26

In zahlreichen Kehren und Windungen führte der Gang tiefer in das Kristallgebilde hinein. Wie Vivian mittlerweile festgestellt hatte, handelte es sich nicht einfach um einen einzigen Tunnel, sondern der Gang war Bestandteil eines sinnverwirrenden, riesigen Labyrinths mit unzähligen Abzweigungen, Gabelungen und Quergängen, in dem sich ein Mensch wahrscheinlich in Sekundenschnelle rettungslos verirren würde. Auch Vivian hatte schon nach wenigen Schritten vollkommen die Orientierung verloren, dennoch setzte sie weiterhin monoton einen Fuß vor den anderen und bemühte sich, wenigstens ungefähr die anfangs eingeschlagene Richtung beizubehalten, um nicht ständig nur im Kreis herumzulaufen.

Vivian wußte jetzt, woran diese Umgebung sie erinnerte. Zwar gab es hier keine Spiegel, aber ansonsten schien dieses Gebilde aus schwarzem Kristall ein getreues Gegenstück zu Ulthars Spiegelkabinett zu sein, ein dunkler, lichtfressender, lebensfeindlicher Schatten, den das Labyrinth des Magiers in diese Dimension warf.

Aber vielleicht war es auch genau umgekehrt.

Vivians Müdigkeit war geblieben, aber sie war längst schon über den toten Punkt hinaus, und das Gehen strengte sie nicht besonders an, so daß sie spürte, wie ihre körperlichen Kräfte allmählich zurückkehrten.

Während der ersten Zeit hatte sie sich immer wieder umgedreht und kurz zurückgesehen, aber von dem Spinnenmonstrum war nichts zu entdecken. Schließlich war Vivian überzeugt, daß es ihr nicht gefolgt war, sondern sich damit begnügte, weiterhin an seinem Platz auf Eindringlinge zu warten.

Dennoch blieb sie vorsichtig. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß das Ungeheuer der einzige Wächter war - und doch schien es so zu sein. Immer mehr kam Vivian zu dem Schluß, daß die Beherrscher dieses Kristallgebildes glaubten, überhaupt keinen Schutz zu benötigen. Selbst die Spinne schien in erster Linie als Warnung zu dienen. Möglicherweise war das, was im Inneren des Gebildes lauerte, so schrecklich, daß es sich nicht durch Wächter schützen mußte, sondern sich selbst Schutz genug war.

Vivian wußte nicht, wie tief sie bereits in den Gang vorgedrungen war, als sie plötzlich die Geräusche hörte. Sie blieb stehen und lauschte.

Stimmen. Was sie hörte, waren gedämpfte Stimmen und die Geräusche schwerer, mühevoller Schritte, untermalt von einem metallischen Schleifen, das sie schon einmal gehört hatte. Und die Geräusche kamen näher. Vivian fuhr herum, hetzte ein paar Schritte zu einer Abzweigung zurück und verbarg sich in einem Seitengang. Vorsichtig spähte sie um die Ecke.

Eine Art bizarrer Prozession erschien in dem Tunnel, in dem sie sich gerade noch befunden hatte. Vivian erkannte fünf, sechs der großen, geschuppten Hornkrieger. Im Halbdunkel des Ganges wirkten ihre Gestalten noch drohender als im Licht der Nachmittagssonne; wandernde Berge, die zu finsterem Leben erwacht waren. Zwischen ihnen marschierte eine Anzahl der willenlosen Spiegelsklaven. Aber der Anblick unterschied sich in einem Punkt von dem vom Nachmittag: Einige der Gefangene schienen den Giganten nicht freiwillig zu folgen. Sie wehrten sich, versuchten die Reihen der Bewacher immer wieder zu durchbrechen und wurden brutal zurückgestoßen. Als die Gruppe näher kam, erkannte Vivian die Gesichter der Männer. Es handelte sich um Mark, Jonathan Masterton und die beiden anderen, die Ulthar in die Spiegelwelt geschickt hatte. Offensichtlich waren Mark und seine zwei Gefährten Masterton zu Hilfe geeilt und ebenfalls gefangengenommen worden.

Rückwärts gehend entfernte sich Vivian vorsichtig von der Abzweigung, als die Gruppe näher kam. Sie zog sich ein paar Schritte tiefer in den Gang zurück, sah sich gehetzt um und schmiegte sich schließlich mit hämmerndem Herzen in eine der zahllosen, dunklen Nischen, die die Gangwände unterbrachen.

Das erste der riesigen Wesen passierte die Abzweigung. Vivian hörte das leise Rasseln, mit dem seine Hornschuppen aneinanderrieben, als es an ihrem Versteck vorüberging. Das Ungeheuer schien eine boshafte, perverse Karikatur eines Menschen zu sein. Trotz seiner immensen Größe wirkten seine Bewegungen geschmeidig wie die einer Raubkatze. Die Erscheinung strahlte eine Aura von Kraft und Gewalttätigkeit aus. Die schwarzen, glitzernden Fäden auf seiner Haut zuckten und bebten. Der Anblick erinnerte Vivian an parasitäre Pilze, die einen Baum befallen hatten.

Der Hornkrieger bemerkte nichts von Vivians Anwesenheit, ebensowenig wie die anderen. Sie wartete, bis das letzte Wesen an ihrem Versteck vorübergegangen war. Dann trat sie lautlos aus der Nische hervor und folgte der Gruppe.

Die riesigen Hornwesen schienen nichts davon zu merken, daß sie verfolgt wurden. Sie hatten genug damit zu tun, Mark und seine drei Begleiter im Zaum zu halten, die im Gegensatz zu den willenlosen übrigen Spiegelwesen die Gefahr, die ihnen aus den Tiefen des Labyrinths entgegenwehte, ebenso deutlich spürten wie Vivian. Sie wehrten sich verzweifelt, und die Giganten schienen trotz ihrer ungeheuren Körperkräfte alle Mühe zu haben, sie am Ausbrechen zu hindern. Der Vormarsch der Gruppe verlangsamte sich zusehends, geriet immer wieder ins Stocken, und löste sich schließlich in einem unkontrollierten Tumult auf, als es Mark gelang, seinem Bewacher den Arm zu verdrehen und den Titanen zu Boden zu schleudern. Das Wesen knurrte wütend, kam mit einer Geschwindigkeit, die seinem plumpen Äußeren Hohn sprach, wieder auf die Füße und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Mark.

Mark wartete, bis das Wesen ihn fast erreicht hatte, wich dann blitzschnell zur Seite aus und nutzte die eigene Kraft des Angreifers, um ihn erneut zu Boden zu schleudern. Als der Hornkrieger sich diesmal erheben mußte, traf Marks Fuß seine Schlafe. Das Wesen brüllte auf, fiel ein drittes Mal nach hinten und blieb stöhnend liegen.

Eine halbe Sekunde später jedoch ging auch Marks Doppelgänger unter dem Ansturm von gleich drei Hornwesen zu Boden. Ein fürchterlicher Tumult brach los. Jonathan Masterton und die beiden anderen Spiegelbilder waren plötzlich ohne Bewacher. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würden sie die Gelegenheit nutzen, um ihr Heil in der Flucht zu suchen, aber dann drehten sie sich zu Vivians Verblüffung herum und eilten Mark zu Hilfe.

