20

»Ich will hier raus!« In Mary-Lou Cramers Stimme schwang Hysterie mit. Sie kauerte zusammengesunken vor einem der hohen, kaltschimmernden Spiegel, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte hemmungslos. Ihre Schultern zuckten. »Bitte ... ich ... ich will raus ...«

Sheldon Porter sah hilflos auf. Er hatte sich inzwischen wieder von dem Angriff auf Ulthar erholt, doch im gleichen Maße, in dem seine Kräfte zurückgekehrt waren, schienen die Mary-Lous geschwunden zu sein. Sie wurde nicht fertig mit der Gefahr und dem Grauen, die plötzlich in ihr bis dahin wohlbehütetes Leben hereingebrochen waren. »Sie dürfen nicht aufgeben«, sagte er leise. »Wir werden den Ausgang schon finden.«

Die Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl. Von den Wänden herab imitierten die stummen Spiegelbilder seine Lippenbewegungen. Es kam ihm wie eine grausame Pantomime vor, die einzig zu dem Zweck inszeniert wurde, um ihn zu verhöhnen. Er hatte gelogen, und er wußte es. Sie waren am Ende, hatten sich hoffnungslos verirrt. Und es bestand keine Aussicht auf Rettung. Er richtete sich auf, starrte sein Spiegelbild, das ihn tausendfach von den Wänden herab anblickte, wütend an und ballte hilflos die Fäuste. Sie waren stundenlang durch dieses verwunschene Kabinett geirrt, ohne nur eine Spur des Ausgangs zu finden. Jeder Schritt, jeder Meter, den sie zurücklegten, schien sie tiefer in das sinnverwirrende Labyrinth aus Gängen und Stollen hineinzuführen.

Wenn sich Ulthar wenigstens zeigen würde, wenn es wenigstens irgend jemanden gäbe, gegen den er kämpfen könnte! Er war hierhergekommen, um seinen Bruder zu rächen - aber alles, was er fand, waren Spiegel. Spiegel, Spiegel und immer wieder Spiegel, und selbst wenn er die Hintergründe nicht kennen würde, wäre ihm aufgefallen, daß mit den Spiegeln hier etwas nicht stimmte. Er spürte den Atem des Fremden und Bedrohlichen, der diese Gänge ausfüllte; die kaum verhüllte Drohung, die im seelenlosen Grinsen seiner Ebenbilder zu liegen schien. Der schlanke, dunkelhaarige Mann in dem Spiegel vor ihm war ihm auf absurde Weise ähnlich und fremd zugleich. Sein Gesicht wirkte eingefallen und blaß. Die Haut schimmerte wächsern. Geronnenes Blut hatte sein Haar verklebt und ein so sonderbares Muster auf seiner Stirn und der linken Schläfe hinterlassen, und unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe.

Er drehte sich zu Mary-Lou herum, berührte sie sanft an der Schulter und versuchte, ein einigermaßen optimistisches Gesicht zu machen. Es mißlang kläglich. Er hatte plötzlich das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber ein Blick in ihre Augen ließ ihn verstummen. In seiner Kehle saß plötzlich ein bitterer, harter Kloß.

»Wir kommen hier nie wieder raus, oder?« fragte Mary-Lou leise und stand auf. Sie wirkte verstört und fahrig, und in ihren Augen flackerte immer stärker die beginnende Panik, aber noch versuchte sie, sich zu beherrschen.

»Wenn wir aufgeben, ganz bestimmt nicht«, entgegnete Sheldon. »Dieses verdammte Labyrinth muß ja irgendwo aufhören.« Er lachte kurz und hart. »Irgendwie werden wir es schon schaffen. Es gibt kein Labyrinth ohne Ausgang, Missis Cramer. Und notfalls müssen wir eben einen schaffen.« Er begann, seine Jacke aufzuknöpfen.

