27

Im unsicheren Licht der Dämmerung wirkten die Mauern von Hillwood Manor finster und drohend. Das große Anwesen, das sich seit Generationen im Besitz der Taylors befand, erhob sich wie ein buckeliges Ungeheuer auf dem Hügel; ein schwarzer, düsterer Koloß, der das umliegende Land allein durch seine Anwesenheit zu beherrschen schien. Mit seinen vielen, sternförmig angeordneten Nebengebäuden, den Türmchen, Erkern und Balkonen wirkte es mehr wie eine alte Trutzburg als wie ein Herrenhaus. Hinter keinem der Fenster brannte Licht.

Die Frau stand hinter der Brüstung des viereckigen Turmes in der Mitte der Gebäudeansammlung; wenig mehr als ein schwarzer Schatten gegen die niedrig hängenden Wolken. Wind spielte mit ihrem schulterlangen, schwarzen Haar, zupfte an ihrer Kleidung und bauschte den karmesinroten Umhang, der ihre Schultern wie ein Paar übergroßer, gefalteter Fledermausschwingen umgab.

Die Hauptgebäude von Hillwood Manor lagen wie ausgestorben vor ihr. Selbst über dem Hof lastete Schweigen, eine Stille, die fast unnatürlich wirkte. Wo früher das helle Zwitschern der Vögel war, das fröhliche Bellen der Hunde, die tausendfachen Geräusche des von Leben und Frohsinn erfüllten Anwesens, herrschte jetzt Stille. Das Anwesen war tot, von einem dumpfen, unbeschreiblichen Gefühl des Bösen erfüllt.

Obwohl die Sonne bereits am Horizont aufzugehen begann, schien es nicht richtig hell zu werden. Irgend etwas Dunkles, Kaltes hüllte das Gebäude ein, lastete wie unsichtbarer Nebel über Innenhöfen und Wehrgängen und erfüllte die Hallen und Gänge mit wispernden Schatten. Die freundliche, gelöste Atmosphäre war verflogen und hatte einem schleichenden Gefühl der Bedrohung Platz gemacht. Hillwood Manor schien sich über Nacht verändert zu haben. Vielleicht waren die Schatten ein wenig härter und drohender geworden, vielleicht hatte sich der Gesamteindruck ein wenig mehr in Richtung jener unsichtbaren Grenze verschoben, die im Empfinden der Menschen den Unterschied zwischen Gut und Böse ausmacht. Die schmalen Fenster wirkten plötzlich wie dunkle, augenlose Höhlen, die drohend über das Land starrten, und der gemauerte Torbogen erinnerte an das gierig aufgerissene Maul eines bizarren Ungeheuers, das auf seine ahnungslosen Opfer lauert.

Melissa bewegte sich unruhig. Ihr Umhang raschelte leise, und das Geräusch ihrer Schritte erinnerte an das behutsame Schleichen einer Raubkatze. Ihr Blick glitt über die sanft abfallenden Wiesen, tastete sich über den Waldrand und verlor sich schließlich irgendwo in der Ferne.

Sie hatte dem Personal für einige Tage freigegeben, um sich in Hillwood Manor einzuleben und sich in Ruhe auf ihre neue Rolle als Vivian Taylor vorzubereiten. Dies war nun nicht mehr nötig, dennoch war sie froh, daß sie allein war. Es galt Vorkehrungen zu treffen, aber nicht auf eine Rolle, sondern auf einen Kampf.

Etwas war geschehen, womit sie niemals gerechnet hätte. Es war Vivian Taylor, der echten Vivian Taylor, wider alle Erwartungen gelungen, lebend aus der Spiegelwelt zurückzukehren. Mehr noch, Ulthars Macht war zerschlagen, der Magier selbst tot. Ein kleines, böses Lächeln glomm in Melissas Augen auf. Wenigstens um dieses Problem brauchte sie sich nicht mehr zu kümmern.

Blieben nur noch Vivian und Mark Taylor. Die beiden würden sich in wenigen Stunden auf den Rückweg nach England machen.

Melissa drehte sich um, verließ den Balkon und trat in das darunterliegende Zimmer, das Schlafzimmer der Taylors. Ihre Schritte waren lautlos, als sie über den hohen, flauschigen Teppich ging. Vor einem großen, goldgerahmten Spiegel blieb sie stehen. Das silberbedampfte Glas zeigte ihr das Bild einer jungen berückend schönen Frau: schwarzes Haar, eine schlanke, täuschend zerbrechlich wirkende Gestalt, ein Gesicht, in dem eine schwer zu definierende Mischung von Sanftmut und Kraft zu lesen war.

Melissa konnte sich an ihrem eigenen Anblick nicht satt sehen. Sie liebte diesen Körper, aber trotz allem handelte es sich nur um eine Kopie von Vivians Körper, wie ihr in den vergangenen Stunden schmerzlich bewußt geworden war, eine Seifenblase, die jeden Moment zerplatzen konnte. Ihr größter Trumpf war lediglich, daß Vivian und Mark zur Zeit noch nichts von ihr wußten.

