Die Beleuchtung war bis auf den matten, rotgelben Schimmer einer einzelnen Kerze erloschen. Leise, fremdartige Musik erfüllte den Raum; Klänge, die von schrillem Diskant bis zu einem tiefen, beunruhigenden Hämmern reichten und von untergegangenen Kulturen und finsteren Riten kündeten. Durch die geschlossenen Fenster schien die Nacht mit ihren Schatten und Ängsten hereinzusickern.
Der Raum hatte kaum noch etwas mit dem hellen, freundlichen Wohnzimmer gemein, das Mark und Vivian am Nachmittag kennengelernt hatten. Die Wände waren mit schwarzem Samt verhängt, in dessen Falten fremdartiges Leben zu pulsieren schien, und auf dem Fußboden war mit schwarzer Kreide ein kompliziertes Muster aus kabbalistischen Zeichen und einfachen, einprägsamen Symbolen entstanden. Die Zeichnung hatte die Form eines großen, sechseckigen Sternes.
»Kniet nieder«, sagte Jack Hedon. Für einen Moment übertönte das Rascheln von Kleidung das leise Geräusch der Musik, als die fünf anderen seinem Befehl gehorchten. Auch der Farmer hatte sich verändert. Er trug jetzt ein langes, lose fallendes Gewand aus schwarzer Seide, auf dessen Rücken ein verkleinertes Abbild des Sternes eingestickt war, in dessen Spitzen er und die übrigen Mitglieder seiner Familie knieten.
Die Gesichter der anderen waren starr nach unten gerichtet. Keiner von ihnen wagte es in diesem Moment, Hedon anzusehen. In den Augen des Farmers begann ein fanatisches Feuer zu glühen.
»Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen«, erklärte er. Die Worte klangen seltsam hohl und unirdisch in den Raum mit den samtverhangenen Wänden. »Der große Tage ist gekommen, meine Kinder. Der Tag, auf den wir so lange und geduldig gewartet haben.«
Schon seit langer Zeit versuchte Jack Hedon, mit den Mächten der Finsternis in Kontakt zu treten. Seinen Bemühungen war bislang stets der Erfolg verwehrt geblieben, aber Jack Hedon war schon immer ein hartnäckiger Mann gewesen. Geduldig hatte er damit begonnen, seine Familie in sein schwarzes Netz einzuspinnen. Er hatte seine Frau und die damals noch kleinen Kinder in die Anfänge des Okkultismus eingeweiht, hatte begonnen, schwarze Messen zu lesen und so etwas wie eine private Götzensekte aufzuziehen. So lange, bis ihm sowohl seine Frau als auch seine vier Söhne vollkommen hörig waren. Hedon war fest davon überzeugt, daß es ihm eines Tages gelingen würde, die Aufmerksamkeit Satans auf sich zu lenken. Von Kindheit an war er religiös erzogen worden, er glaubte an die Existenz Gottes ebenso wie an die des Teufels. Aber als er älter wurde, hatte er erkannt, daß es viel mehr Vorteile bot, dem Bösen zu dienen. Satan, der gefallene, aus dem Himmelreich vertriebene Engel, war für seine Hinterlist bekannt, aber auch dafür, daß er seine treuen Diener mit Macht und Reichtum belohnte.
Jack Hedon war entschlossen, die Gunst des Teufels zu erringen. Und die Chance dazu bot sich ihm - jetzt.
Er trat auf den großen Spiegel zu, der hinter ihm an der Wand hing. Sein Gewand raschelte leise, und im flackernden Licht der Kerze sah sein Gesicht aus, als wäre es mit Blut übergossen. »Hörst du uns, Herrin der Finsternis? Wir, deine treuen Diener rufen dich.« Hedon wußte, wie pathetisch und überheblich seine Worte klangen, doch er fand, daß dies der Bedeutung dieser Zeremonie angemessen war.
Ein flüchtiges Huschen glitt über die Oberfläche des Spiegels, leichter Nebel, dann schälte sich das Bild einer Frau daraus hervor. Eine Gestalt, die jener Frau bis aufs Haar glich, die sie bei sich beherbergten, und die doch völlig anders war.