»Was haben Sie vor?«

Sheldon grinste flüchtig, warf die Jacke auf den Boden und zerrte ungeduldig an seinem Hemd. »Etwas, das ich mir erst als allerletzte Möglichkeit aufheben wollte«, erklärte er. »Aber wie es aussieht, haben wir mittlerweile alle anderen ausgeschöpft.« Er zog das Hemd vollends aus der Hose. Mary-Lou sah, daß er darunter eine dünne, silbern schimmernde Kette um den nackten Oberkörper gewunden hatte.

»Was ist das?«

Sheldon begann, die Kette mit geübten Bewegungen abzuwickeln. »Eine kleine Überraschung, die ich mir für alle Fälle mitgenommen habe. Wäre ziemlich dumm von mir, unbewaffnet hierherzukommen.«

Mary-Lou runzelte zweifelnd die Stirn. »Aber ...«

»Warum nicht?« Sheldon stopfte sich das Hemd nachlässig wieder in die Hose, ließ die Kette spielerisch durch die Luft pfeifen und wickelte sie schließlich mit gekonntem Schwung um sein Handgelenk. »Wenn man damit umgehen kann, ist sie fast so gut wie eine Pistole«, erklärte er ernsthaft. »Und auf alle Fälle besser als ein Messer.«

Mary-Lou sah den jungen Mann entgeistert an. Natürlich hatte Sheldon ihr erzählt, wie er Vivian Taylor getroffen und hierhergekommen war. Aber sie begriff plötzlich, daß es noch eine Menge gab, was sie nicht wußte. Vielleicht war das auch besser so, dachte sie. Ein unbehagliches Gefühl begann sich in ihrem Magen auszubreiten. »Sagen Sie mir endlich, was Sie vorhaben«, verlangte sie.

»Ich weiß nicht, was es mit diesen Spiegeln wirklich auf sich hat«, antwortete Sheldon. »Aber wenn sie wie normale Spiegel aus Glas bestehen, dann sind sie auch zerbrechlich. Vielleicht können wir uns auf diese Art mit Gewalt einen Ausgang bahnen.« Er lächelte kalt. »Ich weiß nicht, was passiert, aber es ist wenigstens einen Versuch wert. Es wäre besser, wenn Sie zur Sicherheit ein Stück zur Seite gehen würden.« Er wartete, bis Mary-Lou seiner Aufforderung gefolgt war, dann trat er selbst auch einen Schritt zurück, hob die Hand und wickelte die Kette mit einer knappen Bewegung ab. Ganz so zuversichtlich, wie er sich gab, war er in Wahrheit nicht, er hatte sogar ziemliche Angst. Hier hatte er es mit ihm unbegreiflichen Mächten zu tun, und vielleicht würde er durch sein Vorhaben erst recht eine Katastrophe heraufbeschwören. Aber das würde sich erst herausstellen, wenn er es versucht hatte, und viel hatten sie nicht mehr zu verlieren.

Die glitzernden Stahlglieder verwandelten sich in ein wirbelndes, pfeifendes Rad, als er die Waffe über dem Kopf kreisen ließ, dann fuhr er so schnell herum, daß Mary-Lou der Bewegung kaum noch mit Blicken folgen konnte. Die Kette zischte durch die Luft, beschrieb einen blitzenden Halbkreis und sauste mit ungeheurer Wucht nieder.

Glas klirrte. Ein helles, peitschendes Geräusch ließ Mary-Lou zusammenfahren, während ein Hagel scharfkantiger Glassplitter auf sie und Sheldon niederprasselte. Aber während das Glas zerbarst, blieb der silberne Hintergrund unversehrt. Sheldon vermochte ihn auch nicht zu zertrümmern, als er noch ein paarmal darauf einschlug und mit aller Kraft dagegentrat. Genausogut hätte er versuchen können, eine massive Felswand einzureißen.