Zum wiederholten Male innerhalb der letzten Stunden durchdachte Melissa das Problem. Ihr blieben nur zwei Alternativen: Sie konnte all ihre hochtrabenden Pläne vergessen und kurzerhand fliehen, aber das würde bedeuten, selbst zur Gejagten zu werden. Spätestens nach einem Gespräch mit dem Personal würde Vivian Taylor wissen, daß sie noch lebte, und sie auf keinen Fall unbehelligt lassen.

Die zweite Alternative bestand darin, sich schon jetzt zu einem Kampf zu stellen. Melissa machte sich nichts vor, Vivian Taylor war gefährlich. Sie würde vorsichtig sein müssen, aber es lag an ihr, Ort, Zeitpunkt und Umstände des Kampfes zu bestimmen, und das verschaffte ihr einen gewaltigen Vorteil. Sie würde Vivian und Mark töten und ihr Vorhaben dann wie geplant durchziehen. Erst wenn die beiden vernichtet waren, konnte sie sich wirklich frei fühlen.

Noch einmal ließ Melissa ihren Blick umherschweifen. Zur Zeit war all dies nicht mehr als eine Leihgabe, die sie sich nur angeeignet hatte, aber bevor die Sonne zum nächsten Mal aufgehen würde, würde alles ihr gehören. Für immer.


Die LTU-Tristar-Maschine kam am frühen Nachmittag mit einem sanften, kaum merklichen Ruck auf der Landebahn des Londoner Flughafens zum Stehen. Das helle Singen der Triebwerke, das während der letzten viereinhalb Stunden ein monotones Hintergrundgeräusch zu dem Gesprächen der Passagiere gebildet hatte, verstummte abrupt. Über den Köpfen der Reisenden erloschen die Leuchtanzeigen, die die Passagiere aufgefordert hatten, sich anzuschnallen und das Rauchen einzustellen.

»Zu Hause«, sagte Mark Taylor. Seiner Stimme war die Erleichterung anzuhören, die er mit dem Wort verband. Er löste den Verschluß seines Sicherheitsgurtes, beugte sich im Sitz vor und sah einen Moment lang durch das Fenster auf das regennasse Flugfeld des Flughafens hinaus.

»Noch nicht ganz«, sagte Vivian Taylor leise. »Du wirst dich noch eine Weile gedulden müssen, ehe wir in Hillwood Manor sind.«

»Jedenfalls freue ich mich darauf, wieder englischen Boden unter den Füßen zu haben«, gab Mark zurück. Er seufzte demonstrativ, stand auf und klaubte die beiden Koffer mit ihrem Handgepäck aus dem Netz. Vivian erhob sich ebenfalls, griff nach ihrer Reisetasche und trat auf den schmalen Mittelgang hinaus. Die Stewardessen hatten bereits beiderseits des Ausstiegs Aufstellung genommen und ein berufsmäßiges Lächeln aufgesetzt, während ihre männlichen Kollegen durch die Maschine gingen und sich davon überzeugten, daß keiner der Reisenden etwas in der Maschine vergaß.

»Tut es dir leid, daß wir gleich nach Hause geflogen sind?« fragte Mark. »Vielleicht hätten uns nach allem ein paar Tage Urlaub irgendwo in der amerikanischen Wildnis doch ganz gutgetan.«

Vivian schüttelte den Kopf. Anfangs hatte zwar gerade sie auf diesen Urlaub nach Abschluß von Marks geschäftlichen Verhandlungen gedrängt, aber zuletzt war sie es auch gewesen, die sich mit aller Entschiedenheit gegen dieses Vorhaben gestellt hatte.

»Nicht im geringsten«, sagte sie nach einer Weile. »Verkriechen wir uns lieber ein paar Tage auf Hillwood Manor und machen es uns gemütlich.«

Mark zog eine Grimasse. »Verkriechen ist gut«, sagte er. »Wenn du wüßtest, wieviel Arbeit auf meinem Schreibtisch auf mich wartet ...«

»Ich weiß es zwar nicht, aber ich verspreche dir, daß ich ihn höchstpersönlich zerschlage, wenn du ihn auch nur anrührst«, sagte Vivian ernst. »Für die nächsten acht Tage ist alles, was nach Arbeit aussieht, tabu.«

»Sei nicht albern«, widersprach Mark. »Du weißt, daß der Konzern ...«

»Der Konzern wird nicht gleich zusammenbrechen«, unterbrach ihn Vivian energisch. »Außerdem hast du ein paar äußerst fähige Manager. Sollen die sich für ein paar Tage um alles kümmern. Wofür zahlst du ihnen schließlich über eine Viertelmillion Pfund im Jahr? Du bist nicht der einzige im Konzern, der etwas taugt.« Sie entdeckte den trotzigen Ausdruck in Marks Gesicht und mußte lächeln. Von Mark zu verlangen, daß er untätig die Hände in den Schoß legte, käme einer tödlichen Beleidigung gleich. Er gehörte zu den Menschen, die in ihrem Beruf vollkommen aufgingen und nur dann wirklich glücklich waren, wenn sie bis über beide Ohren in Arbeit steckten. »Meinst du nicht, daß auch wir uns mal ein paar Tage Ruhe verdient haben?« fügte sie deshalb hinzu.

