6

Jeremy Cramer schloß wie stets pedantisch seinen Wagen hinter sich ab, überzeugte sich trotz der Zentralverriegelung mit einem zusätzlichen Blick davon, daß alle vier Türen verschlossen waren und die Alarmanlage in Betrieb war und verließ dann die Garage. Die elektronisch gesteuerten Türen aus Panzerstahl schlossen sich hinter ihm. An der Korridordecke glomm ein winziges rotes Auge auf, als die automatische Überwachungsanlage ihr Videosystem aktivierte. Niemand, der sich dem Haus auf mehr als zehn Meter näherte, konnte auch nur einen Schritt machen, ohne überwacht zu werden.

Es gab Tage, da fühlte sich Cramer wie ein Gefangener in seinem eigenen Haus. Die äußerlich schmucke und gepflegte Villa schien sich in nichts von den Häuser zu unterscheiden, die das Stadtbild in dieser Gegend New Yorks bestimmten. Aber der Schein täuschte - das Haus war eine Festung. Die Videoanlage war nur ein Teil der nach menschlichem Ermessen absolut unüberwindlichen Sicherheitsvorkehrungen. Das begann bei den Stahlbetonwänden, ging über schußsichere Fenster und Berührungssensoren unter dem Rasen, bis hin zu den kunststoffverkleideten Stahltüren, die im Falle des Angriffs per Knopfdruck unter Starkstrom gesetzt werden konnten. Und die Sicherheit, die der Staat Jeremy Cramer und seiner Familie garantierte, hörte keineswegs an seiner Grundstücksgrenze auf. Sein Wagen war eine Art getarnter Panzer, den man höchstens mit einer Kanone beschädigen konnte, und selbst seine Kinder wurden auf dem Weg zur Schule von zwei FBI-Agenten überwacht, die die beiden sogar ins Ferienlager begleitet hatten.

Aber Cramer wußte auch, daß dieser Aufwand nicht ihm persönlich galt. Es waren sein Wissen und vor allem der schmale, in braunes Leder eingeschweißte Dienstausweis in seiner Brusttasche, den die Stadt mit so hohem Aufwand schützte. Jeremy Cramer war der Chef des New Yorker FBI. Er hatte das Amt in dieser Stadt vor zwölf Jahren übernommen, und er hatte es in dieser Zeit geschafft, die Stadt merklich sicherer zu machen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger baute Cramer auf das Rezept, so eng mit der städtischen Polizei, privaten Sicherheitsunternehmen und dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten, wie überhaupt möglich. Sein gewagtes Vorgehen hatte schon nach wenigen Jahren Erfolg gezeigt - die allgemeine Kriminalität in der Riesenstadt war zwar nicht zurückgegangen, aber auch nur geringfügig gestiegen, was angesichts der gigantischen Steigerungen der Verbrechensrate in nahezu allen anderen amerikanischen Großstädten bereits einen gewaltigen Erfolg darstellte. Alle Prognosen Anfang der achtziger Jahre hatten gerade für New York eine weit überdurchschnittliche Zunahme an Gewaltverbrechen vorausgesagt, doch es war vor allem Jeremy Cramers unermüdlichem Engagement zu verdanken, daß dieser Trend nicht nur bei der Straßenkriminalität umgekehrt werden konnte, sondern es war ihm sogar gelungen, zwei der vier Mafiafamilien, die das organisierte Verbrechen in der Stadt unter sich aufgeteilt hatten, zu zerschlagen. Auf der Todesliste der Syndikate stand sein Name mit weitem Abstand an erster Stelle, und er hatte es längst aufgegeben, die mißlungenen Attentate noch zu zählen, die bereits auf ihn verübt worden waren.

Cramer ging ins Wohnzimmer hinauf, stellte seinen Aktenkoffer ordentlich in die gewohnte Ecke und ließ sich in einen Sessel fallen. Die Kinder waren mit der Schule unterwegs, und seine Frau verbrachte den Nachmittag mit einem der regelmäßigen Kaffeekränzchen bei den Mastertons; das Haus war leer. Aber es kam auch nicht öfter als ein paarmal im Jahr vor, daß Cramer so zeitig nach Hause kam. Er schloß die Augen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und genoß für ein paar Sekunden den Luxus, an gar nichts zu denken. Selten genug fand er Zeit für sich selbst.

Ein leises Geräusch ließ ihn aufhorchen; ein Scharren oder Schleifen oben im Schlafzimmer. Er runzelte die Stirn, betrachtete für einen Moment die weißgetünchte Decke über sich und zuckte dann mit den Achseln. Wenn außer ihm noch eine weitere Person im Hause gewesen wäre, hätte ihm dies der Sicherheitsdienst längst mitgeteilt - das ganze Haus war in ein Netz von Videos und Mikrophonverbindungen eingesponnen, das direkt an die FBI-Zentrale angeschlossen war. Wahrscheinlich war eine von seinen drei Katzen oben im Schlafzimmer und spielte.

Cramer stand auf. Es wurde sowieso Zeit, nach oben zu gehen. Er war nicht eher aus dem Büro gekommen, um die Zeit zu vertrödeln.

Der Gedanke an den bevorstehenden Abend bereitete ihm Unbehagen. Wahrscheinlich würde es eine dieser öden, nicht enden wollenden Cocktailpartys werden, für die Bürgermeister Conelly berüchtigt war. Cramer verspürte nicht die geringste Lust, seine Zeit mit seichter Konversation und Händeschütteln zu vergeuden. Aber eine Einladung des Bürgermeisters konnte selbst er nicht so ohne weiteres ausschlagen. Außerdem waren noch einige weitere wichtige Männer eingeladen, mit denen er beruflich zu tun hatte, unter ihnen vor allem Croyd, der Leiter des größten privaten Sicherheitsdienstes, und Polizeipräsident Bender. Mit ihm mußte Cramer ohnehin sprechen. Vielleicht würde sich die Zeit doch noch einigermaßen nutzbringend verwenden lassen.