Schweratmend trat er schließlich zurück. »Keine Chance, das Ding kaputtzukriegen«, gab er zu. »Aber umsonst war es trotzdem nicht. Wenigstens brauchen wir jetzt nicht mehr blindlings umherzuirren. Von nun an werden wir an jeder Abzweigung immer den ersten Spiegel in der Richtung, in der wir gehen, zerschlagen. Dieses verdammte Kabinett kann ja nicht endlos sein. Wir sind wahrscheinlich schon stundenlang im Kreis herumgelaufen. Aber damit ist jetzt Schluß. Kommen Sie.«

Er machte eine auffordernde Bewegung mit der Linken, grinste mit neu erwachter Zuversicht und ging los. Mary-Lou folgte ihm zögernd. Als sie die nächste Abzweigung erreichten, blieb Sheldon stehen, schwang seine Kette und zerschmetterte einen weiteren Spiegel. Das Klirren des zerbrochenen Glases hallte wie der Todesschrei eines unbegreiflichen Lebewesens durch den Gang.

»Irgendwann«, zischte Sheldon wütend, »kommen wir auf diese Weise hier heraus. Wir müssen es einfach!« Er holte wütend aus und schlug noch einmal zu, und noch einmal, und noch einmal, immer und immer wieder. Bei jedem Schlag zersprang ein Spiegel zu Millionen klirrender, schreiender Scherben. »Wir müssen!« schrie er noch einmal. Er schien sich in eine Art kalt berechnender Raserei zu steigern. Mary-Lou sah, wie sich seine Muskeln bei jedem Schlag spannten, während er die Kette mit aller Kraft gegen die Wände krachen ließ.

»Sheldon! Hören Sie auf!« schrie sie ihn an.

Ihre Stimmen schienen den Bann zu brechen. Sheldon erstarrte, schloß für einen Moment die Augen und atmete hörbar aus. »Tut mir leid«, sagte er leise. »Ich ... ich glaube, ich war dabei, durchzudrehen.«

Mary-Lou trat zögernd auf ihn zu, berührte seinen Arm und starrte auf die Zerstörung hinunter, die sein kurzer Wutanfall hervorgerufen hatte.

»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, sagte sie leise. »Ich verstehe Sie.« Dutzende von Spiegeln waren zerbrochen. Der Gang war übersät mit Glasscherben, und die leeren Rahmen wirkten auf Mary-Lou plötzlich wie augenlose Höhlen, die sie anklagend anstarrten. »Ich wollte, ich könnte es auch«, sagte sie plötzlich.

Sheldon lachte leise. »Tun Sie es. Es erleichtert.«

»Der Besitzer dieses Kabinetts wird es sicher nicht gerne sehen, wenn wir es zerschlagen.«

Sheldon grinste schief. »Ich hoffe es. Vielleicht locken wir ihn damit endlich aus seinem Loch heraus.« Er fuhr wütend herum und zerschmetterte einen weiteren Spiegel. »Ich werde dieses verdammte Kabinett kurz und klein schlagen, wenn es sein muß, Missis Cramer.«

»Das werden Sie ganz bestimmt nicht tun!« erklang eine Stimme hinter ihnen.

Mary-Lou fuhr mit einem kleinen, spitzen Aufschrei herum und starrte den leicht übergewichtigen Mann mit der beginnenden Stirnglatze an, der ein paar Schritte entfernt im Gang aufgetaucht war. »Jeremy!«

Jeremy Cramer sah seine Frau kurz an und lächelte kalt. »Es war nicht sehr klug von dir, mir zu folgen, Mary«, sagte er.

Mary-Lou schluckte krampfhaft. »Ich ...«

Jeremy schnitt ihr mit einer herrischen Bewegung das Wort ab. »Still jetzt. Wir unterhalten uns später.« Er ließ seinen Blick zu Sheldon wandern. »Sie hätten das besser nicht tun sollen, Sheldon. Mary-Lou hat recht - wir sehen es nicht gerne, wenn jemand unser Eigentum zerstört.«

Sheldon sah Mary-Lou verwirrt an. »Wer ist das?«

Mary-Lou zögerte. »Jeremy«, sagte sie schließlich. »Mein ... Mann. Oder das Wesen, das seine Stelle eingenommen hat«, fügte sie hastig hinzu.

Cramer grinste und bewegte sich mit kleinen, trippelnden Schritten auf Sheldon zu. Unter seinen Schuhsohlen knirschte Glas. »Geben Sie mir die Kette, Sheldon!«

Sheldon grinste abfällig. »Hol sie dir!« Er wich einen halben Schritt zurück, duckte sich und reckte kampflustig das Kinn vor. Die Kette pendelte lose in seiner Hand.