»Wären wir wie geplant in Urlaub gefahren, hätte uns auch niemand erreichen können. Aber gut, ich komme dir ein bißchen entgegen. Zwei geschäftliche Telefonate darfst du führen.«

»Das ist ein Wort«, entgegnete er lachend. »Du hast keine Ahnung, wie lange ich telefonieren kann.«

»Und du weißt nicht, wie schnell ich zu einer Schere greifen und das Kabel durchschneiden kann.«

England begrüßte sie mit regenfeuchter Luft und klammer, herbstlicher Kälte, als sie die Maschine verließen. Mark blieb am Fuß der Gangway stehen, reckte sich und atmete demonstrativ ein, als wäre die nach Kerosin, Smog und den anderen Gerüchen einer Großstadt stinkende Luft das Köstlichste, das er je gerochen hatte.

Zwei große Busse kamen über das Flugfeld auf die Maschine zugekrochen. Mark und Vivian warteten, bis der erste Ansturm auf die Sitzplätze vorüber war, ehe sie selbst die Busse bestiegen. Nach dem fast fünfstündigen Flug war Vivian beinahe froh, einen Augenblick lang auf eigenen Beinen stehen zu können. Vor allen Dingen, als sie daran dachte, daß ihnen noch einmal anderthalb Stunden Flugzeit bevorstanden, ehe sie endgültig zu Hause waren. Sie stellte die Reisetasche ab, lehnte sich gegen die Rückseite eines der hohen, lederbezogenen Sitze und schloß für einen Moment die Augen. Eigentlich sollte sie froh sein, heil aus dem haarsträubenden Abenteuer herausgekommen zu sein. Aber die erwartete Erleichterung stellte sich nicht ein. Im Gegenteil - sie fühlte sich niedergeschlagen, deprimiert und erschöpft. Aber es war keine rein körperliche Erschöpfung, sondern etwas, das sehr viel tiefer ging und seine Ursachen irgendwo in ihrer Seele hatte.

Mark berührte sie sanft an der Schulter. »Fühlst du dich nicht wohl?«

Vivian versuchte zu lächeln, aber der Reaktion auf Marks Gesicht nach zu schließen, mißlang das Vorhaben kläglich. »Ich bin müde, das ist alles.«

Mark nickte verständnisvoll. »Wenn du willst, bleiben wir die Nacht in London und reisen erst morgen weiter«, sagte er. »Vielleicht suchen wir uns irgendein gemütliches kleines Hotel in der Stadt.«

Vivian überlegte einen Moment. Der Vorschlag hörte sich verlockend an. Aber dann schüttelte sie doch den Kopf. Vielleicht würden ihre Depressionen von selbst verschwinden, wenn sie in die gewohnte Umgebung von Hillwood Manor zurückkehrte.

Mark zuckte mit den Achseln. »Wie du willst, es war nur gut gemeint.« Er zögerte einen Moment. »Es ist wegen Melissa, nicht wahr? Du glaubst immer noch, daß sie noch lebt.«

»Ich glaube es nicht nur, ich bin mir sogar sicher. Ich ... ich spüre es.« Sie machte eine kurze Pause. »Als ich mit Sheldon zu Ulthars Kabinett unterwegs war, hat er mir gesagt, er könnte fühlen, wenn sein Bruder Schwierigkeiten hätte, und es gibt eine Menge anderer Geschwister, die das von sich behaupten. Melissas Spiegelbild und ich aber stehen uns näher als Geschwister. Sie lebt, und ich bin mir sicher, daß sie über kurz oder lang versuchen wird, uns anzugreifen. Bis dahin möchte ich unbedingt auf Hillwood Manor sein, in vertrauter Umgebung. Ich würde mich dort einfach sicherer fühlen.«

Mark kam nicht mehr zum Antworten. Der Bus hielt, und sie schlenderten eingekeilt in eine lärmende, ungeduldige Menschenmenge, auf das Abfertigungsgebäude zu. Die Zollformalitäten nahmen nur wenige Minuten in Anspruch. Vivian und Mark reisten prinzipiell nur mit einem Minimum an Gepäck - die beiden Handkoffer und die Reisetasche waren alles. Nachdem ihre Pässe kontrolliert worden waren, durchquerten sie mit schnellen Schritten die riesige Halle und verließen das Gebäude durch einen Nebenausgang.

»Ich hoffe, die Maschine ist startklar«, murmelte Mark, während sie quer über den Rasen auf eine Ansammlung niedriger, dunkel gestrichener Gebäude zugingen. »Ich habe keine Lust, jetzt noch einmal stundenlang zu warten.«

»Du hast doch das Telegramm geschickt?«

Mark nickte grimmig. »Sicher. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, da irgendein Trottel seinen wohlverdienten Büroschlaf schläft und dann ganz überrascht ist, wenn ich vor der Tür stehe.« Er zog den Kopf zwischen die Schultern, als ein eisiger Windstoß über das Rollfeld fuhr. Es begann zu regnen, und das ferne Grollen eines Gewitters mischte sich unter die Geräusche des Flughafens. Sie begannen zu laufen und erreichten den Hangar im gleichen Augenblick, in dem das Unwetter mit ganzer Macht losbrach. Als Mark die Tür hinter sich zuschob, schienen die Flughafengebäude hinter einem grauen, treibenden Schleier zu verschwimmen. Die Temperaturen fielen innerhalb weniger Augenblicke um mehrere Grade.