Er durchquerte das Wohnzimmer und stieg die Treppe hinauf. Das Haus verfügte zwar über einen Aufzug, der ins erste Stockwerk hinaufführte, doch Cramer verzichtete meistens darauf, ihn zu benutzen. Er bekam sowieso viel zu wenig Bewegung.

Das Schlafzimmer war kühl und dunkel. Die Klimaanlage, die eine stets gleiche Temperatur und Luftfeuchtigkeit gewährleistete, surrte leise. Die Jalousien waren heruntergelassen und ließen nur einen schmalen, flirrenden Lichtstreifen in den Raum. Cramer tastete nach dem Lichtschalter, knipste die Deckenleuchte an und ging zum Kleiderschrank hinüber.

Auf seinem Bett saß ein Mann.

Cramer blieb wie angewurzelt stehen, musterte den Fremden verblüfft, fragte sich einen Moment lang, wie dieser Mann ins Haus gekommen sein konnte, und schätzte ihn automatisch auf seine potentielle Gefährlichkeit hin ab. Das Ergebnis gefiel ihm nicht besonders.

»Mister Cramer.« Der Fremde lächelte flüchtig. »Schön, daß Sie kommen. Wie ich sehe, sind Sie pünktlich.«

»Wer sind Sie?« fragte Cramer ruhig, ohne sich seine Verblüffung anmerken zu lassen. »Und was wollen Sie? Wie kommen Sie hier herein?«

Der Mann stand mit geschmeidigen Bewegungen auf. Er war groß, fast zwei Köpfe größer als der gewiß nicht kleinwüchsige Cramer, schlank und muskulös. Seine Bewegungen waren irgendwie leicht, fast elegant, und zeugten von einem durchtrainierten Körper. Cramer wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Mann auf ihn zukam. »Viele Fragen auf einmal«, sagte der geheimnisvolle Eindringling. »Mein Name ist Frank Porter, aber der wird Ihnen sicher nichts sagen. Und ich bin hier, um Sie mitzunehmen.«

Jeremy Cramer merkte, wie seine Nervosität stieg. Er spürte, daß dieser Mann gefährlich war, auch wenn es keine direkte Gefahr war, die er sehen konnte. Er hatte keine Angst vor körperlich überlegenen Gegnern. Seine FBI-Schulung befähigte ihn, leicht mit fünf solcher Figuren fertig zu werden, obwohl er etwas aus der Übung war, was seine körperliche Fitneß anbelangte. Aber irgend etwas war an dem Mann, das Cramer ängstigte. Eine Art ... Aura, eine unsichtbare Ausstrahlung, die den hünenhaften Fremden zu umgeben schien.

»Sie nehmen niemanden mit«, sagte Cramer kalt. Seine Hand fuhr mit einer blitzschnellen Bewegung in die Tasche und kam mit einer .38er Special wieder zum Vorschein. Der Sicherungshebel schnappte klickend zurück. »Ich möchte jetzt wissen, wer Sie sind und wie Sie hier hereinkommen«, sagte er ruhig. »Und wer Sie beauftragt hat.«

Frank Porter lächelte. Seine Hand schoß plötzlich vor, so schnell, daß Cramer die Bewegung erst wahrnahm, als seine Waffe schon im hohen Bogen davonflog, aber so schnell ließ sich der FBI-Mann nicht überrumpeln. Er wich zurück, fing den vorschnellenden Arm Franks mit dem Ellbogen ab und wich zur Seite aus. Seine Reflexe funktionierten noch so gut wie früher, als er im aktiven Dienst gewesen war. Der Angreifer taumelte an Cramer vorbei und kämpfte, von der Wucht seines eigenen Schlages mitgerissen, um sein Gleichgewicht. Cramers Fuß kam hoch, beschrieb einen Bogen und landete mit vernichtender Wucht an der Brust seines Gegners.

Porter jedoch schien den Treffer gar nicht zu spüren. Er fuhr herum, stieß ein ärgerliches Knurren aus und griff nach Cramers Handgelenken. Der FBI-Direktor schrie auf, als sich die Hände des Fremden wie Schraubstöcke um seine Gelenke legten und sie erbarmungslos zusammendrückten. In einer instinktiven Abwehr riß er die Knie hoch. Genausogut hätte er versuchen können, eine Planierraupe mit bloßen Händen aufzuhalten. Ein scharfer Schmerz zuckte durch sein Bein. Er hatte das Gefühl, gegen eine Stahlplatte getreten zu haben.

»Es hat keinen Zweck, Cramer«, zischte Frank. »Geben Sie auf. Ich will Sie nicht verletzen.«

Cramer wimmerte schmerzerfüllt, als sich der mörderische Griff der Hände noch verstärkte. Er brach vor dem Riesen auf die Knie.

»Gut so«, sagte Frank. »Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren.« Er drehte sich um und schleifte Cramer wie eine gewichtslose Spielzeugpuppe hinter sich her, aber er ging nicht zur Tür. Sein Ziel war der mannshohe, dreigeteilte Spiegel, der neben dem Bett an der Wand hing.

