian. »Sie wird mich nicht töten. Das hat sie niemals vorgehabt, weil sie es nämlich gar nicht kann - nicht wahr, Schwester?« Sie machte einen Schritt auf Melissa zu und blieb stehen, wie Mark vor ihr, aber nicht aus Angst; nicht aus Furcht um ihr Leben, sondern auf eine Weise, die Mark nicht in Worte fassen konnte.

Vielleicht zum ersten Mal, seit er Vivians dunkles Ebenbild kennengelernt hatte, sah er Unsicherheit in ihrem Blick; möglicherweise sogar wirkliche Angst. Er spürte auch, daß Melissa ebensowenig wie er wußte, was Vivian vorhatte. Mit einer herrischen Bewegung trat sie auf Vivian zu und hob die Hand. Mark wollte sich schützend vor Vivian stellen, aber Melissa fegte ihn einfach zu Boden; mit einer Bewegung des kleinen Fingers und fast, ohne ihn zu berühren. Er taumelte zurück, stürzte schwer auf den Rücken und unternahm keinen Versuch mehr, sich zu erheben.

»Was soll der Unsinn?« fragte Melissa. Der Zorn in ihrer Stimme überzeugte so wenig wie ihr Lächeln zuvor, denn es war jene Art von Schärfe, die Unsicherheit überspielen sollte. »Versuch nicht, mich auszutricksen. Ich weiß, wie du denkst. Ich bin du, vergiß das nicht.«

»Ich weiß«, sagte Vivian ruhig. »Ich habe es keine Sekunde vergessen. Niemals. Im Gegensatz zu dir.«

Melissas Augen wurden schmal wie die einer Katze, die eine Beute musterte, bei der sie sich noch nicht ganz sicher war, ob sie nun Opfer oder möglicherweise Jäger war. »Du bluffst«, sagte sie.

Vivian lächelte. Es war ein sehr trauriges, melancholisches Lächeln, ein Ausdruck, wie Mark ihn noch nie zuvor auf ihrem Gesicht gesehen hatte, und der ihm fast mehr angst machte als alles, was er in den letzten Stunden erlebt hatte.

Und ganz plötzlich wußte er, warum das so war, denn er begriff mit einem Male, was dieses Lächeln bedeutete.

Aber es war zu spät.

Vivian drehte sich zu ihm herum und öffnete die Hand, und in derselben Sekunde sah er, was sie darin verborgen gehabt hatte. Er hatte es nicht gemerkt, obwohl sie es die ganze Zeit über bei sich gehabt haben mußte. Vivian mußte all ihre verbliebene Macht aufgewandt haben, um es zu verbergen. Er hatte es nicht bemerkt. Niemand hatte es gemerkt, auch Melissa nicht.

»Es tut mir leid, Mark«, sagte Vivian. »Bitte verzeih mir.« Und damit drehte sie sich wieder zu Melissa um und hob die Hand, und endlich sah auch sie, was darin blitzte: die zehn Zentimeter lange Klinge des Dolches, mit dem Hedon sie hatte opfern wollen.

In der ersten Sekunde war Melissa einfach fassungslos. Dann lachte sie, schrill und so laut, daß es fast in Marks Ohren schmerzte.

Und dann brach dieses Lachen unvermittelt ab und machte purem Entsetzen Platz.

»Nein!« schrie sie. »Das kannst du nicht tun! DAS WAGST DU NICHT!«

Auch Mark schrie entsetzt auf und versuchte auf die Beine zu kommen, um sich auf Vivian zu stürzen, und im gleichen Bruchteil einer Sekunde spürte er, wie Melissa all ihre mentalen Kräfte zu einem einzigen, gewaltigen Schlag sammelte. Vivian sprang vor, streckte den linken Arm aus und krallte die Hand in Melissas Haar. Blaues Elmsfeuer zuckte aus ihren Fingerspitzen, ein helles, elektrisches Knistern war zu hören, und für eine halbe Sekunde waren ihre beiden Gestalten von zitternden blauen Lichtfäden umhüllt. Noch immer tobten Funken über ihre Körper, ein verzehrendes blaues Feuer, das sie beide aneinanderkettete. Vivians letztes, verzweifeltes Aufbegehren, in dem der Rest Kraft lag, den sie noch besaß.

Und der Dolch berührte beinahe sanft Vivians Brust und senkte sich bis zum Heft hinein.