»Herzlich willkommen. Man merkt, daß wir wieder in der Heimat sind«, sagte Mark sarkastisch. »England zeigt sich von seiner besten Seite.« Er stellte die beiden Koffer ab, schlug seinen Jackenkragen herunter und sah sich aufmerksam in der Halle um.

Die zweimotorige Cessna des Taylor-Konzerns war bereits vor das Tor gerollt worden. Techniker in orangegelben Monturen bemühten sich um die Maschine. Aus dem Hintergrund der weitläufigen Halle war das dumpfe Dröhnen eines probelaufenden Motors zu hören.

»Dein Telegramm scheint angekommen zu sein«, sagte Vivian erleichtert.

Mark nickte wortlos und winkte einem der Techniker.

Der Mann legte seinen Schraubenschlüssel aus der Hand, wischte sich die Hände an der Hose ab und setzte sein ölverschmiertes Grinsen auf. »Missis Taylor! Mister Taylor! Schön, daß Sie wieder im Lande sind. Ihre Maschine ist fertig.«

»Schon durchgecheckt?«

»Selbstverständlich. Vollgetankt und startbereit. Sie können in fünf Minuten aufsteigen - wenn das Wetter mitspielt.«

Mark reichte dem Mann einen der beiden Koffer und trug den anderen und Vivians Tasche zur Cessna hinüber. Der Regen wurde mit jedem Augenblick stärker. Die Tropfen hämmerten in unablässigem Stakkato auf das Wellblechdach des Hangars, und der Donner wurde lauter und drohender.

»Ich glaube, ich besorge mir noch schnell den neuesten Wetterbericht«, sagte Mark besorgt. »Ich habe keine Lust, direkt in ein Unwetter hineinzufliegen.«

»Das hier ist nur ein kleiner Ausläufer«, sagte der Techniker. »Es kriselt schon den ganzen Tag, aber das Schlimmste spielt sich weiter südlich ab. Über dem Kanal muß es heiß hergehen.«

»Trotzdem.« Mark sprang leichtfüßig auf die Tragfläche hinauf, klappte das Kanzeldach hoch und reichte Vivian die Hand, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. »Ich laufe noch mal rasch ins Büro und hole mir den letzten Wetterbericht.«

Vivian kletterte ins Cockpit der Cessna und begann routinemäßig, die Instrumente zu überprüfen.

»Das ist schon alles klar«, grinste der Monteur. »Sie müssen nur noch die Starterlaubnis vom Tower einholen.«

»Erledigen Sie das, während ich mich um das Wetter kümmere.« Mark drehte sich herum, sprang auf den Hallenboden zurück und verschwand mit schnellen Schritten zwischen den dicht beieinander abgestellten Flugzeugen.


Die Glaskugel war etwas kleiner als ein Handball und stammte aus Vivian Taylors umfangreicher Sammlung magischer Hilfsmittel, aber Melissa war sich sehr sicher, daß die Einsatzmöglichkeiten der Kugel noch nie richtig ausgeschöpft worden waren, da es Vivian vor der Begegnung mit Ulthar niemals gewagt hatte, den in ihr verborgenen Kräften freien Lauf zu lassen. Weißliche Nebelschwaden schienen dicht unter der Oberfläche der Kugel dahinzutreiben, und dort, wo die untere Wölbung die Tischplatte berührte, hatte sich eine dünne Rauhreifschicht gebildet.

Melissas Gesicht schien zu einer unbeweglichen Maske erstarrt zu sein. Zwischen ihren Brauen stand eine strenge Falte, und die Augen blickten mit einer Mischung aus Konzentration und kaum unterdrückter Ungeduld auf die Glaskugel. Eine knisternde, unsichtbare Aura der Macht schien die reglose Gestalt zu umgeben, eine Macht, die selbst Wärme und Licht aus dem Raum zu verbannen schien und das Zimmer zu einer finsteren, feuchtkalten Höhle werden ließ.

Der Nebel ballte sich im Innern der Kugel zusammen, formte rasch vergängliche Umrisse und Figuren und trieb wieder auseinander. Allmählich veränderte sich die Farbe des Glases. Es wurde milchig, dann schwarz und schließlich blau, dann grün. Winzige Gestalten erschienen auf der gewölbten Oberfläche und verschwanden wieder, wurden von neuen Bildern abgelöst, Bilder, die Menschen und Landschaften zeigten und sich in immer rascherer Folge ablösten.

Schließlich stabilisierte sich das Bild. Die Kugel zeigte jetzt eine hohe, halbrunde Halle, in der scheinbar nur ameisengroße Menschen zwischen bunten Spielzeugflugzeugen umherhasteten.

Melissa lächelte. Ihre Finger bewegten sich sacht, fuhren in kreisenden Bewegungen über das kühle Glas der Kugel. Das Bild wuchs, als drehe ein unsichtbarer Kameramann am Zoom-Objektiv seiner Kamera. Die Wände der Halle glitten rechts und links aus dem Ausschnitt, während im Zentrum ein flaches, zweimotoriges Sportflugzeug heranwuchs. Es war eine Cessna - ein schnittiges, in den schwarz-goldenen Farben des Taylor-Konzerns gestrichenes Sportflugzeug, unter dessen aufgeklappter Kanzel eine dunkelhaarige Gestalt zu erkennen war.