Jeremy Cramer begann zu schreien, als sein Blick in den Spiegel fiel. Er sah sich selbst, eine hilflose, gefesselte Gestalt, die mit unwiderstehlicher Gewalt über den Boden geschleift wurde. Sein Oberkörper ragte in unmöglichem Winkel in die Luft, die Hände schienen haltsuchend nach oben zu greifen. Er konnte die Druckstellen sehen, die Porters brutaler Griff auf seinen Handgelenken hinterließen, seine Fußabdrücke im Teppich.

Aber der Fremde selbst war unsichtbar.

Der Spiegel schien plötzlich auf ihn zuzurasen. Cramer hörte das helle Splittern von Glas und spürte einen heißen, brennenden Schmerz, der über bloße körperliche Qual hinausging und sich tief in seine Seele zu fressen schien. Er hatte noch Zeit, einen letzten, halberstickten Schrei auszustoßen, dann versank die Welt um ihn in einem Wirbel aus Schmerzen und Kälte.


»Das ist Polizeichef Bender«, raunte Mark Vivian zu, als ein dynamischer, sonnenbankgebräunter Mittvierziger auf sie zukam, kaum daß sie den Ballsaal in Bürgermeister Conellys luxuriöser Villa betreten hatten. Der Mann sah eher aus wie ein aufstrebender Manager, fand Vivian.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Mister Taylor«, sagte Paul Bender. Er schüttelte Mark die Hand und wartete, bis der ihn mit Vivian bekannt gemacht hatte und sie ihm ebenfalls die Hand reichte. Seine Haut fühlte sich kühl und glatt an. »Wir waren schon in Sorge, daß sie wegen der bedauerlichen Zwischenfälle vom heutigen Tag nicht kommen würden«, sagte er und zauberte ein nur halbwegs gelungenes Lächeln auf sein Gesicht.

»Sie wissen davon?«

»Sicher. Ich erfahre alles, was in meiner Stadt vorgeht. Oder jedenfalls fast alles«, fügte er mit einem listigen Lächeln hinzu. »Solche Gaunereien sind leider an der Tagesordnung.«

»Es war keine Gaunerei«, erwiderte Vivian ernst. Nach kurzem Zögern entschloß sie sich, Bender die Wahrheit zu sagen. Vielleicht besaß er tatsächlich Möglichkeiten, ihr das gestohlene Amulett wiederzubeschaffen. Wenn sie wie geplant morgen oder übermorgen mit Mark abreiste, würde es ansonsten bedeuten, sich mit dem Verlust einfach abzufinden, und dafür war ihr das Amulett zu wichtig. Der materielle Wert mochte gering sein, aber darauf kam es in diesem Fall nicht an.

Bender schaute sie fragend an. »Sie glauben, es war wirklich ein Unfall?«

Vivian schüttelte den Kopf. »Nein, ein Trick, um nahe an mich heranzukommen und mich zu bestehlen«, erklärte sie. »Man hat mir eine Kette mit einem Medaillon gestohlen. Leider habe ich es erst später gemerkt, als Lieutenant Beramo schon wieder fort war. Das Schmuckstück ist zwar nicht besonders kostbar, aber es ist ... eine Art Andenken.«

Bender machte ein bedauerndes Gesicht. »Das tut mir leid. Ich werde mich darum kümmern. Eine Beschreibung der Täter haben wir ja bereits von Ihnen. Können Sie mir noch sagen, wie das Medaillon aussah?«

Vivian beschrieb es mit knappen Worten.

»Nun, das ist ein etwas ausgefallenes Schmuckstück, das zu finden sein dürfte. Ich werde einige meiner besten Leute auf den Fall ansetzen. Sie werden Ihr Schmuckstück zurückbekommen, das verspreche ich Ihnen.«

Vivian musterte ihn überrascht. »So viel Aufwand wegen einer gestohlenen Kette?«

Bender zuckte mit den Achseln. »New York ist eine Weltstadt«, sagte er trocken. »Wir können es nicht zulassen, daß unsere Gäste auf offener Straße bestohlen werden.« Erst nach ein paar Sekunden merkte Vivian, daß es ein sarkastischer Satz war. New York und Straßendiebstähle gehörten zusammen wie der Klingelbeutel und die Kirche. »Aber machen Sie sich jetzt keine Sorgen mehr um Ihr Medaillon. Genießen Sie das Fest.« Er winkte einen der zahllosen Kellner zu sich. »Bringen Sie unseren Gästen etwas zu trinken.«

Vivian begann sich zunehmend unbehaglicher zu fühlen. Sie hatte diese großen, von künstlicher Fröhlichkeit bestimmten Cocktailpartys niemals gemocht, und der Verlust ihres Amuletts stimmte sie nicht gerade fröhlicher. Sie war sich noch nicht ganz sicher, was der Raub zu bedeuten hatte. Alles deutete auf einen ganz normalen Diebstahl hin, aber jeder auch nur halbwegs geschickte Gauner hätte auf Anhieb erkennen müssen, daß das Schmuckstück nicht einmal annähernd so viel einbringen würde wie etwa das goldene, mit Brillanten besetzte Armband, das sie am Nachmittag ebenfalls getragen hatte. Trotzdem hatten die beiden Diebe sich nur mit der relativ wertlosen Kette begnügt. Dazu kamen die sonderbaren Begleitumstände, die Tatsache, daß sie den Mann im Spiegel nicht gesehen hatte, sowie die übrigen Ereignisse der letzten Zeit; die allnächtliche Wiederkehr des Alptraums, das Orakel der Karten, die Seance. Zu diesem Zeitpunkt war sie angespannt, übermüdet und von Angst erfüllt gewesen, so daß es möglich war, daß ihr Unterbewußtsein mit den Belastungen nicht mehr fertig geworden war.