Ein kaum merkliches Flackern in Jeremys Augen warnte Mary-Lou. Instinktiv wollte sie Sheldon eine Warnung zurufen, aber ihre Reaktion kam viel zu spät. Jeremy sprang. Er federte ansatzlos vor, riß das Knie hoch und zielte nach Sheldons Gesicht, aber er hatte seinen Gegner unterschätzt. Sheldon wich mit einer spielerisch anmutenden Bewegung aus, ließ Cramers Fuß ins Leere treten und schlug dem FBI-Mann seinerseits wuchtig in die Kniekehlen. Cramer stolperte gegen die Wand, verlor das Gleichgewicht und fiel klirrend in einen Scherbenhaufen. Er rollte herum, sprang mit einem wütenden Knurren auf die Füße und ging erneut zum Angriff über.

Die Kette schnitt mit hellem Pfeifen durch die Luft. Sheldon sprang vor, drehte sich einmal um seine Achse und ließ die Stahlglieder mit vernichtender Wucht niedersausen. Cramer riß instinktiv die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen, aber die Kette durchbrach seine Deckung so mühelos, als wäre sie gar nicht vorhanden. Cramer wurde von den Füßen gerissen, herumgeschleudert und wuchtig gegen die Wand geworfen. Der Aufprall ließ den Boden erzittern.

Sheldon lachte schrill. »Darauf habe ich gewartet«, sagte er keuchend. »Du wolltest die Kette, nicht wahr? Hier hast du sie!« Er sprang abermals vor, riß die Kette hoch und ließ ihr Ende wie eine Peitsche nach Cramers Gesicht zucken. Der Schlag schmetterte Cramer erneut zu Boden, aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Cramer knurrte, griff blitzschnell nach der Kette und brachte Sheldon mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht. Sheldon stolperte, kämpfte mit wild rudernden Armen um seine Balance und fiel schließlich neben dem FBI-Direktor zu Boden. Cramer war mit einer blitzschnellen Bewegung über ihm.

Sheldon wehrte sich verzweifelt, doch trotz des immensen Unterschiedes in Gewicht und Muskeln hatte er keine Chance gegen seinen Gegner. Seine Fäuste hämmerten immer wieder zu, aber Cramer schien die Schläge gar nicht wahrzunehmen. Er lachte schrill, schlug Sheldons Arme zur Seite und nagelte sie mit den Knien am Boden fest. Seine fleischigen Hände legten sich wie Stahlklammern um Sheldons Hals. Der junge Mann bäumte sich verzweifelt auf und versuchte, seinen Gegner abzuschütteln, aber Jeremys übermenschlichen Kräften war er nicht gewachsen. Cramer hockte wie eine große, mißgestaltete Kröte auf seiner Brust. Sein Gesicht verzerrte sich.

»Jeremy! Hör auf!« kreischte Mary-Lou. »Bitte, hör auf! Du bringst ihn um!« Sie versuchte, ihren Mann von seinem hilflos strampelnden Opfer herunterzuziehen, aber genausogut hätte sie versuchen können, einen Felsblock mit bloßen Händen zu bewegen. Jeremy knurrte ärgerlich und versetzte ihr einen Stoß, der sie zurücktaumeln und gegen die Wand stürzen ließ. Sie sackte hilflos zu Boden und zerschnitt sich die Hand an einer großen, gezackten Spiegelscherbe. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wimmerte, kam mühsam auf Hände und Knie und tastete blind über den Boden. Ihre Finger schlossen sich um etwas Spitzes, Scharfes. Ohne daß sie selbst genau wußte, was sie tat, nahm sie die Spiegelscherbe auf und wankte mühsam auf die beiden kämpfenden Männer zu.