»Ich höre dich«, sagte Melissa nüchtern. »Als ich gestern bei euch war, habe ich euch einen Auftrag erteilt. Nun ist die Zeit gekommen, ihn zu erfüllen. Seid ihr dazu bereit?«
Jack Hedon nickte. »Ja, wir sind bereit, Herrin.«
»Gut.« Melissa nickte zufrieden. »Wie ich es euch gestern angekündigt habe, habe ich euch diese Frau, die meinen Interessen im Wege steht, direkt in die Arme getrieben. Nun verlange ich, daß ihr euren Teil des Paktes erfüllt und den Auftrag ausführt, den ich euch gab. Tötet diese Frau und ihren Begleiter. Mein höllischer Vater wird euch reich dafür belohnen.«
»Wir werden tun, was du uns aufgetragen hast, Herrin«, sagte Jack Hedon. Mit langsamen, gemessenen Schritten ging er zu einem kleinen Schrank hinüber, öffnete eine Schublade und nahm einen schmalen, mit Samt ausgeschlagenen Kasten heraus, den er in das Zentrum des Kreidezeichens hineinlegte. »Nehmt die verfluchten Waffen«, sagte er hohl. »Nehmt sie und tötet Vivian Taylor!«
Er trat zurück, richtete sich hoch auf und wartete schweigend, bis jeder der fünf einen schmalen, silbernen Dolch mit gewellter Klinge an sich genommen hatte, bevor auch er selbst Zugriff.
Zufrieden beobachtete Melissa sie. Die Hedons, allen voran Jack Hedon, waren Dummköpfe, irregeleitete Narren, die an Unfug wie Götter und Dämonen glaubten und sich einbildeten, es gäbe einen Teufel, den sie mit ihren albernen Zeremonien beeindrucken könnten. Nun, ihr konnte es gleich sein, für sie stellten die Hedons nur Werkzeuge dar. Sie war auf sie gestoßen, als sie nach dem günstigsten Ort gesucht hatte, das Flugzeug abstürzen zu lassen. Sie hatte sich den Aberglauben der Leute zunutze gemacht und sich als Herrin der Finsternis, Tochter des Satans ausgegeben, und ein paar einfache, kleine Kostproben ihrer Macht hatten ausgereicht, Jack Hedon zu überzeugen.
Aber jetzt spürte sie auch den Widerwillen, den vor allem Hedons Frau diesem Mordauftrag entgegenbrachte. »Ich spüre den Keim des Zweifels in dir, Mary Hedon«, sagte sie mit drohender Stimme. »Du weißt, welche Strafe auf Ungehorsam steht. Mein Vater belohnt die, die uns dienen, reich. Aber er weiß genauso reich zu bestrafen. Du wirst gehorchen?«
»Ja, Herrin, ich werde gehorchen«, antwortete Mary mit zitternder Stimme.
»Dann geht! Tut es jetzt. Und tut es schnell!«
Zögernd setzten sich die fünf Gestalten in Bewegung und verließen den Raum. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, konnte Melissa ein Lachen nicht mehr länger unterdrücken. Es war kaum vorstellbar, wie ungeheuer naiv und einfältig diese Menschen waren. Sie hatten das Schicksal, das sie erwartete, mehr als verdient.
Mochten sie glauben, Macht und Reichtum mit ihrer Tat zu ernten. Das einzige, das sie jedoch wirklich finden würden, war der Tod. Wenn sie versagten, den Tod von der Hand Vivian Taylors.
Anderenfalls wären sie für Melissa nur lästige Zeugen und würden den verdienten Lohn von ihrer Hand erhalten.
Vivian Taylor warf sich unruhig hin und her. Sie schlief, aber es war ein unruhiger, quälender Schlaf, von Alpträumen und dunklen Visionen heimgesucht, ein Schlaf, aus dem sie erschöpfter erwachen würde, als sie eingeschlafen war.
Mark beobachtete sie nachdenklich, drückte seine Zigarette aus und suchte im Dunkeln nach einer neuen. Der Aschenbecher auf dem Beistelltisch quoll über, und die Luft war trotz der geöffneten Fenster stickig und verqualmt.
Er hatte versucht, ebenfalls zu schlafen, aber Vivians Unruhe hatte ihn wieder aus dem Bett getrieben. Im ersten Moment hatte er versucht, sie zu wecken, aber dann hatte er sich entschieden, sie doch schlafen zu lassen. Wenn ihr Geist schon nicht zur Ruhe kam, sollte wenigstens ihr Körper eine Erholungspause haben. Er war aufgestanden, hatte sich angezogen und sich an Tisch in der Ecke gesetzt, um eine Art Wache zu halten. Vivians Zustand erfüllte ihn mit mehr als bloßer Unruhe. Irgend etwas war mit ihr geschehen. Sie begann sich zu verändern, in immer stärkerem Maße und immer deutlicher.