Vivian Taylor.

Melissas Lächeln vertiefte sich. In den letzten zwei Tagen, seit sie in Hillwood Manor angekommen war, hatte sie immer wieder in die Kugel geschaut, um über Vivians gegenwärtigen Aufenthaltsort und ihre Handlungen unterrichtet zu sein. Solange die Taylors sich jenseits des großen Teichs befunden hatten, war die Gefahr, etwas gegen sie zu unternehmen, zu groß gewesen. Die Entfernung war zu groß gewesen, und eine mißglückte Attacke hätte die beiden nur vorzeitig gewarnt. Zudem reichte es nicht, Vivian einfach zu töten. Die Frau mußte verschwinden, und zwar spurlos.

Nun erst war für Melissa die Zeit zum Handeln gekommen. Die Taylors befanden sich in ihrem direkten Einflußbereich, und sie hatte ihre Vorbereitungen fertig getroffen. Die Falle war bereit, zuzuschnappen.

Melissa holte zu ihrem ersten Schlag aus.


»Alles in Ordnung«, sagte Mark, als er aus dem Büro des Flugleiters zurückkam. »Es ist wirklich nur ein kleiner Ausläufer. Im Norden ist der Himmel klar. Das heißt, daß wir in spätestens zehn Minuten durch strahlenden Sonnenschein fliegen.« Er nickte Vivian aufmunternd zu, überzeugte sich davon, daß das Gepäck sicher und ordentlich verstaut war und drückte den beiden Technikern jeweils eine Fünf-Pfund-Note in die Hand. Die Männer bedankten sich und eilten nach vorne, um die Hangartore zu öffnen.

Mark kletterte ächzend auf den Pilotensitz und griff nach oben, um die Plexiglaskanzel zu schließen. »Startfreigabe haben wir auch schon«, sagte er aufgeräumt. »Caveman hat alles erledigt.«

»Du solltest dich bei ihm entschuldigen«, sagte Vivian.

Mark ließ die Kanzel einrasten, kämpfte sekundenlang fluchend mit dem Sicherheitsgurt und schaltete die Zündung ein. Auf dem Armaturenbrett leuchteten ein halbes Dutzend verschiedenfarbiger Lämpchen auf.

»Wofür entschuldigen?« fragte er, ohne Vivian anzusehen.

»Für die Bemerkung, die du vorhin über den Büroschlaf gewisser Leute gemacht hast.«

Mark grinste. »Ich wußte nicht, daß Caveman Dienst hat. Bei ihm klappt alles. Ein tüchtiger Mann. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, ob ich ihn für unseren Konzern engagieren soll.«

»Wozu?«

Mark zuckte mit den Achseln, sah flüchtig auf die verwirrende Anzahl von Instrumenten vor sich und drückte den Anlasserknopf. Die sechshundert PS der Cessna erwachten zu grollendem Leben. »Warum nicht? Tüchtige Männer kann man immer gebrauchen«, rief er über den Lärm der Motoren hinweg. »Außerdem glaube ich nicht, daß Caveman hier sehr glücklich ist. Er wirkt ziemlich verbissen. Wahrscheinlich kann er sich nicht damit abfinden, daß seine Karriere hier zu Ende sein soll. Er war einmal ein tüchtiger Ingenieur.«

»Was heißt war?«

Die Hangartore rollten quietschend nach oben. Die Techniker traten beiseite, und Mark schob den Gashebel um wenige Zentimeter nach vorne. Das Flugzeug setzte sich rüttelnd in Bewegung.

»Er ist es immer noch, soweit ich das beurteilen kann. Aber da war einmal eine dumme Sache, vor ein paar Jahren. Keine Ahnung, was genau. Ich glaube, er ist mit seinem Vorgesetzten aneinandergeraten und hat ihm eine runtergehauen. Jedenfalls war seine Karriere in diesem Moment zu Ende.« Ein helles Piepsen aus dem Funkempfänger unterbrach seinen Gedankengang. Er ließ den Steuerknüppel los, griff nach dem Mikro und drückte die Sprechtaste. »TK-zero-one an Tower. Kommen.«

Die Stimme des Flugdienstleiters war kaum zu verstehen. Statisches Knistern und kratzende Störgeräusche überlagerten die Verbindung, und Mark hatte Mühe, die Worte aus dem Lärm herauszuhören. »Hier Tower. TK-zero-one, Sie haben Startfreigabe. Nehmen Sie Startbahn siebzehn.«

»Verstanden, Tower. TK-zero-one Ende und aus.« Mark hängte das Mikrophon in die Halterung zurück, griff mit der Linken nach dem Steuerknüppel und gab gleichzeitig Gas. »Ich habe ja gesagt, daß auf Caveman Verlaß ist«, rief er triumphierend.

Vivian gab ein ärgerliches Geräusch von sich. »Das Funkgerät hat jedenfalls besser funktioniert, bevor er die Maschine durchgecheckt hat«, sagte sie gereizt.