Es war ein Kampf unvorstellbarer Gewalten. Im Vergleich zu den titanischen Hornkriegern wirkten die Spiegelgestalten geradezu winzig, aber Vivian hatte ja am eigenen Leib gespürt, wie unmenschlich stark sie waren. Trotzdem wußte sie, daß der Ausbruchsversuch zum Scheitern verurteilt war. Die geschuppten Giganten waren schon jetzt in der Überzahl, und der Lärm, den die verbissen kämpfenden Gegner machten, konnte nicht mehr lange ungehört bleiben. In wenigen Augenblicken würden die Hornkrieger Verstärkung erhalten.

Vivian löste sich aus der Nische, in der sie sich versteckt hatte, und schlich geschickt an den Kämpfenden vorüber. Der Tunnel war an dieser Stelle so breit, daß sie unerkannt vorbeikommen konnte. Weder die Hornwesen noch Mark, noch eines der anderen Spiegelgeschöpfe nahmen Notiz von ihr.

Sie rannte los.

Aus einem der Seitengänge war das Stampfen schwerer Schritte zu hören, vermischt mit wütenden, kratzenden Schreien und dem Klirren von Waffen. Vivian verschwendete keinen Augenblick mehr damit, dem ungleichen Kampf zuzusehen. Sie rannte über den unebenen Boden, wählte blind einen Seitengang aus und stürzte hinein. Sie hatte plötzlich keine Angst mehr, sich zu verirren. Sie wußte, wo ihr Ziel lag: im Zentrum dieses gigantischen Alptraumes. Und sie spürte die Richtung dorthin so deutlich, daß sie sie selbst mit geschlossenen Augen gefunden hätte. Die quälende, unmenschliche Ausstrahlung, dieser Schatten des Böden, der die ganze Umgebung wie ein Pesthauch zu durchtränken schien - der Ursprungsort lag unmittelbar vor ihr.

Der Gang machte einen scharfen Knick und gabelte sich. Vivian blieb stehen, sah die beiden runden, von wallenden schwarzen Nebeln erfüllten Öffnungen einen Herzschlag lang stirnrunzelnd an und wählte dann die rechte. Der schwarze Nebel bildete nur einen dunklen Vorhang. Dahinter lag ein weiter, kuppelförmiger Raum, dessen Boden knietief von einer schwarzen, schleimigen Substanz bedeckt war.

Vivian stöhnte entsetzt auf. Sie wußte jetzt, warum die Hornwesen die verlassene Stadt durchstreiften, wohin sie ihre Gefangenen brachten und was mit diesen geschah.

Tausende der Spiegelwesen standen reglos vor ihr. Es wirkte wie eine Szene aus einem besonders widerlichen Horrorfilm. Die Spiegelgeschöpfe waren offensichtlich nicht freiwillig in diesen Raum gegangen, selbst diese abgestumpften willenlosen Wesen schienen im letzten Moment gespürt zu haben, welches schreckliche Schicksal ihnen bevorstand. Auf ihren Gesichtern war das eingefrorene Entsetzen deutlich zu sehen, das im Augenblick ihres Todes von ihnen Besitz ergriffen hatte. Manche von ihnen standen in seltsam verkrampfter Haltung da, andere hatten einfach die Hände vors Gesicht geschlagen und sich in ihr Schicksal ergeben.

Vivian hatte den Eindruck, eine Ansammlung von lebensgroßen, perfekt nachgebildeten menschlichen Puppen zu betrachten, die ein wahnsinniger Künstler scheinbar wahllos über den Boden der Halle verteilt hatte, aber das allein war nicht das Schlimme.

Aus dem schwarzen Morast waren unzählige dünne, schleimige Fühler herausgewachsen, glitzernde Fäden, die an den Körpern der Spiegelwesen hochgekrochen waren und sie mit einem dichten, zuckenden Netz überzogen. Es war das gleiche Phänomen, das Vivian schon an den Echsen beobachtet hatte. Sie wußte plötzlich, daß ihre Vermutung richtig gewesen war. Nicht die Echsen, sondern dieses schwarze Geflecht war der wahre Herr dieser Welt.

Parasiten.

Sie herrschten über diese Festung des Grauens. Sie gaben Ulthar seine Macht, und sie waren es, die letztendlich hinter dem grausigen Geschehen standen. Diese ganze, riesige Menschenfalle, die Ulthar errichtet hatte, diente einzig und allein dem Zweck, neue Sklaven für die Wesen heranzuschaffen. Ulthar war nur ein Handlanger, ein Werkzeug, dessen sie sich bedienten, weil sie in ihrer wahren Gestalt nicht auftreten konnten.

Und es befanden sich nicht nur menschliche Opfer hier. Als sie genauer hinsah, bemerkte Vivian, daß die Menschen sogar nur einen Bruchteil der Gestalten ausmachten. Im Hintergrund des gewaltigen Saales erkannten sie noch andere Wesen, von denen einige sie an die Statuen erinnerte, die sie beim Eindringen in das Kristallgebilde gesehen hatte, andere waren noch bizarrer und fremdartiger.

Auf wie viele Welten mochte sich die Macht dieser Parasiten erstrecken? Wie viele Handlanger wie Ulthar mochten ihnen überall im Universum dienen und ihnen ständig neue Opfer zuführen?

Vivian spürte eine zaghafte Berührung am Fuß. Sie sah hinunter, schrie entsetzt auf und prallte zurück. Ein schmaler, tastender Fühler war aus der Oberfläche der brodelnden Masse herausgewachsen und tastete nach ihren Beinen.

Angeekelt fuhr sie herum und lief durch den schwarzen Nebel nach draußen. Sie wußte, daß sie den Anblick nie wieder vergessen würde. Zitternd blieb sie stehen und wartete, bis sich das Zittern ihrer Glieder einigermaßen beruhigt hatte.

Parasiten.

Seelen-Parasiten ...

Welche Schrecken würde der andere Ausgang für sie bereithalten?

Sie versuchte, den Anblick der in das schwarze Gespinst eingesponnenen Menschen für einen Augenblick zu verdrängen und ging zögernd auf den linken Eingang zu. Auch hier wallte dieser schwarze, geheimnisvolle Nebel. Sie trat hindurch und öffnete mit klopfendem Herzen die Augen.

Vor ihr klaffte ein ungeheurer, meilentiefer Abgrund, dessen Wände glatt und fugenlos wie pulsierendes Glas lotrecht in die Tiefe stürzten. Schwarzer, übelriechender Dampf stieg in faserigen Schwaden aus der Tiefe empor, und das pochende Dröhnen, das sie mehr denn je an das Schlagen eines riesigen, bösen Herzens erinnerte, war hier lauter als sonst irgendwo in der schwarzen Festung. Ein schmaler Steg ohne Geländer führte direkt vor ihr in kühnem Bogen über den Abgrund. Seine Oberfläche schimmerte metallisch. Ein helles, pulsierendes Leuchten begann irgendwo dicht hinter dem Anfang des schmalen Bandes, lief an seiner Oberfläche entlang und verschwand in der Ferne, um sofort danach wieder aufzuflammen; ein optischer Gegentakt zu dem dumpfen Pulsschlag, der die Luft vibrieren ließ. Aus dem Gang hinter ihr drangen Kampfgeräusche. Vivian drehte sich herum, zögerte kurz und trat dann durch den Nebelvorhang wieder heraus auf den Gang. Sie wußte, daß sie über den Steg mußte, wenn sie mehr erfahren und einen Rückweg in ihre Welt finden wollte, aber im Moment war sie beinahe froh, einen Vorwand dafür zu haben, nicht sofort auf diese Brücke ins Nichts hinauszutreten.