Er hatte Angst. Angst um Vivian, ihre geistige und körperliche Gesundheit, und er verspürte auch eine weit größere Angst vor Melissa, als er sich bislang hatte anmerken lassen.
Er fand die Zigarettenpackung, klappte sie auf und stellte enttäuscht fest, daß sie leer war. Aber er mußte etwas tun, etwas haben, um seine Hände zu beschäftigen und seine Gedanken abzulenken. Er stand auf, ging auf nackten Füßen zur Tür und drückte die Klinke lautlos herunter. In der Reisetasche, die sie unten abgestellt hatten, befanden sich noch genug Zigaretten.
Als er auf den Korridor hinaustrat, drang leise Musik an sein Ohr, die ihn stutzen ließ. Eigentlich war es keine richtige Musik, eher eine Art von scheinbar wahllos und unmelodisch aneinandergereihten Tönen, die ihm eine Gänsehaut über den Rücken trieben.
Vorsichtig schlich er zur Treppe und lehnte sich über das Geländer. Ein loses Dielenbrett knarrte unter seinem Gewicht, aber das Geräusch würde unten kaum gehört werden.
Die Töne wurden lauter, als unten eine Tür geöffnet wurde, und für einen Moment erfüllte dunkelrotes, flackerndes Licht den Flur.
»Dann geht!« sagte eine Stimme, die er nur zu gut kannte. »Tut es jetzt. Und tut es schnell!«
Mit einem Schlag war Mark hellwach. Lautlos wich er zurück. Von unten waren jetzt Schritte zu hören, das Rascheln von Stoff und schwere, mühsam unterdrückte Atemzüge. Mark öffnete die Schlafzimmertür, schlüpfte hindurch und schloß sie bis auf einen schmalen Spalt. Seine Sinne waren bis aufs äußerste gespannt. Das Gefühl der Gefahr war jetzt fast greifbar.
Ein dunkler, geduckter Schatten erschien am Ende der Treppe, gefolgt von einem zweiten, dritten ... Mark zählte sechs Personen, die sich beinahe lautlos auf ihn zu bewegten. Alle trugen kuttenähnliche Gewänder mit spitz zulaufenden Kapuzen, die nur Gesichter freiließen. Sie waren im Dunkeln nicht genau zu sehen, aber Mark glaubte, die Hedons zu erkennen.
Er drückte die Tür ins Schloß, preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand und wartete mit angehaltenem Atem, bis die Klinke erneut heruntergedrückt wurde. Es blieb keine Zeit mehr, Vivian zu warnen, und in dem Zustand, in dem sie sich befand, hätte sie auch kaum schnell genug reagieren können. Mark tastete nach dem Lichtschalter und drückte ihn genau in dem Moment herunter, in dem der erste Eindringling das Zimmer betrat.
Es handelte sich wie erwartet um Malcolm, einen der Hedon-Söhne, wenn er sich richtig erinnerte. Mark reagierte um den Bruchteil einer Sekunde schneller als Malcolm. Er stieß sich von der Wand ab, warf sich schützend vor das Bett, in dem Vivian immer noch ahnungslos schlief und trat rechtzeitig zu. Sein Fuß kam in einer blitzschnellen Bewegung hoch und traf Hedons Handgelenk.
Der Junge schrie auf, ließ den Dolch fallen und taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. Für einen Augenblick entstand unter der schmalen Tür ein Tumult, als er gegen seine nachdrängenden Brüder stolperte und hinfiel.
Ein wütender, vielstimmiger Aufschrei gellte durch den Raum. Mark sprang zurück, blockte einen aufwärts geführten Messerstich mit dem Unterarm ab und schmetterte gleichzeitig einem der Angreifer seine Faust ins Gesicht. Der Mann wankte zurück, fiel auf Hände und Knie nieder und blieb stöhnend hocken. Gleich darauf fuhr Mark herum. Seine Linke schoß so schnell vor, daß die Bewegung mit dem bloßen Auge kaum noch zu verfolgen war. Ein weiterer Angreifer taumelte zurück, griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Kehle und sackte dann lautlos zu Boden.
Aber Mark hatte keine Zeit, sich über den Sieg zu freuen. Die übrigen Hedons stürzten sich mit unglaublicher Wut und Wildheit auf ihn. Er federte zurück, brachte einen Angreifer zu Fall und fiel dann selbst zu Boden, als er einem wütenden Messerstich ausweichen mußte.