Mark sah sie konsterniert an. »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?« fragte er. Die Worte taten ihm fast sofort wieder leid, aber Vivian schien an seinem rüden Ton keinen Anstoß zu nehmen. »Entschuldige«, sagte er sanft.

»Flieg lieber los. Ich habe keine Lust, auf diesem verdammten Flugplatz Wurzeln zu schlagen.«

Mark schluckte die wütende Entgegnung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, herunter und konzentrierte sich auf den Startvorgang. Die Cessna machte einen wilden Satz, als er den Gashebel viel zu hart nach vorne stieß, und schoß mit aufbrüllendem Motor auf die Startbahn hinaus. Den Männern im Tower mußten die Haare zu Berge stehen, wenn sie den Vorgang beobachteten.

Der Regen war mittlerweile stärker geworden. Das Rollfeld schimmerte wie ein riesiger, mattgrauer Spiegel, und die Wolken schienen so tief zu hängen, daß Mark fast damit rechnete, den schlanken Turm des Towers in den treibenden grauen Massen verschwinden zu sehen. Der Wind zerrte und rüttelte an den Tragflächen der kleinen Maschine, aber im Norden klarte der Himmel bereits jetzt auf. Ein heller, goldgelber Streifen wuchs langsam in der grauen Wolkenbank empor. Der Wetterbericht schien also ausnahmsweise einmal nicht frei erfunden zu sein, dachte Mark zufrieden. Über Nordengland mußte strahlender Sonnenschein herrschen.

Er wartete ungeduldig, bis die Nadel des Geschwindigkeitsmessers die Hundert-Meilen-Marke erreicht hatte, ehe er den Steuerknüppel langsam zu sich heranzog. Die stumpfe Nase des Sportflugzeuges folgte der Bewegung gehorsam, während das Rollfeld unter ihnen in die Tiefe stürzte. Mark riß die Maschine so steil empor, wie es nur ging. Er flog noch nicht allzu lange, aber er wußte, daß solche Gewitterfronten oftmals sehr niedrig hingen. Niedrig genug, um selbst für ein so kleines Flugzeug wie dieses kein ernsthaftes Hindernis dazustellen. Für zehn, fünfzehn Sekunden tauchte die Cessna in wirbelnden, grauweißen Nebel ein, dann hatte sie die Wolkendecke durchstoßen.

Mark atmete erleichtert auf, als der bockende Steilflug in ein sanftes Gleiten überging. Unter ihnen wetterleuchteten grelle Blitze durch die Wolkenbank, und ein Blick nach Süden zeigte ihm, daß der Himmel dort schwarz war.

»Das Schlimmste ist überstanden«, sagte er. »In anderthalb Stunden sind wir zu Hause.« Er warf einen Blick auf den Kompaß, korrigierte den Kurs um mehrere Grad und schaltete den Autopiloten ein, ehe er sich entspannt zurücksinken ließ.

Vivian saß zusammengekauert neben ihm und starrte aus dem Fenster. Mark konnte ihr Gesicht nur im Profil sehen, aber auch so war die Veränderung deutlich zu erkennen. Eigentlich war es nichts Äußerliches - die junge, dunkelhaarige Frau neben ihm war noch die gleiche, mit der er vor wenigen Tagen hierhergeflogen war. Ihre Augen blickten vielleicht ein wenig ernster als sonst, und die Anstrengungen der letzten Tage hatte tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen: dunkle Ringe unter ihren Augen und einen bitteren, resignierenden Zug, den er zuvor noch nie an ihr bemerkt hatte. Mark fragte sich besorgt, ob alles nicht vielleicht auch für sie zuviel gewesen war. Vivian wirkte depressiv, ängstlich ... unentschlossen in allem, was sie sagte oder tat. Schon der bloße Gedanke an Melissa machte sie offenbar krank.

Vivian schien seinen Blick zu spüren. Sie drehte sich halb um, sah ihm einen Herzschlag lang in die Augen und wandte sich dann wieder ab.

Mark zündete sich umständlich eine Zigarette an, starrte einen Moment lang in die Glut und klappte den Aschenbecher auf. »Mach dir nicht zu viele Sorgen«, sagte er. »Wir werden neue Leibwächter einstellen. Ich lasse unser Haus rund um die Uhr bewachen.«

Vivian antwortete nicht sofort. Sie seufzte, schüttelte unmerklich den Kopf und fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch die Haare. »Leibwächter?« Sie lächelte traurig, sah ihn kurz an und blickte dann wieder aus dem Fenster. Die Wolkendecke unter dem Flugzeug schien sich wie ein riesiges, lebendes Wesen zu bewegen. »Du kennst doch Melissas Macht. Nicht einmal eine ganze Armee von Leibwächtern könnte etwas gegen diese Frau ausrichten. Wir würden nur Unschuldige gefährden.«

Mark zögerte. »Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten?«

Vivian zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Wenn überhaupt jemand Melissa aufhalten kann, dann bin ich es«, behauptete sie. »Ich bin überzeugt, daß sie ebensoviel Angst vor mir hat wie ich vor ihr. Wir haben die gleichen Kräfte, auch wenn sie diese viel, viel besser beherrschen kann. Aber ...« Vivian brach abrupt ab und starrte durch die Frontscheibe nach draußen. Ihre Augen weiteten sich erstaunt. »Mark - was ist das?«