Sheldon hatte aufgehört, sich zu wehren. Seine Beine zuckten hilflos, und sein Gesicht war blau angelaufen. »Jeremy ... bitte ... hör auf«, schluchzte Mary-Lou. Jeremy lachte nur boshaft, ein Lachen, das ihr zeigte, daß in ihm absolut nichts Menschliches mehr steckte. Sie schwang die dreieckige Scherbe wie einen Dolch, legte ihre ganze Kraft in den Stoß und rammte ihrem Mann die Scherbe in den Rücken.

Jeremy stieß einen schrillen Schrei aus. Er bäumte sich auf, fiel von Sheldons Körper herunter und wälzte sich über den Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er, an die Spiegelscherbe heranzukommen, die wie eine gläserne Pfeilspitze zwischen seinen Schulterblättern steckte, aber er schaffte es nicht. Eine unglaubliche Veränderung ging mit seinem Körper vor sich. Er wurde durchsichtig, schemenhaft und verschwommen - und verschwand.

Mary-Lou starrte fassungslos auf die Stelle, an der ihr Mann noch vor Sekundenbruchteilen gelegen hatte.


Irgendwo in den unergründlichen Tiefen des Spiegelkabinetts zerbrach in diesem Moment ein Spiegel. Ein hochgewachsener, untersetzter Mann fiel mit hilflos rudernden Armen vornüber aus dem Rahmen, schlug auf dem Boden auf und blieb einen Moment lang benommen liegen. Dann richtete er sich mühsam auf und begann mit schleppenden Schritten davonzugehen.


Das Haus sah aus, als hätte ein vollkommen wahnsinniger Architekt mit unglaublichen Hilfsmitteln seine Alpträume Gestalt annehmen lassen. Die ursprünglichen Umrisse des Gebäudes waren noch deutlich zu erkennen, aber die Konturen wirkten auf grauenhafte Art verzerrt und falsch.

Krank, dachte Vivian. Das Haus sah beinahe aus, als ... hätte es Krebs, als wäre es von Metastasen überwuchert, so verrückt der Gedanke auch anmuten mochte, aber ihr fiel kein besserer Vergleich ein. Die obersten vier Etagen schienen wie von einer ungeheuren Hand zusammengedrückt und verbogen zu sein. Die scheinbar massiven Betonwände waren zerdrückt, eingebeult, in bizarren Falten und Schlünden verformt, als bestünde das Haus aus Kunststoff oder Gummi, der in der Sonne warm geworden und zerlaufen war. Große, schwarzglänzende Tropfen waren an den Flanken des Gebäudes herabgelaufen und erstarrt. Die Fensterhöhlen erinnerten Vivian an aufgerissene, zahnlose Münder, aus denen ein stummer Schrei zu ihr herüberwehte.

Sie wandte sich ab, schloß die Augen und versuchte die Übelkeit zurückzudrängen, die der Anblick in ihr ausgelöst hatte, dann zwang sie sich, noch einmal hinzusehen. Die Veränderung war nicht nur auf dieses Haus beschränkt. Der ekelhafte Anblick hatte sie nur so in seinen Bann geschlagen, daß ihr die Gebäude rechts und links davon im ersten Moment normal vorgekommen waren, doch auch hier hatte die schleichende Veränderung schon begonnen. Dünne, glitzernde Schleimfäden wuchsen wie bizarre Spinnenbeine aus Fenstern und Türen. Die Gebäude wirkten irgendwie schief - die Winkel stimmten nicht mehr, und in den Schatten schien schleimiges, glitzerndes Leben zu lauern.

Vivian schluckte krampfhaft. In ihrem Mund war plötzlich ein säuerlicher, ekelhafter Geschmack. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Silhouetten der Wolkenkratzer hinüber, die sich gegen den westlichen Horizont erhoben. Sie war noch zu weit entfernt, um die Einzelheiten erkennen zu können, aber die schwarzen Schatten der Riesenblocks wirkten irgendwie verzerrt und bedrohlich.

Ein Geräusch riß Vivian aus ihren Gedanken und ließ sie herumfahren. Es handelte sich um Schritte. Sie sah sich blitzschnell nach einer Deckung um und rannte dann auf den erstbesten Hauseingang zu. Die Tür war offen. Sie warf sich herum, preßte sich mit klopfendem Herzen gegen die Wand und starrte konzentriert in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

Es handelte sich wirklich um Schritte. Die Schritte von vier oder fünf Personen, schätzte Vivian. Sie klangen seltsam schleppend und mühsam. In der verlassenen Häuserschlucht nahm ihr Echo einen bedrohlichen Klang an.