Irgend etwas blitzte über ihm auf. Mark warf sich mit einem verzweifelten Satz zur Seite, kassierte dafür einen brutalen Tritt und griff blind nach dem Fuß. Neben ihm bohrte sich ein Messer in den Boden. Mark sprang wieder auf und wich langsam bis zur Wand zurück, tauchte im letzten Moment unter einem weiteren heimtückischen Messerhieb weg und schrie gleich darauf schmerzerfüllt auf, als sich eine Klinge in seinen Oberarm bohrte. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Sein linker Arm schien plötzlich wie gelähmt zu sein.
Die Hedons heulten triumphierend auf und drangen erneut auf Mark ein. Ein Messer schlitzte seine Jacke auf und hinterließ einen langen, brennenden Kratzer auf seiner Haut, und ein wütender Tritt gegen seine Kniescheibe brachte ihn aus dem Gleichgewicht.
Trotz des Schmerzes griff er mit beiden Händen nach einem Arm, der sich gierig nach seiner Kehle ausstreckte, und drehte ihn herum. Ein wütender Schmerzensschrei erscholl. Mark sprang zurück und hielt seinen Gefangenen wie einen Schild vor sich. Der Angriff der anderen kam für einen Moment ins Stocken.
»Laß ihn los!« zischte Mary Hedon. Sie stand neben dem Bett und richtete die Klinge ihres Dolches auf Vivians Brust. Ihr Gesicht war starr wie das einer Wachspuppe, nur ihre Augen glühten in einem fanatischen, verzehrendem Feuer. »Laß ihn los, oder Ihre Frau stirbt!« wiederholte sie scharf. »Sie haben keine Chance. Geben Sie auf!«
Die Stimme war von solcher Kraft, daß Mark für einen Moment versucht war, ihr zu gehorchen, aber er begriff, daß er damit nur das endgültige Todesurteil für Vivian und sich selbst unterschrieben hätte. »Den Teufel werde ich tun«, sagte er schweratmend. »Werfen Sie das Messer weg, wenn Sie Ihren Sohn wiederhaben wollen.« Er verstärkte den Druck auf den Arm des Jungen ein wenig und legte ihm gleichzeitig seinen Arm wie eine Schlinge um die Kehle. »Wenn Sie zustechen, töten Sie Ihren Sohn«, sage er drohend.
Die Frau zögerte sichtlich. Ihre Hände begannen zu zittern, und in ihre Augen trat ein unruhiges, unentschlossenes Flackern. Aber der Dolch schwebte weiterhin über Vivians Brust.
Mark bemerkte, daß Vivian wach war. Ihre Augen waren angstvoll aufgerissen, und ihr Körper hatte sich unter der Bettdecke verkrampft. Aber sie schien erkannt zu haben, daß jede Gegenwehr in diesem Augenblick der reine Selbstmord gewesen wäre.
»Sie bluffen, denn Sie sind nicht schnell genug«, sagte eine Stimme von der Tür her.
Mark fuhr herum. Unter der Tür stand eine riesige, drohende Gestalt: Jack Hedon. Der schwarze, lose fallende Umhang und die weit nach vorne gezogene Kapuze gaben seiner Erscheinung etwas Dämonisches. Er stand unbeweglich an seinem Platz, musterte Mark kalt und verzog spöttisch die Lippen. »Auch Sie werden sterben, Mister Taylor«, sagte er laut. »Ebenso wie Ihre Frau.« Er wandte sich an Mary. »Worauf wartest du noch? Tu es!«
Mark stieß seinen lebenden Schild von sich und sprang im gleichen Moment los, als Mary Hedon die Waffe zum tödlichen Stoß erhob. Für eine grauenhafte, unendlich lang erscheinende Sekunde schien die Zeit stillzustehen. Mark flog fast waagerecht durch die Luft, aber er wußte, daß er zu spät kommen würde.
Er sah plötzlich alles mit phantastischer Klarheit, sah, wie der Dolch in einer ungeheuer kraftvollen Bewegung heruntersauste, sah das Licht der Deckenlampe, das sich in Vivians aufgerissenen Augen spiegelte, ihre Arme, die in einer verzweifelten Abwehrbewegung hochkamen; zu spät, viel zu spät.
Im gleichen Moment überschlugen sich die Ereignisse.