Auf dem Gang spielte sich ein verzweifelter, ungleicher Kampf ab. Vier der riesigen Hornwesen drangen mit Peitschen und Schwertern auf Mark und Jonathan Masterton ein, die sich Rücken an Rücken und mit offenbar erbeuteten Waffen verteidigten.

Hätten sich die Giganten allein auf ihre Körperkraft verlassen, wäre der Kampf in wenigen Augenblicken ganz vorbei gewesen. Aber sie schienen nicht zu begreifen, daß den lebenden Spiegelbildern mit Waffen nicht beizukommen war.

»Vivian!«

Marks Aufschrei ließ Vivian herumwirbeln. Hinter ihr war ein weiteres Ungeheuer aufgetaucht. Die Bestie überragte sie um fast einen Meter. In ihren Augen funkelte satanische Mordlust.

Vivian sah den Schlag kommen, warf sich instinktiv zu Boden und entging dem niedersausenden Schwert um Haaresbreite. Reflexartig trat sie nach der Kniescheibe der Echse. Der Tritt schien die Bestie eher zu ärgern als wirklich zu schmerzen, aber er verschaffte Vivian wertvolle Sekunden. Sie rollte sich herum, tauchte unter den zupackenden Klauen des Monsters weg und war mit einem verzweifelten Satz aus seiner Reichweite. Hinter ihr riß das Schwert eine meterlange Furche in den Boden.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wir Mark einem der Angreifer das Schwert in die Brust stieß und gleichzeitig geschickt unter einem weiteren Hieb wegtauchte. Vivian blieb keine Zeit, dem Kampf weiter zuzusehen. Auch sie wich einem weiteren Hieb ihres Verfolgers aus, sprang zurück und hob das Schwert des gefallenen Hornkriegers auf. In den Händen des riesigen Wesens hatte die Waffe klein und zerbrechlich ausgesehen, aber das Schwert war so schwer, daß Vivian es mit beiden Händen kaum halten konnte.

Als der Horngigant das nächste Mal zuschlug, riß sie die Waffe dennoch mit aller Kraft hoch und fing den Hieb auf. Der Schlag ließ sie gegen die Wand taumeln. Ein dumpfer, pulsierender Schmerz tobte durch ihre Arme. Das Schwert entglitt ihren tauben Fingern und fiel polternd zu Boden. Der Hornkrieger stieß einen triumphierenden Schrei aus und schwang seine Waffe zum letzten, entscheidenden Hieb.

Vivian sprang.

Sie trat mit dem Fuß nach dem Handgelenk des Angreifers und warf sich gleichzeitig herum, um an ihre eigene Waffe zu kommen. Der Zusammenprall ließ sie beide straucheln. Vivian fiel auf den Rücken, ignorierte den stechenden Schmerz, der durch ihre Rippen jagte, und tastete blind über den Boden. Ihre Finger schlossen sich um den Schwertgriff.

Ein riesiger, mißgestalteter Schatten wuchs über ihr empor, als sich ihr Gegner auf sie warf. Sie versuchte das Schwert hochzureißen, obwohl sie genau wußte, daß sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. Das tonnenschwere Ungeheuer würde sie einfach unter sich begraben.

Ein helles, silbernes Schemen blitzte über ihr auf, zischte dicht über ihrem Gesicht durch die Luft und bohrte sich in den Hals des Angreifers. Der Hornkrieger prallte zurück, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Seine Finger verkrampften sich um das schmale, silberne Band, das sich wie eine bizarre Metallschlange um seinen Hals gewunden hatte. Ihr Mund öffnete sich, aber statt des erwarteten Aufschreies hörte Vivian nur ein hilfloses Röcheln. Das Ungeheuer brach in die Knie, kippte dann nach vorn und blieb reglos liegen.

Vivian richtete sich verwirrt auf.

»Rettung in letzter Sekunde, wie?« sagte eine vertraute Stimme.

»Mark!«

Mark grinste, löste die .Peitsche mit gekonntem Schwung vom Hals des toten Giganten und zog Vivian mit der linken vollends auf die Füße.

»Warum ...«

»Warum ich dir geholfen habe?« Mark lächelte humorlos. »Das frage ich mich selber«, entgegnete er. Er trat zurück, hob scheinbar mühelos eines der schweren Schwerter vom Boden auf und stieg über den reglosen Körper eines gefallenen Gegners hinweg, um Masterton aufzuhelfen, der stöhnend versuchte, sich unter der Zentnerlast eines toten Hornkriegers hervorzuarbeiten. Der Boden des Kampfplatzes war mit Blutlachen bedeckt. »Ich glaube nicht, daß Ulthar uns noch gefährlich werden kann, aber du kannst uns vielleicht noch nützen, bis wir hier heraus sind. Wie du wohl schon gemerkt hast, ist hier in Moron vieles anders als auf der Erde.«

Moron, wiederholte Vivian in Gedanken.

Das Wort brachte irgend etwas in ihr zum Schwingen. Eine dunkle, verschwommene Erinnerung, die nicht ihre eigene war. Alle Verdorbenheit, alle Gewalt des Universums schien im Klang dieser fünf Buchstaben zu liegen.

Obwohl sie nicht wußte, wer oder was sich dahinter verbarg, spürte sie das Grauen, das dieses Wort symbolisierte. Es war, als erinnerte sie sich plötzlich an Dinge, die sie nie erlebt hatte, als wehten bruchstückhafte Erinnerungen aus einem früheren Leben zu ihr herüber, Erinnerungen an ein Leben, das unendlich weit zurücklag. Sie spürte, wie sich etwas tief in ihr aufbäumte, und im gleichen Moment wußte sie, daß ihre Vermutung über Ulthars mißlungenen Versuch einer Bewußtseinsspaltung richtig gewesen war. Er hatte Melissa nicht von ihr getrennt, sondern nur eine negative Kopie von ihr hergestellt. Das Bewußtsein der Hexe schlummerte immer noch in Vivian, und die bloße Erwähnung Morons hatte ausgereicht, es trotz seines benommenen Dämmerschlafs für einen kurzen Moment voller Panik aufschrecken zu lassen.

Aber das Gefühl verging, ehe Vivian es richtig begreifen konnte. Zurück blieb nur ein dumpfes, bedrückendes Gefühl der Angst.

Masterton stemmte sich mit einem Fluch hoch. »Verschwinden wir von hier«, sagte er dumpf.

Mark nickte ungerührt. »Wenn du weißt, wo der Ausgang ist, gerne.«

»Der ...« Masterton brach ab, sah sich hilflos um und schien erst dann Vivian zu erkennen.

»Erledige das Weib. Und dann machen wir, daß wir wegkommen«, sagte er entschlossen.