Dann erschien die Gruppe auf der Straße. Es waren zwei Männer, zwei Frauen und ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen. Die Menschen waren nach der Mode der späten fünfziger Jahre gekleidet. Ihre Bewegungen wirkten roboterhaft und starr. Die fünf erinnerten weniger an lebende Menschen, sondern kamen Vivian eher wie willenlose Marionetten vor, an deren Fäden ein unsichtbarer Puppenspieler zog. Als sie näher kamen, sah Vivian, daß ihre Gesichter ebenso starr und unbewegt waren. Die Augen waren glanzlos und matt, und das kaum merkliche Lächeln in ihren Mienen wirkte gefroren. Sie hatte also recht gehabt - der Mann draußen auf dem Highway war nicht das einzige Opfer Ulthars gewesen, das den Weg in die Spiegelwelt gefunden hatte.

Sie wartete, bis die Gruppe dicht an ihrem Versteck vorübergegangen war. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und trat auf die Straße.

»Hallo!« sagte sie. Ihre Stimme hallte klar und scheinbar überlaut durch die Stille. Selbst der Wind verstummte für einen Augenblick, um dann mit neuer Wut loszubrechen, und für einen Augenblick hatte sie den aberwitzigen Eindruck, als ob ein unhörbares, ärgerliches Seufzen durch die Welt ginge. Die fünf Menschen jedoch zeigten nicht die geringste Reaktion.

Vivian lief ärgerlich los und vertrat ihnen den Weg. Die Gruppe teilte sich und ging um sie herum, wie man um ein lebloses Hindernis herumging. Vivian fuhr herum, griff nach dem Mädchen und hielt es fest. »Bleibt doch wenigstens stehen!«

Ein harter Ruck ging durch ihre Hand, als die Kleine einfach weiterging. Vivian stieß einen wütenden Fluch aus und eilte hinter der Gruppe her. »Verdammt noch mal - hört ihr mich denn nicht?« Sie riß eine der Frauen grob an der Schulter und schüttelte sie. »Antworten Sie doch wenigstens!«

Die Frau blinzelte. Ein mißbilligender Ausdruck auf ihrem starren Puppengesicht, und für einen Augenblick sah es fast so aus, als wäre es Vivian gelungen, den Bann zu durchbrechen. Aber nur für einen Moment. Dann erstarrte das Gesicht wieder zu einem seelenlosen Marionettengrinsen. Die Frau hob die Hand, streifte Vivians Griff ab und drehte sich um, um dem Rest der Gruppe zu folgen.

Vivian starrte ihr entsetzt nach. Die Frau ging mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten hinter den vier anderen her, nahm ihren Platz in der Gruppe wieder ein und verlangsamte dann ihr Tempo.

Plötzlich hatte Vivian das Bedürfnis, zu schreien. Endlich hatte sie Menschen gefunden, und nun gelang es ihr nicht, sich mit ihnen zu verständigen. Aber so leicht gab sie sich nicht geschlagen. Noch ein weiteres Mal versuchte sie, eine der Frauen anzusprechen, doch das Ergebnis war genauso niederschmetternd und deprimierend wie beim ersten Mal. Es schien, als wäre sie für diese Menschen einfach nicht vorhanden. Sie blieben kurz stehen und gingen dann um sie herum, wenn sie ihnen den Weg vertrat, aber ansonsten reagierten sie nicht auf sie.