Mary Hedon erstarrte mitten in der Bewegung, der niedersausende Dolch verharrte eine Handbreit über Vivians Brust. Ein ungeheurer Schlag erschütterte das Haus. Putz regnete von der Decke, die Fensterscheiben zerbrachen klirrend. Das Licht ging aus, flackerte noch einmal und erlosch endgültig. Mark überschlug sich in der Luft, krachte schmerzhaft zu Boden und sah aus den Augenwinkeln, wie Mary Hedon von der gleichen unsichtbaren Gewalt, die ihn aus der Bahn geworfen hatte, hochgehoben und von dem Bett fortgerissen wurde. Blitze zerfetzten die Luft, verwandelten den Raum in ein blendendes, in blauweißes Flackerlicht getauchten Chaos aus Hitze und Schmerzensschreien, dem Geruch verbrannten Fleisches und hellem, elektrischem Knistern.
Einer der Blitze zuckte auf Jack Hedon zu, sengte in den Türrahmen neben seiner Schulter und ließ das Holz aufflammen. Hedon brüllte entsetzt auf, als die Flammen mit unglaublicher Geschwindigkeit nach seiner Robe griffen und sie in Brand setzten. Ein zweiter Blitz traf ihn in die Brust und ließ ihn wie eine leblose Spielzeugpuppe zu Boden sinken.
Mark stemmte sich stöhnend hoch, aber die gleiche unsichtbare Kraft, die ihn schon einmal zu Boden geworfen hatte, hielt ihn auch diesmal fest und drückte ihn zurück. Er sah, daß Vivian sich halb aufgerichtet hatte. Ihre weit aufgerissenen Augen schienen in einem verzehrenden Feuer zu glühen. »Nein!« schrie er. »Vivian, tu es nicht! Hör auf!«
Sie hörte ihn nicht einmal. Erneut zuckten Blitze durch den Raum. Direkt neben Mark verwandelte sich Mary Hedon in eine lebende Fackel. Sie schrie auf, taumelte mit wild rudernden Armen durch den Raum und wurde schließlich von einem zweiten Blitz gefällt.
Hinterher wußte Mark nicht mehr, wie lange das entsetzliche Schauspiel gedauert hatte. Der Raum verwandelte sich in einen Alptraum aus Hitze und Licht. Weitere Blitze zuckten durch die Luft, ließen Tapeten und Möbelstücke in Flammen aufgehen, sengten lange, gezackte Rußspuren in Decke und Fußboden und fraßen sich in Stoff und Fleisch. Vorhänge und Möbel begannen zu brennen. Schwarzer, beißender Qualm verpestete die Luft. Die Deckenbalken begannen zu schwelen und fingen schließlich Feuer. Selbst als sich längst keiner der Hedons mehr rührte, peitschten die Blitze noch immer in ihre leblosen Körper.
Irgendwann hörte es auf.
Keuchend kam Mark auf die Beine. Um ihn herum brannte das Haus. Er wankte auf das Bett zu. Vivian hatte erneut das Bewußtsein verloren.
Durch die geöffnete Korridortür drang plötzlich helle, wabernde Helligkeit, als die Holztreppe mit einem explosionsartigen Knall Feuer fing.
Das Bauernhaus war nur äußerlich modern gewesen. Unter Rauhputz befand sich immer noch das Reisig- und Strohgeflecht, mit dem seine ursprünglichen Erbauer sich vor Jahrhunderten vor Kälte und Wind geschützt hatten. Der Brand breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Die uralten Eichenbalken, die Dach und Zwischendecke trugen, flammten fast gleichzeitig auf, und das Treppenhaus verwandelte sich innerhalb weniger Sekunden in ein kochendes Flammenmeer. Schon nach wenigen Augenblicken war das Haus von dicken, beißenden Rauchwolken erfüllt. Die Luft war so heiß, daß Mark schmerzerfüllt aufschrie. Er riß Vivian hoch, nahm sie auf die Arme und torkelte halbblind zur Tür.
Eine Flammenwand schlug ihnen entgegen. Mark hob schützend eine Hand vors Gesicht, preßte Vivian mit der anderen eng an sich und versuchte, das Zimmer zu verlassen, aber die ungeheure Hitze trieb ihn fast augenblicklich zurück. Außerdem hatte ihm der kurze Blick deutlich gezeigt, daß es auf diesem Wege kein Entkommen gab. Die Treppe stand in hellen Flammen, und noch während Mark ins Schlafzimmer zurückwich, brach ein Teil der ohnehin altersschwachen Stufen zusammen und prasselte in einem feurigen Hagel ins Erdgeschoß hinunter.