Mark schüttelte ruhig den Kopf. »Das hat Zeit, Jonathan.« Er wandte sich an Vivian. »Im Grunde haben wir dir das alles zu verdanken«, sagte er fast freundlich. »Aber wenn Ulthar uns nicht deinetwegen hierher geschickt hätte, hätten wir auch nie unsere geistige Freiheit zurückerlangt. Ich glaube, wir verschieben unsere Meinungsverschiedenheiten besser auf später. Schließen wir einen Burgfrieden, bis wir hier heraus sind?«

Vivian kämpfte gegen den Drang an, hysterisch aufzulachen. Dieser Mann, der aussah wie Mark Taylor, der Mann, den sie mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt liebte, sprach so ungerührt über ihren Tod, als handelte es sich um irgendeine beliebige geschäftliche Transaktion. Was er als Meinungsverschiedenheit bezeichnete, war sein Vorhaben, sie zu töten!

»Ich ... ich ...«

»Laß gut sein, Mädchen«, unterbrach sie Mark. »Wir müssen hier raus, bevor unsere ungehobelten Freunde Verstärkung bekommen. Du kennst nicht zufällig den Ausgang?«

Masterton deutete auf die beiden Gänge. »Versuchen wir es dort.« Er schickte sich an, durch den rechten Höhleneingang zu treten.

»Nein«, sagte Vivian hastig. »Wir müssen den anderen nehmen.«

Mark sah sie abschätzend an. »Wenn du meinst ... Aber wenn du versuchst, uns aufs Kreuz zu legen ... Gehen wir.« Er stieß Vivian zur Seite, zog sein Schwert und trat vorsichtig durch den Nebelvorhang. Masterton folgte ihm, während Vivian den Schluß übernahm. Als sie durch den Vorhang trat, hörte sie hinter sich schwere, klirrende Schritte. Sie hatten sich wirklich keine Sekunde zu früh entschlossen, zu verschwinden.

Mark blieb wenige Zentimeter vor dem Abgrund stehen. Zwischen seinen Brauen entstand eine Falte. »Das sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus«, sagte er nachdenklich. »Weißt du, wo dieser Steg hinführt?«

»Nein.« Vivian schüttelte den Kopf. »Weiter bin ich nicht gekommen.«

»Dann probieren wir es eben aus.« Mark zuckte mit den Achseln, schob sein Schwert in den Gürtel und trat mit schlafwandlerischer Sicherheit auf den schmalen Metallsteg hinaus. »Fühlt sich stabil an«, sagte er, nachdem er ein paar Schritte gegangen und stehengeblieben war. »Kommt schon. Das Ding hält.«

Masterton unterstrich Marks Aufforderung mit einem unsanften Stoß, der Vivian auf die Brücke hinaustaumeln ließ. Sie streckte vorsichtig die Hände nach beiden Seiten aus, um ihr Gleichgewicht zu halten, und balancierte mit halbgeschlossenen Augen über dem Abgrund. Masterton folgte ihr in wenigen Schritten Abstand.

Sie marschierten vorsichtig los. Der Steg schien kein Ende zu nehmen. Nach wenigen Minuten fiel die Steilwand, über der er begonnen hatte, hinter ihnen zurück, während sich das gegenüberliegende Ende irgendwo im Dunst der Entfernung verlor.

Die Wanderung schien sich über Stunden hinzuziehen. Natürlich war sich Vivian darüber im klaren, daß erst wenige Minuten vergangen waren, seit sie durch das Nebeltor gegangen waren, aber es kam ihr so vor, als balanciere sie schon seit einer Ewigkeit auf diesem schmalen, geländerlosen Pfad über das Nichts. Selbst die Zeit schien hier nicht mehr den gewohnten Gesetzen zu gehorchen.

Irgendwann schließlich tauchte eine schlanke, nachtschwarze Steinsäule vor ihnen auf. Ihre Flanken stürzten glatt wie poliertes Glas in die Tiefe, und jedesmal, wenn eine der rasenden Lichtexplosionen, die unter ihren Füßen auf dem Metallband dahinglitten, ihr oberes Ende erreichten, schienen ihre Umrisse für Sekunden zu verschwinden.

Mark beschleunigte seine Schritte, als er das Ende des Steges auftauchen sah. Trotz der unerschütterlichen Ruhe, die er zur Schau trug, schien er erleichtert zu sein, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben.

Sie waren im Zentrum der Kristallfestung.

Im Zentrum des Bösen ...

Der Gedanke erschien mit solcher Wucht in Vivians Bewußtsein, daß sie unwillkürlich aufstöhnte.

Die Plattform war leer bis auf einen schwarzen, achteckigen Block in der Mitte. Über seiner Oberfläche wallte eine unfaßbare, körperlose Bewegung, ein auf und ab wehendes Nichts, brodelnde, reine Bewegung, die das Hemmnis fester Materie gestreift hatte.

Vivian, Mark und Jonathan Masterton gingen zögernd darauf zu.

Vivians Herz begann wild zu schlagen. Der Einfluß des Bösen war hier übermächtig. Die einfache Bewegung, einen Fuß vor den anderen zu setzen, kostete sie ungeheure Überwindung. Mühsam schleppte sie sich zu dem Steinaltar hinüber und starrte ins Zentrum dieser wirbelnden Nicht-Existenz.

Sie hatte den Eindruck, durch ein Loch in der Schöpfung zu schauen. Ihr Blick schien geradewegs in die Unendlichkeit zu fallen, einer Unendlichkeit, die sowohl über die Grenzen des materiellen Universums als auch über die Grenzen menschlichen Begriffsvermögens hinausging. Was sie sah, war keine Lebensform, keine Intelligenz, nichts, das dachte oder auch nur Gefühle und Empfindungen hatte.

Bosheit ...

Die Ablehnung, Verneinung alles Lebenden ...

Das Zentrum des Bösen ...

Dies hier mußte die Quelle aller negativen Kräfte sein, ein winziges Stück der Schöpfung, das zu reiner Schlechtigkeit pervertiert war.

Ein kosmisches Krebsgeschwür ...

Vivian spürte, daß dies nicht allein ihre Gedanken waren, sondern Melissas Bewußtsein sich tief in ihr aufbäumte und sie zwingen wollte, von hier zu fliehen, aber die Gedanken der Hexe kamen dem ziemlich nahe, was sie selbst empfand.

»Da hätten wir ja Ulthars kleines Geheimnis«, sagte Mark leise. Seine Stimme zitterte, und Vivian bemerkte aus den Augenwinkeln, daß er blaß geworden war. Seine Worte durchbrachen die Stille auf seltsam unangenehme Art. Menschen hatten in diesem Reich nichts verloren. Allein ihre Anwesenheit stellte eine Herausforderung dar.

»Du Narr«, erwiderte Vivian ebenso leise. Jedes Wort fiel ihr schwer. »Das hier ... ist nicht Ulthars Werk. Es ist unendlich mächtiger und böser als er. Er ist selbst nur ein Handlanger dieses ... dieses Etwas.«

Mark runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Wir ... wir müssen es zerstören«, fügte Vivian stockend hinzu.

Mark starrte sie ungläubig an. »Du ...du bist verrückt«, stieß er hervor. Auf seiner Stirn perlte Schweiß. »Wie ... wie sollten wir wohl das hier vernichten? Das ist das Zentrum der Kristallfestung, das Herz Morons. Niemand kann ihm etwas anhaben!«

»Bevor ihr weiterstreitet«, sagte Masterton plötzlich, »dreht ihr euch vielleicht zuerst einmal um. Wir bekommen Besuch.«

Vivian und Mark fuhren herum. Über den Steg stürzten Dutzende der riesigen Hornkrieger heran.