Vivian glaubte jedoch nicht daran. Sie hatte ihre okkulte Begabung akzeptiert und sich seit vielen Jahren schon daran gewöhnt, dennoch war sie ihr zum größten Teil immer fremd geblieben - und auch ein wenig furchteinflößend. Aber daß ihre Fähigkeiten, die im Grunde nur ein Talent darstellten, wie andere Leute es zum Malen oder Schreiben hatten, eine selbständige Persönlichkeit entwickeln und gegen sie rebellieren könnten, war absurd. Abgesehen von dem Vorfall bei der Seance hatte sie noch nie irgendwelche Anzeichen von Bewußtseinsspaltung verspürt.

Dennoch - diese Häufung von sonderbaren Ereignissen in der letzten Zeit konnte kaum noch ein Zufall sein. Irgend etwas Unheimliches ging in dieser Stadt vor, und obwohl sie noch nicht einmal in Ansätzen wußte, um was es sich handelte, war sie irgendwie darin verwickelt.

Sie schmiegte sich dichter an Mark und versuchte, die Menschenmenge zu überblicken; ein Unternehmen, das fast aussichtslos erschien. Grob geschätzt befanden sich mindestens zweihundertfünfzig bis dreihundert Personen in dem weiten, in barockem Stil eingerichteten Ballsaal. Bürgermeister Conelly schien alles eingeladen zu haben, was in der Stadt Rang und Namen hatte. Soweit Vivian sehen konnte, war sie unter den Gästen mit Abstand die Jüngste. Die meisten anwesenden Männer und Frauen waren mindestens doppelt so alt wie sie, und zumindest die Frauen hatten sich nach Kräften bemüht, ihr Alter unter Tonnen von Make-up zu verbergen. Mit der hier aufgetragenen Schminke allein hätte man mühelos eine Parfümerie eröffnen können - so wie man problemlos die Auslagen mehrerer Juweliere mit dem hier zur Schau gestellten Schmuck füllen konnte.

Obwohl es noch relativ früh war, hatten sich bereits überall die auf Partys berüchtigten Gruppen und Grüppchen gebildet; kleine, meist aus zwei bis sechs Personen bestehende Pulks von Leuten, die sich an ihren Drinks festklammerten und miteinander redeten. Auf einer Empore im Hintergrund des Ballsaales kämpfte eine Big Band vergeblich gegen den Lärm an, den eine solche Menschenmenge verursachte. Livrierte Kellner und Dienstboten flitzten wie ein Schwarm kleiner geschäftiger Fische durch die Menschenmenge, Tabletts mit Gläsern und kleinen Appetithappen über dem Kopf oder vor sich hin balancierend. Die Südseite des riesigen Saales wurde von einer scheinbar endlosen Tafel beherrscht, an der Köche mit hohen, weißen Mützen damit beschäftigt waren, dem kalten Bufett den letzten Schliff zu geben.

»Für eine Stadt, die seit Jahren am Rande des Ruins dahinstolpert, ein ziemlich großer Aufwand«, murmelte Vivian.

Bender drehte sich um und grinste. Offenbar hatte er die geflüsterten Worte trotz des Lärms gehört. »Ich kann Sie beruhigen, Missis Taylor«, sagte er. »Dies hier geht nicht auf Kosten des Steuerzahlers. Bürgermeister Conelly zahlt das Fest aus eigener Tasche. Immerhin feiert er heute sein zehntes Dienstjubiläum.«

Der Kellner kam mit den bestellten Getränken und rettete Vivian davor, sich eine schlagfertige Entschuldigung einfallen zu lassen.

»Kommen Sie«, sagte Bender. »Ich stelle Sie dem Bürgermeister vor.« Er drehte sich um und bahnte sich und seinen Begleitern eine Gasse durch die Menschenmenge.

»Hast du eine Ahnung, wie lange die Party dauert?« flüsterte Vivian.

Mark lächelte. »Sie hat ja noch nicht einmal angefangen«, sagte er. »Schon keine Lust mehr?«

»Die hatte ich schon nicht, bevor wir gekommen sind.«

»Wir brauchen ja nicht die ganze Nacht zu bleiben. Aber zwei, drei Stunden müssen wir schon aushalten, das wirst du wohl schaffen. Sonst bist du doch auch gern auf Parties.«

»Schon, aber im Moment ...« Vivian sprach nicht weiter. Das seltsame Unbehagen, das von ihr Besitz ergriffen hatte, schien sich mit jeder Minute zu verstärken. Vielleicht, versuchte sie sich einzureden, lag es wirklich nur am Verlust ihres Amuletts. Sie kam sich irgendwie nackt und verwundbar vor. Aber sie wußte, daß sie sich nur etwas vormachte, wenn sie alles darauf schob. Das Unbehagen war ein Warnsignal, das bei ihr weit über normale Intuition hinausreichte. Nachdenklich betrachtete sie Benders Rücken. Die seltsame Kühle seiner Haut fiel ihr wieder ein - so ähnlich hatte sich die Hand des Diebes angefühlt. Kalt, glatt und irgendwie künstlich.

Vivian schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie fing schon an, Gespenster zu sehen, wenn sie jeden verdächtigte, der eine kühle Hand hatte.