Vor ihnen, vielleicht noch fünf, sechs Meilen entfernt, hatte sich ein riesiges, dunkles Etwas aus der Wolkendecke gehoben. Im ersten Augenblick hatte Mark den Eindruck, direkt auf ein riesiges, mißgestaltetes Ungeheuer zuzufliegen, das der Maschine mit gigantischen Armen entgegenzugreifen schien. Aber dann erkannte er, daß es nur eine Wolke war, wenn auch eine sehr sonderbare Wolke. Es war nicht allein ihre dunkle, rauch-braune Farbe, die Mark beunruhigte. Das Phänomen stand in krassem Gegensatz zu allem, was er je über Meteorologie und Aeronautik gehört hatte. Sie türmte sich in einer riesigen, kompakten Halbkugel über dem brodelnden Wolkenmeer auf. Ihre Oberfläche schien zu kochen. Graue, faserige Nebelschleier wuchsen wie bizarre Arme aus der Wolkenkugel hervor.

»Ein ... Sturm?« fragte Vivian zögernd.

Mark schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Aber was immer es ist - mir gefällt es nicht. Ich fliege lieber darum herum.« Er klappte seinen Sitz nach vorne, schaltete den Autopiloten aus und griff nach dem Steuerknüppel.

Aber die Maschine gehorchte ihm nicht!

Mark fluchte lauthals, betätigte das Höhenruder und zog den Steuerknüppel nach rechts. Die Cessna flog stur geradeaus, als würde sie an einem unsichtbaren Seil gezogen.

»Das ... das gibt es doch nicht«, stieß Mark verblüfft hervor. »Das ist doch unmöglich!« Er versuchte es noch einmal, aber auch diesmal verweigerte ihm das Flugzeug den Gehorsam. Die Maschine folgte unbeirrbar dem einmal eingeschlagenen Kurs.

Die Wolkenbank wuchs mit beängstigender Geschwindigkeit vor ihnen empor. Mark konnte erst jetzt erkennen, daß die Luft dort vorne regelrecht zu kochen schien. Riesige Wirbel und Trichter bildeten sich auf der Oberfläche der gespenstischen Wolke, gigantische Strudel, in denen die kleine Maschine wie ein Spielzeug zerschmettert werden mußte.

»Mark! Das ist eine Falle!« schrie Vivian plötzlich. »Ich spüre ...«

Mark nickte entsetzt. Auch ihm war mittlerweile klar geworden, daß das Phänomen mit menschlicher Logik nicht zu erklären war. Diese Wolke dort vorne war nicht auf natürlichem Wege entstanden. Hier war Magie im Spiel. Noch vor wenigen Tagen hätte er diesen Gedanken als lächerlich abgetan. Er hatte zwar gewußt, daß Vivian über einige Fähigkeiten verfügte, die über die anderer Menschen hinausgingen und sich am leichtesten mit dem Wort Magie umschreiben ließen, aber sein Glaube daran hatte sich auf etwas Wahrsagerei, Kartenlegen und dergleichen mehr beschränkt. Erst seit den Ereignissen in New York und auf der Spiegelwelt wußte er, daß es weit größere magische Kräfte gab; Kräfte, die auch in der Lage waren, so etwas zu bewirken.

Die Instrumente der Cessna begannen verrückt zu spielen. Zeiger tanzten wild auf und ab, der elektronische Horizont überschlug sich, und die Kompaßnadel begann wie wild zu kreiseln. Ein ungeheurer Schlag ließ das Cockpit erbeben. Die Cessna legte sich auf die Seite, begann zu trudeln und wurde dann von einer unsichtbaren Kraft wieder auf ihren ursprünglichen Kurs zurückgerissen.

Und dann tauchten sie in die Wolkenbank ein.

Es war wie ein vorweggenommener Weltuntergang. Das Motorengeräusch wurde vom ungeheuren Brüllen des Sturms verschluckt. Ein helles, metallisches Kreischen marterte ihre Ohren. Blitze zuckten rechts und links der Kanzel auf, schienen wie geisterhafte Arme nach dem Flugzeug und den beiden Passagieren zu greifen. Blaues Elmsfeuer tanzte über das Armaturenbrett.

Mark schrie auf und ließ den Steuerknüppel los. Der Kunststoff begann zu rauchen. Er hörte, daß Vivian irgend etwas schrie, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Er versuchte, sich zu ihr herumzudrehen, aber die ungeheure Beschleunigung preßte ihn hilflos in seinen Sitz.

Irgend etwas Großes, Dunkles tauchte in dem tobenden Chaos vor der Pilotenkanzel auf, huschte dicht an der Maschine vorüber und streifte die rechte Tragfläche.

Das Holz zersplitterte mit einem ekelhaften Geräusch. Die Maschine bäumte sich auf, überschlug sich vier-, fünfmal hintereinander und sackte dann wie ein Stein nach unten. Vivian schrie entsetzt auf, als die Maschine die Wolkendecke durchstieß. Der Boden schien mit unglaublicher Geschwindigkeit zu ihnen emporzustürzen.