Vivian beschloß, ihnen zu folgen. Diese Menschen bewegten sich so zielbewußt auf das Zentrum Manhattans zu, daß es schon kein Zufall mehr sein konnte. Vivian war immer sicherer, daß sie dort auch die anderen Opfer der Zauberspiegel treffen würde. Auch der Mann am Highway hatte sich in Richtung Stadtmitte bewegt. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, daß diese gigantische Spiegelwelt völlig ohne Sinn errichtet worden war. Die grauenhafte Veränderung ihrer Umwelt ging weiter, als sie sich dem Zentrum näherten. Kaum eines der Häuser, die die Straße zu beiden Seiten säumten, war noch normal. Selbst die Straße schien sich verändert zu haben - der Asphalt schien wellig, porös und verworfen; der Boden federte unter ihren Schritten, und manchmal schien eine unmerkliche, vibrierende Bewegung durch ihre Schuhsohlen zu dringen. Schwarze, schleimig glitzernde Fäden wuchsen aus Gullys, Hauseingängen und Fenstern, und der üble durchdringende Geruch, den sie schon vorher wahrgenommen hatte, wurde fast unerträglich.

Vivian blieb stehen, kramte ein Taschentuch hervor und band es sich provisorisch um Mund und Nase, aber selbst das half nicht viel. Der Gestank schien nicht nur mit dem Wind herangetragen zu werden, sondern von überall herzukommen, als ströme jedes Haus, jeder Stein und selbst jedes Luftmolekül den unerträglichen Geruch aus. Vivian spürte Übelkeit in sich aufsteigen.

Die Gruppe vor ihr beschleunigte ihre Schritte, und Vivian ging ebenfalls schneller. Sie hatte den fünf Spiegelwesen etwa eine halbe Meile Vorsprung gelassen, um nicht unvorbereitet in eine Falle zu tappen, aber sie mußte immer wieder gegen den Impuls ankämpfen, einfach loszustürmen und sich der Gruppe anzuschließen, nur um nicht mehr allein zu sein. Die Einsamkeit war unerträglich. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte Vivian so deutlich gespürt, was es hieß, wirklich allein zu sein. Sie hätte im Augenblick selbst die Gesellschaft eines Zeitungsreporters bereitwillig in Kauf genommen, und das wollte wirklich eine ganze Menge bedeuten.

Langsam und mit gesenktem Kopf ging sie weiter. Der Anblick der verdrehten, deformierten Häuser schmerzte in ihren Augen, daß sie ihn nicht mehr ertragen konnte. Es war nicht allein das Aussehen der Gebäude. Irgend etwas Böses schien hinter den schwarzen Schleimmassen zu lauern, eine Art körperloser, kriechender Intelligenz, die wie eine gigantische Spinne in ihrem Netz hockte und darauf wartete, daß ihre Opfer in die Falle gingen.

Nach einer Weile begann es zu regnen; feiner, nieselnder Regen, der in Schwaden wie Nebel durch die Straßen trieb, Häuser und Menschen mit klammer Feuchtigkeit durchtränkte und sich als glitzernde Schicht auf Fensterscheiben und Dächern festsetzte. Vivian schlug den Kragen ihrer von Sheldon geborgten Lederjacke hoch und verbarg die Hände in den Taschen. Es wurde zunehmend kälter. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in die Stadt eindrang, schienen die Strahlen der Sonne an Kraft zu verlieren. Der Regen wurde kalt, dann eisig. Dünne, schleimige Rinnsale sammelten sich in Regenrinnen. Auf den Bürger steigen erschienen ölig glänzende Pfützen. Vivian zog angeekelt die Schultern zusammen und ging dicht an der Hauswand entlang weiter. Ihre Schuhe erzeugten seltsam saugende Geräusche auf dem nassen Asphalt. Der Regen schien nicht mehr aus Wasser, sondern aus einer unbestimmbaren, klebrigen Flüssigkeit zu bestehen.

Die Spiegelwesen bogen in eine Seitenstraße ein. Vivian zögerte einen Herzschlag lang, zuckte dann ergeben mit den Achseln und trat in den strömenden Regen hinaus, um die Straße zu überqueren. Sie konnte die Ausstrahlung des Fremdartigen jetzt deutlich spüren.

Ihr Blick fiel auf die dunklen Silhouetten der Hochhäuser im Stadtzentrum. Die schwarzen, verformten Kolosse, die sich dort gegen den Himmel erhoben, hatten kaum noch etwas mit den Häusern gemeinsam, die sie von Manhattan her kannte.