Die Tür schwang auf. Grelles, schmerzhaft intensives Licht blendete Mary-Lou. Sie hörte Geräusche, das Scharren eines Stuhles; Schritte. Dann ein leises, meckerndes Lachen.

»Treten Sie ein, meine Herrschaften.«

Sheldon versetzte seinem Gefangenen einen wütenden Stoß, der den Mann zur Seite taumeln ließ, und sprang mit einem Satz durch die Tür. Mary-Lou und Jeremy folgten ihm langsamer.

Das Zimmer war klein; ein rechteckiger, schäbig eingerichteter Raum mit rohen Holzwänden, durch deren Ritzen Sonnenlicht hereinsickerte. Der Fußboden bestand aus nacktem, festgestampftem Lehm, und von der fleckigen Decke blätterte uralter Putz ab. Ein wackeliger Tisch mit einem ebenso altersschwachen Stuhl, ein einzelner, deckenhoher Spiegel und ein schwerer Samtvorhang, der fast eine gesamte Wand in Anspruch nahm, stellten die gesamte Einrichtung dar.

Aber dafür hatte Mary-Lou nicht mehr als einen flüchtigen Blick übrig. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf Ulthar gerichtet. Obwohl sie bisher nicht mehr als den Namen des Magiers gekannt hatte, wußte sie sofort, wen sie vor sich hatte. Der Mann war klein, alt, schmalschultrig und verrunzelt. Er hatte nur einen Arm, wodurch seine Figur seltsam verschoben und unproportioniert wirkte. Trotzdem schauderte Mary-Lou, als sie dem Spiegelmeister gegenüberstand. Der alte Mann strahlte ein ungeheures Selbstbewußtsein aus. Eine knisternde, beinahe faßbare Aura der Macht schien die zerbrechliche Gestalt zu umgeben.

»Auf diesen Moment habe ich gewartet«, zischte Sheldon. Er bewegte sich mit kleinen, tänzelnden Schritten auf Ulthar zu.

Ulthar lächelte unbeeindruckt. »Sie sind voreilig, junger Mann«, sagte er sanft. »Wie so viele Menschen in Ihrem Alter.«

Sheldon stieß die Tür mit einem ärgerlichen Knurren zu und überzeugte sich davon, daß außer Ulthar, Mary-Lou, Jeremy und ihm niemand im Raum war. »Was haben Sie mit Frank gemacht?« fragte er drohend.

»Frank?« Ulthar runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ...«

Sheldon war mit einem einzigen Satz bei ihm. »Du verstehst ganz gut, du verdammtes Ungeheuer. Ich will wissen, wo mein Bruder ist!« Er schüttelte Ulthar wütend und stieß ihn dann grob von sich. Der Magier taumelte zurück, prallte gegen den Vorhang und hielt sich an seinen Falten fest.

Mary-Lou hatte den Eindruck, als ob sich der Vorhang ärgerlich bewegte. Für einen kurzen Moment mußte sie an ein schlafendes Ungeheuer denken, das durch die unsanfte Berührung geweckt worden war.

»Ich will wissen, wo Frank ist«, sagte Sheldon drohend. »Ich gebe dir genau zehn Sekunden Zeit, es mir zu erklären, sonst ...«

In Ulthars Gesicht zuckte ein Muskel. »Sonst?«

Sheldon trat drohend auf ihn zu.

»Bleib stehen!« befahl Ulthar. Im gleichen Moment wurde die Tür, durch die sie hereingekommen waren, erneut geöffnet, und Polizeichef Bender - das Spiegelbild Benders - trat ein. In der Hand hielt er eine Pistole. »Sehen Sie besser ein, daß die Zeit des Heldenspielens vorbei ist«, sagte Ulthar. »Mir ist es egal, ob ihr lebt oder tot seid. Es dürfte nur für euch einen kleinen Unterschied machen.«

Er lächelte dünn und schaute Sheldon an. »Du bist wirklich nur gekommen, weil du glaubst, ich hätte deinen Bruder, du Dummkopf? Denkst du, ich könnte mich an jeden erinnern, der mir in die Falle gegangen ist? Ich habe so viele Sklaven, daß ich von den meisten nicht einmal den Namen weiß, und da soll ich mich ausgerechnet an deinen Bruder erinnern?« Er lachte kalt. »Ihr seid alle drei Narren«, sagte er dann abfällig. »Habt ihr euch wirklich eingebildet, hierher vordringen zu können, wenn ich es nicht will?« Er lachte noch einmal, drehte sich um und ordnete behutsam die Falten des Samtvorhanges. Sheldon entging nicht der besorgte Ausdruck, der dabei über das Gesicht des Magiers glitt.

»Ich gebe zu, daß die Idee nicht schlecht war, die Spiegel zu zerschlagen. Aber mehr als ein Ärgernis war es nicht.« Ulthar sah Sheldon spöttisch an, hakte den Daumen hinter den Gürtel und wies mit einer Kopfbewegung auf den Spiegel, auf dem ein getreues Abbild des Saales zu sehen war. »Mit ein bißchen logischem Nachdenken hättet ihr selbst darauf kommen können«, sagte er beiläufig. »Glaubst du wirklich, du könntest mir ernsthaft Schaden zufügen?« Er deutete auf die Kette in Sheldons Hand. »Weg damit!«

Sheldons Griff löste sich. Die Kette fiel klirrend zu Boden.

»Ich habe euch nur aus einem einzigen Grund hierher kommen lassen«, fuhr Ulthar fort. »Und dieser Grund sind Sie, meine Liebe.« Er fuhr herum, starrte Mary-Lou an und lächelte sein böses, humorloses Schlangenlächeln. »Oder vielmehr etwas, das Sie besitzen.«

Mary-Lou verstand überhaupt nichts mehr. Sie hatte nichts Außergewöhnliches bei sich. Ihre Brieftasche, die normalen Kleinigkeiten, die jeder mit sich herumschleppte, die Wagenschlüssel ... und das sternförmige Medaillon, das sie gefunden hatte, nachdem sie in das Labyrinth vorgedrungen war. Seit sie es eingesteckt hatte, hatte sie es völlig vergessen.

»Sie wissen, was ich meine«, sagte Ulthar. Er trat auf sie zu und streckte die Hand aus. »Geben Sie es mir.«

Mary-Lous Hände bewegten sich fast ohne ihr Zutun. Sie griff in die Tasche und zog das Medaillon hervor.

Der Magier schien zusammenzuzucken, als er den bläulich funkelnden Stein sah. Eine Mischung aus Angst und Faszination verzerrte für einen Moment sein Gesicht. »Das ist ... interessant«, sagte er stockend. »Woher haben Sie es?«

»Gefunden«, antwortete Mary-Lou.

»Gefunden? Wo?«

»Hier. Direkt nachdem ich das Gebäude betreten hatte. Es ... lag auf dem Boden. Jemand muß es verloren haben.«

»Es gehört Vivian Taylor«, sagte Sheldon. Er war verwirrt, jetzt, als er das Amulett sah, erinnerte er sich wieder deutlich, wie sie es gefunden hatten und Mary-Lou es eingesteckt hatte, aber während der ganzen seither verstrichenen Zeit hatte er nicht ein einziges Mal mehr daran gedacht. Fast als hätte das Medaillon nicht gewollt, daß sie sich an seine Existenz erinnerten ...