Mark riß verzweifelt am Steuerknüppel, obwohl er längst erkannt haben mußte, wie sinnlos seine Bemühungen waren. Die Cessna war ein Wrack. Selbst wenn der Sturm plötzlich aufhören würde, würden sie weiterstürzen.

Die Maschine überschlug sich. Vivian wurde im Sitz nach vorne geschleudert und prallte schmerzhaft gegen die Armaturenverkleidung. Sie nahm plötzlich alles mit phantastischer Klarheit wahr. Ihre Umgebung, das helle, qualvolle Splittern von Holz und Metall, den auf und ab hüpfenden Horizont, den emporspringenden Boden, der durch die rasende Geschwindigkeit ihres Sturzes zu einer braun-grünen Masse zu verschmelzen schien. Marks Gesicht, gleichermaßen von Angst und Wut verzerrt.

War das der Tod?

Viele Menschen behaupteten, daß man in der Sekunde vor dem Sterben noch einmal sein ganzes Leben erlebt. Vivian merkte nichts davon. Sie hatte nur panische Angst und ein irrationales Gefühl der Enttäuschung, das Bewußtsein, betrogen worden zu sein. Irgendwie schien ihr der Gedanke fast lächerlich, auf so banale Art ums Leben zu kommen, nach all den ungeheuren Gefahren, die sie gerade erst überstanden hatte. Sie wurde hilflos in der Kabine herumgeschleudert, als ein weiterer furchtbarer Stoß den zerschmetterten Rumpf der Maschine traf. Die Cessna bäumte sich auf. Der Motor erstarb mit einem häßlichen Geräusch. Vivian prallte gegen einen harten Gegenstand, schrie gequält auf und griff in blinder Panik nach oben.

»Tu doch etwas!« vernahm sie Marks Schreien wie aus weiter Ferne.

Sie konnte nicht antworten. Die nackte Todesangst verhinderte jeden klaren Gedanken.

Plötzlich schien der Himmel zu explodieren. Die graue Wolkendecke riß in unglaublichem Tempo auseinander. Ein unsichtbares, wesenloses Etwas griff nach der winzigen Maschine, fing ihren rasenden Sturz wenige hundert Meter über dem Boden ab und schleuderte sie wie ein welkes Blatt wieder in die Höhe.

Mark stemmte sich ächzend im Pilotensitz hoch und starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen nach draußen. Die Luft rings um die Maschine schien sich in flüssigen, rotierenden Sirup zu verwandelt zu haben. Er sah, wie die Wolkendecke über ihnen endgültig aufriß, sich zu einem rotierenden, trichterförmigen Etwas zusammenballte. Die Cessna kippte in die Waagerechte zurück und jagte in flachem Winkel auf den unsichtbaren Wellen des Sturmes dahin. Automatisch drückte Mark den Anlasserknopf. Der Motor stöhnte qualvoll, machte ein paar Drehungen und sprang dann stotternd an.

Mark schüttelte hastig den Kopf und umklammerte verbissen den Steuerknüppel. Das, was sie hier erlebten, stand im krassen Gegensatz: zu allen Naturgesetzen, aber das interessierte ihn im Moment nicht. Er wußte, daß sie eine Chance hatten, wenn das unglaubliche Phänomen auch nur noch wenige Augenblicke anhielt. Probeweise betätigte er das Höhenruder, und das Wunder geschah - die Nase der Cessna senkte sich gehorsam dem Boden entgegen, und die Maschine begann mit einem stoßenden, rüttelnden Abstieg. Trotz der abgerissenen Tragflächen hielt sich die Maschine mühsam in der Luft.

»Festhalten!« schrie Mark. »Das gibt eine Bruchlandung!« Er wußte nicht, ob Vivian seine Worte über dem Toben des Sturms und dem gequälten Heulen der Motoren verstanden hatte. Als er den Kopf wandte, sah er, daß sie wie leblos auf dem Sitz zusammengesunken war. Sie schien das Bewußtsein verloren zu haben, aber Mark blieb keine Zeit, sich um sie zu kümmern, mußte sich voll auf die bevorstehende Bruchlandung konzentrieren.

Verzweifelt zerrte er am Steuerknüppel, um den Aufprallwinkel so flach wie möglich zu halten. Das blaue, verwaschene Band eines Flusses huschte unter der Maschine hinweg, wurde vom schmierigen Grün einer Wiese und schließlich der blaugrünen Masse eines Waldes abgelöst. Mark konnte nicht erkennen, wie schnell die Maschine war - der Geschwindigkeitsmesser war wie alle Instrumente ausgefallen -, aber sie mußte immer noch weit über einhundert Meilen schnell sein. Bei dieser Geschwindigkeit konnte schon ein einfacher Weidezaun zu einem tödlichen Hindernis werden.

Aber er hatte keine Zeit mehr, über ihre Überlebenschancen nachzudenken. Der flügellose Torso der Cessna streifte die obersten Wipfel des Waldes, hüpfte wie ein flach gewordener Stein in die Höhe und fuhr dann mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Äste der Bäume.

Vivians Aufschrei ging im Splittern und Bersten der Glaskanzel unter.

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