Als sie die Straße erreicht hatte, in der die Spiegelbilder verschwunden waren, durchschnitt ein gellender Schrei die Luft. Vivian blieb so abrupt stehen, als wäre sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen. Es war ein grauenhafter, krächzender Aufschrei, ein grelles Kreischen in einer Tonlage, die Vivian erschauern ließ. Der Schrei schwang sich in ungeheure, fast in den Ohren schmerzende Höhen hinauf, hallte zwischen den steinernen Wänden der Häuserschlucht wider und brach dann mit der gleichen Plötzlichkeit ab, mit der er begonnen hatte.

Vivian nahm zögernd die Hände von den Ohren. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Ihre Hände zitterten. Plötzlich hatte sie Angst davor, weiterzugehen. Sie preßte sich eng gegen die Wand und lugte um die Ecke.

Der Anblick ließ sie aufstöhnen.

Außer den fünf Personen, denen sie hierher gefolgt war, befand sich noch eine ganze Anzahl weiterer Spiegelwesen auf der engen Straße. Aber nicht nur sie.

Rechts und links der schweigenden Prozession bewegten sich seltsame, geschuppte Gestalten, Monstren, wie Vivian sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie schloß die Augen und versuchte sich abzuwenden, aber der Anblick dieser lebenden Scheußlichkeiten hatte sich bereits tief in ihr Bewußtsein gebrannt. Die Wesen waren mehr als zwei Meter groß. Sie erinnerten vage an die Echsenwesen, die sie in der realen Welt auf Coney Island gesehen hatte, aber die Ähnlichkeit endete damit, daß auch sie eine geschuppte Haut besaßen, wenngleich es sich nicht um grünliche, sondern um braune Panzerschuppen handelte. Sie waren stämmiger, gedrungener als die Echsen, Titanen mit Schultern, die doppelt so breit wie die eines normalen Menschen waren, und langen, muskulösen und biegsamen Armen, die in fürchterlichen Krallenhänden endeten. Spitze, gut zwanzig Zentimeter lange Dornen wuchsen aus Knie- und Ellenbogengelenken. Ihre Köpfe schienen nur aus Horn zu bestehen - bizarre Gebilde aus scheinbar planlos wucherndem Gewebe, das in zahllosen Stacheln und Schneiden endete. Die Gesichter waren Kraterlandschaften aus Rissen und Schrunden, in denen zwei kleine boshafte Augen ohne Pupillen funkelten. Ihre Gebisse hätten jeden Mörderwal vor Neid erblassen lassen, aber das war noch lange nicht das schlimmste.

Schwarze, schleimig glitzernde Fäden, die von eigenständigem, zuckendem Leben erfüllt zu sein schienen, überzogen die Schuppenhaut der Ungeheuer. Vivian hatte nur einen winzigen Augenblick lang hingesehen, aber sie hatte trotzdem bemerkt, daß dieses Fadengeflecht nicht nur auf der Körperoberfläche der Wesen zu finden war. Fühler der ekelhaften, an bloßgelegte Nerven erinnernden Substanz wuchsen aus Nase, Mund und Ohren der Kreaturen.

Sie kämpfte die aufkommende Übelkeit nieder und zwang sich, die Gruppe noch einmal anzusehen. Die Prozession war mittlerweile weitergezogen. Offensichtlich hatte man nur noch auf das Eintreffen der fünf Wesen gewartet, denen Vivian hierher gefolgt war. Die Spiegelwesen bewegten sich zwischen den richtigen Wächtern, mit Bewegungen, die mehr noch als zuvor denen von willenlosen Marionetten glichen. Vivian sah, daß die Echsenwesen lange, gefährlich aussehende Peitschen in den Händen trugen, aber sie schienen nur zur Abschreckung zu dienen. Keines der Spiegelwesen machte auch nur den Versuch, aus der Doppelreihe auszubrechen.

Sie wartete, bis die Gruppe um die nächste Biegung verschwunden war, ehe sie sich von der Wand abstieß und geduckt hinterher schlich.

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