Mark sah sich gehetzt um. Die Luft schien wie flüssiges Feuer in seiner Kehle zu brennen. Er hustete und wankte zum Fenster, schlug mit den Ellbogen die scharfkantigen Glassplitter aus dem brennenden Rahmen und beugte sich hinaus. Der Boden schien mindestens eine Meile unter ihm zu liegen.
Das Fenster neben ihm zerbarst in einem glühenden Scherbenregen nach draußen. Flammen schlugen wie aus einem überdimensionalen Kamin ins Freie, leckten an der Hauswand empor und hinterließen eine breite, rußige Spur.
Mark vergeudete eine kostbare Sekunde damit, die kühle Nachtluft einzuatmen, dann kletterte er zitternd auf das schmale Fensterbrett hinaus und zog Vivian hinter sich her. Ihr Haar war verkohlt, und ihr schmales, schönes Gesicht war von einer Unzahl von Brandblasen verunstaltet.
Mark richtete sich auf dem kaum zehn Zentimeter breiten Brett auf und atmete tief ein. Dann sprang er.
Der Boden schien ihm mit unglaublicher Geschwindigkeit entgegenzurasen. Mark zog die Beine an, preßte Vivians zitternden Körper an sich und bereitete sich auf den Aufprall vor. Gleich darauf hatte er das Gefühl, zwischen Hammer und Amboß einer gigantischen Schmiede geraten zu sein. Er knickte in den Kniekehlen ein, fiel mit mörderischer Wucht auf die Seite und kugelte hilflos vier, fünf Meter weit über den aufgeweichten Lehmboden. Vivian wurde ihm aus den Armen gerissen und davongeschleudert.
Trotz des fürchterlichen Schmerzes wurde er nicht bewußtlos. Für einen Moment hatte Mark das Gefühl, in Flammen gebadet zu werden, aber der Schmerz verging überraschend schnell und machte einem dumpfen, pulsierenden Hämmern Platz, das nach und nach seinen ganzen Körper erfaßte. Er stemmte sich mühsam hoch, suchte mit tränenden Augen nach Vivian und kroch dann auf Händen und Knien auf sie zu. Der grelle Feuerschein des brennenden Hauses erhellte den Hof fast taghell. Immer wieder blitzen im Innern des Gebäudes grelle Explosionen auf, und die Fensteröffnungen verwandelten sich eine nach der anderen in flammenspeiende Schlünde. Die Hitze wurde jetzt selbst hier draußen fast unerträglich.
Mark erreichte Vivian. Ihre Brust hob und senkte sich in schnellen, hektischen Stößen, und die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern zuckten wild hin und her. Ihre Lippen bewegten sich unablässig, aber das Brüllen der Flammen erstickte ihre Stimme. Mark richtete sich unter Aufbietung aller Kräfte auf, griff unter Vivians Achseln und zog sie hoch. Der schlanke Körper schien Zentner zu wiegen. Er stolperte zurück, kämpfte die aufkommende Übelkeit nieder und versuchte, den stechenden Schmerz in seinem Rücken zu ignorieren.
Das Haus erbebte. Der Dachstuhl sank funkensprühend in sich zusammen, und das auseinanderbrechende Gebäude überschüttete Mark und Vivian mit einem Funkenhagel. Mark spürte einen harten, betäubenden Schlag gegen die Schulter, krümmte sich zusammen und warf sich schützend über Vivian. Neben ihm krachte ein zentnerschwerer Holzbalken auf den Boden, versengte seinen Arm und ließ ihn aufstöhnend herumfahren.
Er sah, wie der nasse Lehm um sie herum unter der unglaublichen Hitze trocknete und riß.
Blindlings griff er nach Vivian, bekam sie zu fassen und kroch rückwärts davon. Vivian schleifte er wie einen leblosen Gegenstand hinter sich her.
Er wußte nicht, wie lange er so durch die Hölle kroch. Die Zeit war unwichtig geworden, existierte nicht mehr. Es gab nur noch ihn, die Hitze, Flammen und Licht - und den einzigen Gedanken, immer weiter und weiter wegzukriechen. Nur raus aus diesem Inferno aus Feuer und Licht.
Irgendwann ließ die mörderische Hitze nach. Mark sank in sich zusammen.