»Mister Taylor!« ertönte ein Ruf nicht weit von ihnen entfernt, bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte. Bürgermeister Howard Conelly, den sie bereits von Zeitungsfotos her kannte, drückte einem der geschäftig herumflitzenden Dienstboten sein Glas in die Hand und kam mit langen Schritten auf Mark und Vivian zu. »Wie schön, daß Sie gekommen sind.« Er grüßte Bender mit einem knappen Kopfnicken und schüttelte Mark die Hand, dann begrüßte er auch Vivian. »Und Sie sind sicher Missis Taylor?«

Vivian nickte. Gleich darauf trat ein distinguiert aussehender Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, einem energischen, kantigen Kinn und streng gescheiteltem grauen Haar zu ihnen, den Mark ihr als Jonathan Masterton vorstellte. Erneut wurden Hände geschüttelt. Masterton entsprach ziemlich genau der Beschreibung, die Mark ihr von ihm gegeben hatte. Nachdem sie ihn nun persönlich kannte, konnte sich Vivian gut vorstellen, daß Masterton ein äußerst zäher Verhandlungspartner war.

»Was machen Ihre Verhandlungen?« erkundigte sich Conelly neugierig.

»Es läuft alles ganz hervorragend«, entgegnete Masterton. »Mark und ich sind uns bereits in einer Vielzahl von Punkten einig geworden. Wir hoffen, daß wir die Verträge morgen unterzeichnen können.«

»Es würde mich sehr freuen, wenn alles gutginge und Sie in Zukunft verstärkt auf dem amerikanischen Markt tätig würden, Mister Taylor«, kommentierte Conelly. »Diese Stadt braucht dringend weitere Steuergelder. Vielleicht sollte ich das als Bürgermeister nicht so offen sagen, aber es ist ja ohnehin kein Geheimnis.« Er lächelte, hakte sich jovial bei Vivian unter und zog sie fast gewaltsam mit sich. »Kommen Sie, überlassen wir die beiden ihren Geschäften. Sie werden schon nicht verlorengehen. Im Zweifelsfall finden wir sie bestimmt am Bufett wieder. Gefällt Ihnen unsere kleine Party?«

»Sicher«, antwortete Vivian ohne große Überzeugung.

»Also nicht.«

Vivian zuckte mit den Achseln. »Es ist ...«

»Etwas ungewohnt, ich weiß«, sagte Conelly und nickte. »Bei Ihnen in England geht es sicher gemütlicher zu. Aber Sie werden sehen, auch unsere hektische Lebensweise hat ihre Vorzüge.« Er streichelte Vivian mit einer väterlichen Geste die Hand, lächelte gutmütig und angelte zwei Gläser von einem Tablett. Eines gab er Vivian. »Trinken Sie, Kind«, sagte er. »Trinken Sie. Ich habe nur das Beste vom Besten kommen lassen. Alles nur Ihnen zu Ehren.«

Er sprach so schnell, daß Vivian Mühe hatte, seinen Worten zu folgen, und seine Bewegungen waren derart nervös, daß Vivian sich unwillkürlich an einen auf und ab hüpfenden Gummiball erinnert fühlte. Conelly war ein Mensch, für den man auf Anhieb Sympathie empfinden mußte: klein, ein wenig fett und mit einem gutmütigen, sanften Gesicht - der Typ des gütigen alten Mannes, den man zu Weihnachten in ein rotes Kostüm steckte und ihn die Kinder bescheren ließ. Vivian fragte sich unwillkürlich, wie es jemand wie Conelly schaffen konnte, zum Bürgermeister einer Stadt der Größe New Yorks zu werden.

»Dafür, daß Sie mich noch nicht einmal gekannt haben, ein beachtlicher Aufwand.«

»Was heißt nicht gekannt? Glauben Sie, ich würde keine Zeitungen lesen?«

»Und trotzdem wäre fast alles umsonst gewesen. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich eine Weile mit mir gerungen. Ich wollte eigentlich gar nicht kommen.«

Conelly nickte verständnisvoll. »Mich öden diese Partys im Grunde auch an«, sagte er. »Aber von Zeit zu Zeit muß es sein.« Er nippte an seinem Glas, ließ seine kleinen, durchdringenden Augen blitzartig über die versammelte Menge gleiten und nahm Vivian abermals am Arm. »Kommen Sie, meine Liebe. Ich stelle Sie den anderen vor. Mister Bender kennen Sie ja bereits?«

»Flüchtig.«

Conelly scheuchte ein paar andere Partygäste beiseite und führte Vivian quer durch den Raum zu einer Nische. Musik und Stimmengewirr waren hier nicht ganz so laut. Conelly deutete auf eine Gruppe etwa gleichaltriger, in elegante Smokings gekleideter Männer. »Mister Croyd, Mister Bender, Mister Sorensen, Mister Cramer.« Conelly grinste listig. »Sozusagen das Gehirn der Stadt. Ihnen zu Diensten, Missis Taylor.«

Vivian musterte die vier Männer mit gemischten Gefühlen. Sie kannte die Namen bereits von Mark. Conellys harmlos klingende Worte waren kaum übertrieben. In den Händen dieser vier Männer - fünf, Conelly mitgerechnet - lag praktisch die gesamte Macht der Millionenstadt. Bender konnte im Notfall praktisch allein über die fünfunddreißigtausend Polizeibeamten der Stadt gebieten. Das gleiche galt für Cramer. Seine FBI-Truppe war wesentlich kleiner, aber deshalb nicht weniger schlagkräftig, zumal er jederzeit Verstärkung anfordern konnte. Croyd war alleiniger Geschäftsführer eines privaten Sicherheitsdienstes, über dessen wirkliche Größe nur er allein Bescheid wußte, aber wenn auch nur die Hälfte der Gerüchte zutrafen, die Vivian über ihn gehört hatte, mußte er über eine regelrecht Armee verfügen.