Ulthar nickte. »Es gehört Vivian«, bestätigte er. »Das also war es. Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, weshalb sie so weit vordringen konnten. Ich hatte das Ding selbst schon einmal, aber anscheinend habe ich seine Kraft falsch eingeschätzt, sonst hätte ich es kaum so leichtfertig wieder aus der Hand gegeben. Geben Sie es mir!«

Auffordernd streckte er die Hand aus. Für einen Moment war seine Aufmerksamkeit ganz auf Mary-Lou und das Medaillon gerichtet.

Diesen Moment nutzte Sheldon aus. Er wußte nicht, was sich hinter dem Samtvorhang befand, aber er erinnerte sich deutlich der Furcht, die er vorhin auf Ulthars Gesicht gesehen hatte, und spürte, daß er dem Geheimnis des Magiers so nah wie nie zuvor war. Mit einem gewaltigen Satz sprang er vor.

Bender schoß.

Der Schuß hallte in der engen Kammer wie Kanonendonner, aber die Kugel verfehlte Sheldon. Dann hatte er den Vorhang erreicht und riß ihn im Fallen mit einem kraftvollen Ruck herunter. Dahinter kam ein riesiger, gebogener Spiegel zum Vorschein und darin ...

Mary-Lou schrie entsetzt auf, aber ihr Schrei ging in Ulthars grellem, angsterfülltem Kreischen unter. Selbst Bender erstarrte, nur Jeremy verschwendete keinen Augenblick damit, in den Spiegel zu schauen, sondern sprang auf den Polizeichef zu und riß ihm die Pistole aus der Hand. Mary-Lou bemerkte es nicht einmal.

In dem Spiegel war brodelnde, durcheinanderwallende Schwärze zu sehen, eine Finsternis, die seltsam stofflich wirkte und Mary-Lou an ein Nest schwarzer, schleimig glänzender und untrennbar ineinander verwobener Schlangen erinnerte.

Sie spürte, wie sich der Stein in ihrer Hand erwärmte und fast begierlich zu pulsieren begann. Sie handelte instinktiv, ohne zu denken, schleuderte das Medaillon mit aller Kraft. Es flog auf den Spiegel zu - und hindurch, mitten hinein in die brodelnde schwarze Masse.

Ein gepeinigter, ohrenbetäubender Schrei ertönte, und nur Sekunden später drang ein gellender, vielstimmiger Aufschrei durch die geschlossene Tür. Ulthar erbleichte, wirbelte herum und starrte entsetzt auf den Spiegel, auf dem die draußen liegende Halle zu sehen war.

Die Spiegel explodierten einer nach dem anderen.

Es war eine Kettenreaktion. Wie bei einer Reihe Dominosteine, die nacheinander umfallen, wenn man den ersten anstößt, fraß sich die Explosion mit unglaublicher Schnelligkeit durch den Saal. Innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte sich das Bild in ein Chaos aus grellen Lichtblitzen und herumwirbelnden Glassplittern. Ein dumpfes Grollen ließ den Boden erbeben, und ein unglaubliches Klirren und Bersten erfüllte die Luft. Das ganze Gebäude schien zu schwanken. Kalk und kleine Steine regneten von der Decke.

Immer noch hing Mary-Lous Blick wie gebannt an dem gebogenen Spiegel. Die Oberfläche hatte sich getrübt; das schwarze Wallen war einem Chaos durcheinanderwirbelnder Farben und Formen gewichen. Dann begann sich allmählich eine riesige Gestalt aus den tobenden Farben herauszuschälen; ein gigantischer, zweieinhalb Meter großer Umriß.

Ulthar wich aufkreischend zur gegenüberliegenden Wand zurück, als das Bild deutlicher wurde. Die Alptraumgestalt entpuppte sich als ein riesiges, schuppenhäutiges Ungeheuer, das nur aus Zähnen, Klauen und hornigen Stacheln zu bestehen schien.

Das Wesen bewegte sich, trat mit einem einzigen Schritt aus dem Spiegel heraus und auf den einarmigen Magier zu, ohne die anderen Menschen auch nur zu beachten. »Du hast versagt!«

Ulthar brach wimmernd in die Knie. »Nein!« kreischte er. »Ich habe nicht ...«

»Schweig!« schrie der Gigant. »Du hast deine Aufgabe nicht erfüllt. Du kennst die Strafe!« Das Wesen streckte einen seiner riesigen, muskelbepackten Arme aus, hob Ulthar wie ein Spielzeug hoch und drehte sich um.

»Nein!« kreischte Ulthar. »Bitte nicht! Es ist noch nicht verloren! Es ist nur ...« Seine Worte gingen in einem spitzen, unmenschlichen Schrei unter, als sich der Griff des Ungeheuers verstärkte.

»Durch deine Schuld sind Menschen in die Kristallfestung vorgedrungen«, dröhnte die Stimme des Giganten. »Die Existenz von Moron selbst ist in Gefahr geraten. Dafür wird dich die schlimmste nur vorstellbare Strafe treffen!«

Dann trat es mit einem einzigen Schritt in den Spiegel hinein und verschwand.

Für einen winzigen Augenblick schien die Zeit stehengeblieben. Ein dumpfes, vibrierendes Grollen ließ den Fußboden erbeben. Der Spiegel wurde blind und überzog sich mit einem Spinnennetz aus Millionen und Abermillionen winziger Risse.

Sheldon war der erste, der sich von seinem Schock erholte. »Raus hier!« brüllte er.

Er wirbelte herum, riß Mary-Lou mit sich und warf sich mit aller Kraft gegen die dünne Holzwand. Die morschen Bretter zersplitterten unter seinem Aufprall. Er stolperte nach draußen, fiel hin und raffte sich mühsam wieder auf. Hinter ihm taumelte Jeremy durch die gezackte Öffnung. Er hatte Bender gepackt und zerrte ihn wie ein kleines Kind hinter sich her.

»Weg!« schrie Sheldon. »Nichts wie weg hier!«

Das gesamte Gebäude erbebte. Krachend lösten sich Balken und Zwischenwände. Das Dach sank ein, stürzte mit einem polternden Dröhnen nach innen und riß einen Teil der Seitenwand mit sich.

Mary-Lou fiel auf die Knie. Blutiger Nebel wallte plötzlich vor ihren Augen. Sie nahm ihre Umgebung nur noch wie durch einen dichten Schleier wahr, glaubte plötzlich überall um sich herum Menschen zu sehen, Hunderte von Menschen. Direkt vor ihr tauchte ein altertümlich gekleideter Mann auf. Auf seinem Gesicht lag ein glückliches Lächeln. Im nächsten Moment brach er vor ihr zusammen.

Das letzte, was Mary-Lou sah, war, wie er in rasender Geschwindigkeit zu altern begann und zu Staub zerfiel, aber sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es wirklich sah, oder ihre überreizten Sinne ihr nur etwas vorgaukelten.

Dann verlor sie endgültig das Bewußtsein.


Mark reagierte mit unglaublicher Kaltblütigkeit. Er fuhr herum, riß die erbeutete Peitsche aus dem Gürtel und schlug damit nach dem vordersten Hornkrieger. Das Wesen schrie auf, verlor das Gleichgewicht und stürzte aufkreischend in den Abgrund.