Melissa schrie wie in unvorstellbarer Qual auf. Verzweifelt warf sie sich zurück, schlug mit der einen Hand nach Vivians Gesicht und versuchte mit der anderen, ihre Finger aus ihrem Haar zu lösen, aber es gelang ihr nicht. Vivian brach ganz langsam in die Knie und zog sie dabei mit sich, und ihre Finger hatten sich unlösbar in Melissas Haar gekrallt. Sie sank vollends auf die Knie herab, blieb einen Moment lang wankend sitzen und kippte dann zur Seite. Ihre Finger lösten sich aus Melissas Haar, und ihr dunkles Ebenbild riß sich mit einem Schrei vollkommen los, sprang wieder in die Höhe und stürzte in der gleichen Bewegung zu Boden.

Mark hatte Vivian endlich erreicht. Mit einem Schrei fiel er neben ihr auf die Knie und streckte die Hände nach ihr aus. Aber er wagte es nicht, sie zu berühren, als er ihrem Blick begegnete.

Sie starb. In ihren erlöschenden Augen war noch ein winziger Funke von Leben, aber er war nicht einmal sicher, ob er noch ausreichte, sie ihn erkennen zu lassen. Ihre rechte Hand löste sich vom Griff des Dolches und sank kraftlos zu Boden, und im gleichen Augenblick hörte er, wie auch Melissa wieder zurückfiel, denn das Leben, das in einem hellroten, pulsierenden Strom aus Vivians Körper herausfloß, war auch das Leben ihres negativen Ebenbildes. Auf einer tieferen, seinem bewußten Zugriff in diesem Moment noch verschlossenen Ebene seines Denkens begriff er, was sie getan hatte, nämlich den schwindenden Rest ihrer Kräfte dazu zu nutzen, sich ein letztes Mal mit ihrer dunklen Schwester zu vereinen. Die Kräfte hatten nicht mehr gereicht, sie Melissa überwinden zu lassen oder sie gar wieder zu zwingen, zu dem zu werden, was sie einst gewesen war. Aber sie hatten gereicht, ihren Tod zu ihrer beider Ende werden zu lassen.

»Du ... hast mich ... also doch noch überlistet«, drang Melissas Stimme in seine Gedanken. Mühsam hob Mark den Kopf und sah sie an. Sie hatte sich herumgedreht und war ein Stück auf Vivian zugekrochen, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt und die Hände zu Krallen geformt; ein sterbendes Raubtier, das seinen letzten Atem dazu aufwendete, sein Opfer doch noch zu bekommen und es mit sich in den Tod zu reißen. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, und in ihren Augen loderte ein Feuer, das ihn schaudern ließ. Aber der Haß, auf den er wartete, kam nicht. Er spürte nichts. Nicht einmal mehr wirklichen Schmerz. Er fühlte sich einfach nur leer.

»Aber das ... nutzt dir nichts«, hauchte Melissa. Auch sie starb. »Du hast ... gewonnen, aber du ... entkommst mir ... trotzdem nicht«, flüsterte sie. »Ich werde ... immer bei dir ... sein, Schwester. Auch auf der ... anderen Seite.«

Ihre Bewegungen hörten auf. Das Feuer in ihrem Blick erlosch, ihr Kopf rollte kraftlos zur Seite, und als Mark den Blick wieder senkte und auf Vivian hinabsah, war das Leben auch aus ihren Augen gewichen. Langsam, unendlich behutsam und zärtlich streckte er die Hand aus, berührte ihr Gesicht und schloß ihre Augen. Die Berührung spendete keinen Trost. Das Wunder, auf das er wartete, kam nicht. Vielleicht hatte sie es von Anfang an so geplant. Vielleicht hatte etwas in ihr vom ersten Moment an gespürt, daß sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte, denn sie kämpfte ihn gegen ein Geschöpf, das so klug und stark und mächtig war wie sie selbst, aber unvorstellbar böse. Sie hatte gekämpft, und sie hatte alles gegeben, was sie hatte, aber der Preis, den sie dafür hatte zahlen müssen, war vielleicht zu hoch gewesen. Es waren Menschen gestorben. Sie hatte Menschen getötet, und er wußte plötzlich, daß sie mit dieser Last so oder so nicht hätte weiterleben können. Doch all dies begriff er erst viel später, und es sollte noch länger dauern, bis er begann, auch den Trost zu verspüren, der in diesem Gedanken lag. Im Augenblick empfand er nichts. Nicht einmal mehr Entsetzen. Er saß einfach neben ihr und starrte ins Leere, und als er das nächste Mal den Blick hob, da waren sie allein; Melissa war verschwunden, wie sie gekommen war. Aber er vergaß ihre letzten Worte nie: »Ich werde immer bei dir sein, Schwester. Auch auf der anderen Seite.«


ENDE


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