Und schließlich Sorensen - ein großer, schlanker Mann mit grauen Schläfen und durchdringenden Augen, Leiter der Gesundheitsbehörde. Wenn Sorensen nicht wollte, würde sich in der gesamten Stadt kein Rad mehr drehen. Vivian konnte die Aura der Macht, die die fünf Männer einhüllte, fast körperlich spüren. Der Eindruck war nur vage, nicht mehr als ein flüchtiges Gefühl. Irgend etwas ... Vivian versuchte, die Empfindung in Worte zu kleiden, aber es gelang ihr nicht. Diesen Männern schien irgend etwas gemein zu sein, ein unsichtbares Band, das sie verband, eine Gemeinsamkeit, die man nicht sehen, aber desto deutlicher spüren konnte. Wieder fiel ihr die seltsame Empfindung ein, die sie bei Benders Berührung gehabt hatte. Seine Haut hatte sich kühl und glatt und irgendwie hart angefühlt - und irgendwie sah Bender auch so aus. Sie hatte plötzlich das Gefühl, gar keinem lebenden Menschen, sondern einer Maschine gegenüberzustehen.

Vivian spürte einen fast unüberwindlichen Widerwillen in sich aufsteigen. Die Musik in ihren Ohren schien plötzlich schriller zu klingen. Die Bewegungen der vier Männer wirkten plötzlich irgendwie hölzern und gezwungen, und in ihren Stimmen, die bruchstückhaft zu ihr herüberdrangen, schien ein drohender Unterton mitzuschwingen. Vivian merkte kaum, wie Conelly sie ansprach. Erst, als er sie sanft am Arm berührte und sie dem besorgten Blick seiner Augen begegnete, löste sich der Bann, der von ihr Besitz ergriffen hatte.

»Was ist mit Ihnen, meine Liebe?« fragte Conelly. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Vivian schüttelte hastig den Kopf. »Es ist ... nichts, Mister Conelly. Wirklich.«

Aber Conelly ließ sich nicht beirren. »Sie fühlen sich nicht wohl, nicht?« fragte er verständnisvoll. »Der lange Flug, dann der Klimawechsel ...« Er lockerte demonstrativ seinen Krawattenknoten. »Es ist verdammt heiß hier bei uns. Ich vergesse das manchmal, aber für jemanden, der das milde englische Wetter gewohnt ist, muß die Umstellung nicht so leicht zu verkraften sein.«

»Wirklich, Mister Conelly, es ist ... nichts weiter«, wehrte Vivian ab. »Wenn mir vielleicht jemand den Weg zum Bad zeigen könnte? Ich werde mich ein wenig frisch machen - danach geht es mir sicher besser.«

Conelly nickte, und Vivian registrierte erfreut, daß er ihre Erklärung offenbar akzeptierte. »Meine Frau wird Ihnen den Weg zeigen«, sagte er. Er drehte sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen und schrie dann, ohne sich um Etikette oder die Feinheiten gesellschaftlichen Zusammenseins zu scheren: »Susan!«

Eine Reihe mißbilligender Blicke trafen Conelly, aber das schien ihn nicht zu stören. Cramer lächelte kalt. Offensichtlich war man ein derart exzentrisches Benehmen von Conelly gewohnt.

»Mister Conelly«, sagte Vivian, »es ist wirklich ...«

Conelly brachte sie mit einer energischen Geste zum Schweigen und rief ein zweites Mal nach seiner Frau. Seine Bemühungen wurden nach wenigen Augenblicken belohnt. Susan Conelly war eine kleine, stämmige Frau, die in dem teuren Ballkleid ebenso deplaziert wirkte wie ihr Mann im Smoking. Sie kam mit kleinen, schnellen Schritten auf ihren Mann zu. Auf ihrem Gesicht stand eine Mischung zwischen Mißbilligung und Ergebenheit. Wahrscheinlich, dachte Vivian, hatte sie schon vor langer Zeit aufgehört, sich über das Benehmen ihres Mannes zu wundern.

»Sei so lieb und kümmere dich um Missis Taylor«, bat Conelly. »Sie möchte sich ein wenig frisch machen.«

»Gern. Kommen Sie.«

Vivian atmete innerlich auf, als Susan Conelly ihren Arm nahm und sie die Nische verließen. Ihr war, als würde ein dumpfer Druck von ihrer Seele genommen, nachdem sie aus der unmittelbaren Nähe der vier Männer verschwunden war.

»Die Reise muß sehr anstrengend gewesen sein«, sagte Susan redselig. Sie führte Vivian in einem komplizierten Zickzackkurs zwischen den übrigen Partygästen hindurch und steuerte auf die rückwärtige Wand des Ballsaales zu. »Mein Mann hat schon den ganzen Tag von Ihnen und Ihrem Mann geredet, Vivian«, sagte sie. »Er schien ganz begeistert von Ihnen zu sein.«

Vivian lächelte verlegen. »Wir kennen uns doch gar nicht.«

»Aber er hat von Ihnen gehört.« Sie blieb stehen und sah sich um. »Ist Ihr Mann nicht mitgekommen?«

Vivian nickte. »Doch. Aber ich fürchte, wir haben uns aus den Augen verloren.« Sie entdeckte Mark und Masterton bei einer Gruppe am anderen Ende des Saales und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, zu Mark zu eilen und ihm ihre Entdeckung mitzuteilen.

Zuerst mußte sie Missis Conelly auf diplomatische Weise loswerden. Auch im liberalen Amerika gehörte es sicherlich nicht gerade zum guten Ton, festzustellen, daß mit vier der wichtigsten Gäste auf einem offiziellen Empfang irgend etwas nicht zu stimmen schien.