»Hier!« Mark warf Masterton die Peitsche zu und wirbelte abermals herum. »Halt sie auf.«

»Was hast du vor?«

Mark riß sein Schwert hoch und ließ die Klinge wuchtig auf den schwarzen Altar krachen. Funken stoben auf; ein langer, schartiger Riß entstand in der schimmernden Oberfläche des Blocks, und das wesenlose Wallen schien sich zu verstärken.

»Hilf mir!«

Vivian nickte automatisch, trat neben Mark und stemmte die Waffe, die er ihr zuwarf, mit aller Kraft hoch. Das Schwert war so schwer, daß sie kaum die Kraft aufbrachte, es über den Kopf zu heben, geschweige denn, daß sie es schaffen würde, wuchtig damit zuzuschlagen.

Masterton hieb unablässig mit der Peitsche um sich. Jeder Hieb beförderte zwei, drei der klobigen Gestalten in die Tiefe, aber von hinten drängten unablässig weitere Angreifer nach. Die Wesen schienen keine Angst vor dem Tod zu haben. Und jedesmal, wenn Masterton zu einem neuen Schlag ausholte, drang die Front der Angreifer weiter vor.

Mark verdoppelte seine Anstrengungen, als er sah, wie die Hornkrieger unablässig weiter vordrangen. Sein Schwert schlug eine tiefe, schartige Furche in den Block, riß ganze Steinbrocken heraus und arbeitete sich unablässig tiefer.

Aber er war zu langsam.

Hinter seinem Rücken erscholl ein gellender Schrei. Er fuhr herum und sah gerade noch, wie Masterton unter dem Gewicht eines der Riesen zu Boden ging.

Dann waren die Hornkrieger heran.

Mark durchbohrte den vordersten Angreifer mit seinem Schwert, trat einem zweiten die Beine unter dem Körper weg und parierte einen Schwerthieb, ehe auch er unter der Menge der Angreifer wie unter einer lebendigen Welle begraben wurde.

Drei, vier der Bestien drangen mit wütenden Schreien auf Vivian ein. Sie wich zurück, entging einem fürchterlichen Fausthieb nur um eine Haaresbreite und stolperte hinter den Altar. Gigantische Hände griffen nach ihr.

Messerscharfe Krallen zerfetzten den Stoff ihrer Jacke und gruben sich tief in ihr Fleisch.

Vivian stöhnte. Noch einmal gelang es ihr, sich loszureißen und zurückzutaumeln. Ein Stück ihrer Jacke blieb in den Klauen des Hornkriegers zurück, der damit nicht gerechnet hatte. Einen Moment lang ruderte er haltlos mit den Armen, dann stürzte er rücklings in den Abgrund.

Und dann war es plötzlich vorbei. Von einer Sekunde auf die andere erstarrten die Hornkrieger zur Reglosigkeit.

Irgendein bläulich schimmernder Gegenstand kam aus dem Nichts herangeflogen, streifte den Rand des schwarzen Wallens und riß es entlang seiner Flugbahn auseinander, bevor es dicht vor Vivian zu Boden prallte. Instinktiv stellte sie einen Fuß vor und hielt es auf, bevor es über die Kante rutschen und in den Abgrund fallen konnte. Erst als sie sich nach dem Ding bückte, erkannte sie, daß es sich um ihr Amulett handelte.

Vivian vergeudete keine Zeit damit, sich zu fragen, wie es hierhergekommen war. Sie hob es auf und wog es ein paar Sekunden lang in der Hand. Der Stein war fast schmerzhaft heiß und pulsierte wild.

Sie schaute wieder zu dem Altar. Das Wallen war schneller geworden, hektischer - und angsterfüllt, wie es Vivian schien. Sie hatte deutlich gesehen, wie das Amulett die Schwärze, dort, wo es sie berührt hatte, auseinandergerissen hatte.

Mark hatte sich von dem Gewicht der regungslosen Hornkrieger befreit und taumelte heran. »Was ...«

Vivian beachtete ihn nicht. Sie zögerte noch einen kurzen Moment, dann schleuderte sie das Amulett mit aller Kraft auf den Altar zu. Es überschlug sich in der Luft und landete genau im Zentrum des schwarzen Wallens.

Ein ungeheurer, wütender Aufschrei zerriß die Luft.


Grellrotes Licht pulsierte aus dem Abgrund herauf. Gewaltige Flammen loderten in die Höhe. Die Brücke zerbrach, regnete in einem Hagel von Trümmerstücken in die Tiefe und riß Dutzende der Hornkrieger mit sich.

Der Altar schien zu verschwimmen. Das schwarze wesenlose Wallen wurde rot, dann weiß und verwandelte sich schließlich in einen grellen, ungeheuer heißen Glutball. Vivian sah, wie der Stein Feuer fing und brannte, wie sich der Boden unter ihren Füßen in rotglühende Lava verwandelte, aber sie verspürte keinen Schmerz.

Im nächsten Moment neigte sich das Plateau, auf dem sie, Mark und Masterton standen, zerbrach und stürzte in die bodenlose Tiefe, aber noch während sie stürzte, wurde die Welt um Vivian herum unwirklich, begann sich aufzulösen, und dann ...


Die Jalousien waren halb heruntergelassen. Der Licht der Nachmittagssonne fiel in Streifen durch die Ritzen zwischen dem weißen Kunststoff und zeichnete ein geometrisches Muster aus Hell und Dunkel auf die Tischdecke.

Vivian Taylor blickte nachdenklich in ihr Champagnerglas, nippte daran, und stellte es dann vorsichtig auf den Tisch. Ihre Finger folgten unbewußt den goldenen Linien, die das Sonnenlicht auf das Leinen des Tischtuches malte. Erst dann sah sie wieder auf und ließ ihren Blick der Reihe nach über die Gesichter der anderen fünf Personen im Raum gleiten.

Mary-Lou und Jeremy Cramer, Jonathan Masterton, Sheldon und natürlich Mark. Sie waren die einzigen, die sich an alles erinnerten. Mark, Masterton und sie selbst, weil sie auf der anderen Seite gewesen waren, und die anderen drei, weil sie sich als einzige normale Menschen in Ulthars Spiegelkabinett befunden hatten.

Vivian hatte sich gründlich ausgeschlafen, und zum ersten Mal seit über einer Woche hatte der Alptraum von Melissas Sturz aus dem Hochhaus sie nicht gequält. Sie hatte Vivian überzeugt, daß dies auch nie wieder geschehen würde. Auch das war endgültig vorbei.

Ein Tag war verstrichen, seit sie aus der Spiegelwelt zurückgekehrt war, auf eine Art, die sie selbst nicht verstand. Ihre Erinnerung reichte nur bis zu dem Punkt, an dem das Plateau mit dem Altar darauf in die Tiefe gestürzt war und sie das Bewußtsein verloren hatte. Als sie wieder aufgewacht war, hatte sie sich wieder auf Coney Island befunden, und nicht nur sie, wie Jeremy Cramer ihr inzwischen berichtet hatte. Nach der Vernichtung der Spiegel waren auch die darin gefangenen Menschen wieder befreit worden. Seit sie in Ulthars Falle geraten waren, hatte die Zeit für sie aufgehört zu existieren, doch nach der Zerstörung der Spiegel hatte sie sich mit einem Schlag zehnfach zurückgeholt, was ihr zustand. Für die Menschen, die bereits seit Jahrzehnten Ulthars Gefangene gewesen waren, war es keine Befreiung geworden, nur eine Erlösung. Sie waren binnen weniger Sekunden zu Staub zerfallen. Vivian war froh, daß ihr dieser Anblick erspart geblieben war.