Sie verließen den Saal und gingen durch einen langen, von kostbaren Wandleuchtern erhellten Korridor. Vivians Blicke tasteten über die kostbaren Seidentapeten und blieben an einem kaum sichtbaren rechteckigen Fleck hängen.

Susan Conelly lächelte entschuldigend, als sie den fragenden Ausdruck in Vivians Gesicht bemerkte. »Es sieht nicht sehr hübsch aus, ich weiß«, sagte sie bedauernd. »Ist es bei Ihnen drüben in England auch so schlimm mit den Handwerkern?«

Vivian sah ihre Gastgeberin fragend an.

»Schrecklich, meine Liebe«, fuhr Susan kopfschüttelnd fort. »Ob Sie es glauben oder nicht - Sie werden im ganzen Haus keinen Spiegel finden. Vorgestern hat Howard die Handwerker beauftragt, sie zu erneuern, weil sie vereinzelt anliefen oder bereits blinde Flecken hatten. Man hat uns hoch und heilig versprochen, daß wir die Spiegel bis heute nachmittag wiederbekämen, aber dann hat man uns hängenlassen.« Sie blieb stehen und deutete auf eine Tür. »Wir sind da. Dort ist das Gästebad.«

Vivian nickte und betrat den Raum. Helles, blendfreies Licht flammte bei ihrem Eintreten automatisch auf und tauchte den Raum in schattenlose Helligkeit. Sie trat an eins der beiden schweren, aus weißem Marmor gearbeiteten Handwaschbecken an der Wand, drehte an den vergoldeten Armaturen und ließ sich etwas kaltes Wasser über die Hände laufen.

Sie bedauerte, daß es keine Spiegel gab, sie hätte gerne noch ihre Frisur in Ordnung gebracht. Auch über den Waschbecken zeichneten noch dunkle Konturen die Stelle nach, an der sie ursprünglich gehangen hatten.

Spiegel ...

Wieder mußte sie daran denken, daß sie den Mann, den sie vor dem Hotel angefahren hatte, nicht im Rückspiegel ihres Wagens gesehen hatte. Dazu dann die sonderbare Art, wie sich die Hände des Verletzten und des Polizeichefs angefühlt hatten. Beide so kühl und glatt, fast wie Glas. Und nun gab es in diesem ganzen Haus keine Spiegel.

Es war eine verrückt geknüpfte Assoziationskette, die einer logischen Betrachtung kaum standhielt, und dennoch war Vivian plötzlich davon überzeugt, daß alle diese Faktoren miteinander in Verbindung standen. Aber sie wußte nur, daß es allem Anschein nach irgend etwas mit Spiegeln zu tun hatte.

Sie mußte unbedingt mit Mark darüber sprechen. Er war der einzige, er ihr glauben würde. Abrupt drehte Vivian sich um und verließ das Bad wieder.


»Ich möchte wissen, wo Vivian steckt«, sagte Mark halblaut.

Jonathan Masterton machte eine unbestimmte Kopfbewegung nach rechts. »Ich glaube, Conelly hat sie abgeschleppt.« Er grinste. »Sie sollten sich vorsehen, Mark. Vivian ist eine sehr schöne Frau, und Conelly ist als Möchtegern-Casanova berüchtigt. Ich weiß, warum ich meine Frau nicht mitgebracht habe.«

Mark lächelte. »Ich glaube kaum, daß ich mir in dieser Hinsicht bei Vivian Sorgen machen muß.«

Masterton erwiderte das Lächeln. »Wenn ich ehrlich sein soll, hatte Amy auch einfach keine Lust, hierherzukommen.« Er leerte sein Glas und blickte verlangend zum kalten Bufett hinüber. »Der Abend scheint ja wenigstens eine gute Seite zu haben.«

Mark nickte. Er hatte bis jetzt zwei oder drei Whisky getrunken und konnte ebenfalls einen Happen vertragen. Es war immer dasselbe auf diesen Partys - Dutzende von Leuten drängten einem Drinks auf und waren tödlich beleidigt, wenn man ablehnte. Das Ergebnis war dann meistens, daß man viel zuviel trank und am nächsten Morgen mit einem Kater aufwachte. »Gut, kommen Sie.« Er versetzte Masterton einen freundschaftlichen Rippenstoß und schlenderte auf die Tafel zu. Das Küchenpersonal schien mit den Vorbereitungen noch nicht ganz fertig zu sein, was aber eine ganze Anzahl Gäste nicht daran hinderte, schon zuzugreifen.

»Wenigstens sind wir nicht die ersten«, sagte Masterton grinsend. Mark konnte sich kaum vorstellen, daß es sich um den gleichen Menschen wie den knallharten Geschäftsmann handelte, mit dem er fast den ganzen Tag über verhandelt hatte. Es schien, als wäre Masterton privat in eine völlig neue Haut geschlüpft, erwies sich als locker und umgänglich. Mark hätte nicht gedacht, daß er jemals für jemanden wie ihn Sympathie empfinden könnte, aber obwohl sie nur ein paar Minuten miteinander geplaudert hatten, begannen sie bereits, sich anzufreunden. Masterton angelte sich einen Teller vom Stapel, musterte die aufgefahrenen Spezialitäten mit Kennerblick und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Conelly scheint ein Gourmet zu sein«, sagte er leise. »Wenn er das wirklich alles aus eigener Tasche bezahlt, muß er entweder ein fürstliches Gehalt beziehen oder eine Menge krummer Geschäfte nebenbei betreiben.«

»Oder einen gewaltigen Kredit haben«, versetzte Mark.

Masterton grinste und lud sich seinen Teller voll. »Greifen Sie zu, Mark«, sagte er, »bevor die besten Sachen weg sind.« Er nahm eine Gabel voll Kaviar und verzog anerkennend das Gesicht. »Köstlich.«

Mark griff ebenfalls nach einem Teller. Das Licht der Kristallüster brach sich auf dem polierten Porzellan und schuf ein verwirrendes Muster aus Gold und Weiß. Mark spielte einen Augenblick mit dem Teller herum und musterte unentschlossen das Bufett. In dem weißen Porzellan spiegelten sich die Gestalten der hinter ihm stehenden Partygäste.

Irgend etwas stimmte mit dem Bild nicht.

Mark runzelte die Stirn, drehte sich um und musterte die hinter ihm stehende Gruppe unauffällig. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches festzustellen - es war eine der üblichen Partygruppen: Vier Männer im eleganten Smoking, die von der gleichen Anzahl Frauen flankiert wurden und sich unterhielten. Erst als Mark sich wieder umdrehte und den Teller ein zweites Mal als Spiegel benutzte, wurde ihm der Unterschied klar.

Zwei der vier Männer besaßen kein Spiegelbild.

Jonathan Masterton ließ seine Gabel sinken und sah Mark mit plötzlicher Besorgnis an. Zwischen seinen Brauen erschien eine steile Falte. »Was haben Sie, Mark?« fragte er mit vollem Mund. »Sie sehen plötzlich aus, als ...«

Mark brachte ihn mit einer hastigen Bewegung zum Schweigen. Sein Blick hing wie gebannt an dem spiegelnden Porzellan in seinen Händen. Die vier Frauen in ihren langen, eleganten Abendkleidern waren deutlich darin zu erkennen, ebenso zwei der vier Männer. Aber die Plätze der beiden anderen waren leer. Er versuchte, sich über dem Lärm der Party auf die Stimmen der hinter ihm stehenden Leute zu konzentrieren. Er hörte die Stimme einer Frau, sah, wie ihr verkleinertes Spiegelbild vor ihm den Mund bewegte und - zu einer Stelle in der leeren Luft sprach.

Aber das ist unmöglich! dachte er entsetzt. Er hatte schon von allen möglichen Sinnestäuschungen und Halluzinationen gehört, aber daß ein Mensch kein Spiegelbild besaß -

Er bemerkte, wie Masterton besorgt um den Tisch herumkam und neben ihm stehenblieb. »Was haben Sie, Mark?« fragte er noch einmal, aber recht leise, um kein Aufsehen zu erregen. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«

»Genauso kommt es mir auch vor«, gab Mark fassungslos zurück. »Sehen Sie die Gruppe hinter uns?« fragte er, ohne sich umzudrehen.

Masterton wandte automatisch den Kopf und nickte. »Selbstverständlich. Warum?«

»Wie viele sind es?« flüsterte Mark.

»Wie viele ... ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Wie viele?« beharrte Mark.

»Acht«, antwortete Masterton automatisch. »Acht Personen - vier Männer und vier Frauen. Warum?«

Mark reichte ihm wortlos den Teller und deutete hinein. Masterton betrachtete das Spiegelbild einen Herzschlag lang kopfschüttelnd. Dann zuckte er plötzlich zusammen, erstarrte und fuhr mit entsetzt aufgerissenen Augen herum. »Aber ...«

»Still!« zischte Mark. Er sah, wie einer der Männer aufblickte und Masterton und ihn abschätzend musterte.

Masterton drehte sich schwerfällig herum. Auf seinem Gesicht stand ein hilfloser Ausdruck. »Ich ... verstehe überhaupt nichts mehr«, sagte er leise. Er war blaß geworden.

Plötzlich fiel Mark Vivians seltsames Benehmen ein, der kaum unterdrückte Widerwillen, den er an ihr bemerkt hatte, als sie den Ball betraten. Durch ihre paranormalen Sinne war sie sensibler als normale Menschen, was außergewöhnliche Geschehnisse betraf. Sie mußte gespürt haben, daß hier irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er blickte sich suchend um. »Wo ist Vivian? Ich muß mit ihr sprechen.«

Masterton zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Da hinten steht Conelly. Soll ich ihn fragen?«

Mark zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Wir dürfen die beiden nicht aus den Augen lassen«, murmelte er. »Irgend etwas stimmt hier nicht. Und ich möchte herausfinden, was es ist.« Plötzlich spürte er den Blick eines der beiden Unheimlichen wie eine körperliche Berührung auf sich ruhen. Er kämpfte gegen den Impuls an, sich umzudrehen und den Blick zu erwidern. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie der Mann sich von seiner Begleiterin löste und mit zwei schnellen Schritten zu einem hünenhaften jungen Mann hinüberging. Die beiden unterhielten sich leise, ohne daß Mark etwas verstehen konnte. Aber der überraschte Ausdruck des jüngeren und der schnelle, abschätzende Blick, mit dem er ihn und Masterton bedachte, sagte Mark genug. »Sie haben es gemerkt.«

Die beiden schienen sich nicht einmal mehr die Mühe zu geben, ihr auffälliges Benehmen zu verbergen. Sie tauschten noch ein paar Worte aus, schenkten ihm und Masterton einen abfälligen, beinahe hämischen Blick und gingen dann auseinander, um im Trubel der Party zu verschwinden.

»Schnell«, sagte Mark. »Verfolgen Sie den Jüngeren. Ich übernehme den anderen.« Ohne sich weiter um Jonathan Masterton zu kümmern, drängte er sich an den Partygästen vorbei.

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