Die anderen - und es waren immer noch Hunderte gewesen - viele davon Gäste von Conellys Empfang - hatten das Bewußtsein verloren. Cramer hatte dafür gesorgt, daß sie unverzüglich in Krankenhäuser gebracht wurden. Mittlerweile hatten sie das Bewußtsein wiedererlangt und waren bis auf einige wenige, die beim Zusammenbruch des Kabinetts leichte Verletzungen davongetragen hatten, unversehrt. Wie sich inzwischen herausgestellt hatte, hatten sie jedoch alle keine Erinnerung mehr an die schrecklichen Ereignisse, die mit Ulthar in Zusammenhang standen. Auch Frank Porter, Sheldons Bruder, befand sich unter ihnen.

Bedrücktes Schweigen hing im Raum. Obwohl die Hotelsuite groß und weitläufig war, fühlte sich Vivian beengt. Sie stand auf, ging ans Fenster und zog die Kunststofflamellen ein wenig auseinander, um hinuntersehen zu können. Der Verkehr brauste wie jeden Tag über die überfüllten Straßen Manhattans. Nichts schien sich verändert zu haben; das Leben ging seinen gewohnten Gang, als hätte es die ganzen schrecklichen Geschehnisse nie gegeben.

Sie drehte sich wieder um. »Wir sind Ihnen wohl zu großem Dank verpflichtet, Mister Cramer«, sagte sie.

Der FBI-Direktor lächelte. Er wirkte um Jahre gealtert. Auch sein Weltbild war völlig auf den Kopf gestellt worden, und er schien sich auch jetzt noch nicht völlig von den Schrecken erholt zu haben, die er erlebt hatte. Zugleich sah er müde aus. Kein Wunder bei allem, was er allein in den vergangenen vierundzwanzig Stunden geleistet hatte. Vermutlich hatte er noch keine Minute geschlafen.

»Was ich getan habe, war nur meine Pflicht«, wiegelte er ab. »Ich glaube, wir alle schulden Ihnen ungleich größeren Dank. Ohne Sie wäre wohl keiner von uns mehr am Leben.«

»Was ich getan habe, war purer Selbsterhaltungstrieb«, gab Vivian im gleichen Tonfall zurück und lächelte ebenfalls. »Wenn Sie nicht so schnell und entschlossen gehandelt hätten, gäbe es für uns wohl keine ruhige Minute mehr, und wahrscheinlich würden wir alle in der Klapsmühle landen.«

»So wie Susan Conelly«, sagte Cramer ernst. »Sie hatte keine Ahnung vom Doppelleben ihres Mannes und erlitt einen Nervenzusammenbruch, als wir in die unterirdischen Gewölbe unter seinem Haus eindrangen. Jetzt befindet sie sich in einem Sanatorium.«

Vivian konnte es sich gut vorstellen, nach allem, was Cramer ihr über die grausamen Funde in den Katakomben erzählt hatte. Er war mit einer speziell ausgesuchten Elitetruppe des FBI in die Gewölbe vorgedrungen. Offenbar waren mit dem Tod des Monstermachers auch seine Kreaturen gestorben, aber es mußte ein langsamer und qualvoller Tod gewesen sein. Zum Schluß waren die Ungeheuer übereinander hergefallen und hatten sich gegenseitig zerfleischt, nachdem sie zuvor von unglaublichem Haß getrieben die Einrichtung der Katakomben kurz und klein geschlagen hatten.

»Conellys Geheimnis wird wohl für immer ungelöst bleiben«, fuhr Cramer fort. »Wir haben zwar die Überreste zahlreicher sonderbarer Apparaturen gefunden, aber es lassen sich keine Schlüsse mehr ziehen, ob es ihm auf wissenschaftlichem Weg gelungen ist, Menschen in diese ... diese Ungeheuer zu verwandeln, oder ob es sich doch um eine Form der ... Magie handelt.«

Vivian entging nicht das kurze Stocken Cramers bei dem Wort Magie. Es fiel ihm immer noch schwer, sich damit abzufinden, daß es diese übernatürlichen Kräfte gab. »Vielleicht ist es auch besser, wenn dieses Geheimnis niemals gelöst wird«, murmelte sie.

»Die Monster selbst bieten auch keine Anhaltspunkte«, fuhr Cramer ungerührt fort. »Nach ihrem Tod haben sie sich wieder in Menschen zurückverwandelt. Ich habe die Leichen bereits fortbringen lassen. Es ist besser, wenn die Öffentlichkeit nichts davon erfährt. Der Skandal, den es gäbe, wenn herauskäme, daß der Bürgermeister von New York mehr als hundert Menschen umgebracht und in seinem Keller versteckt hat, würde nur die öffentliche Ordnung gefährden. Allerdings sind einige Gerüchte durchgesickert, obwohl ich sofort eine Pressesperre verhängt habe. Die Medien werden wohl noch eine Weile herumrätseln, aber die Aufregung wird sich bald legen. Was allerdings meine Vorgesetzten betrifft, so werde ich wohl noch einige Schwierigkeiten bekommen, die Wahrheit zu verheimlichen.«

»Ich möchte diesen Alptraum nur noch so schnell wie möglich vergessen«, murmelte Mary-Lou.

»Vielleicht war es auch nur genau das, ein besonders schlimmer Alptraum«, sagte Sheldon ohne rechte Überzeugung.

Vivian lächelte. »Den wir alle zugleiche geträumt haben?« Sie schüttelte den Kopf, ging zum Tisch zurück und ließ sich seufzend in den Sessel fallen.

»Dieses Moron«, sagte Sheldon und schaute sie an. »Glauben Sie, daß es ... vernichtet wurde?«

Vivian zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich. »Aber das spielt auch keine Rolle mehr. Nachdem die Spiegel vernichtet sind, kann es uns nicht mehr gefährlich werden.«

»Zumindest, solange sich nicht wieder jemand wie Ulthar findet, der fanatisch genug ist, sich auf einen solchen Pakt einzulassen«, fügte Mary-Lou leise hinzu. »Aber, wie gesagt - ich möchte diese schrecklichen Tage einfach nur noch vergessen. Ich bin auch nur mitgekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden.«

»Genau wie ich«, ergänzte Sheldon. »Durch Sie wurde mein Bruder gerettet, dafür wollte ich Ihnen danken. Sie wollen wirklich schon morgen fliegen?«

Mark nickte. »Sogar schon in aller Frühe. Durch die Flugdauer und die Zeitverschiebung werden wir trotzdem erst nachmittags in England eintreffen. Sie werden sicherlich verstehen, daß wir nach allem, was geschehen ist, so schnell wie möglich nach Hause wollen, da diese schrecklichen Erlebnisse nun endlich vorbei sind.«

Er wechselte einen raschen, unauffälligen Blick mit Vivian. Außer ihr wußte Mark als einziger, daß es noch nicht vorbei war. Genau wie Jonathan Masterton war auch er nach der Zerstörung der Spiegel wieder mit seinem Abbild verschmolzen, da er jedoch in der Spiegelwelt schon nicht mehr Ulthars Einfluß unterstanden hatte, besaß er auch die Erinnerungen daran.

Was Vivian aber beunruhigte, war die Frage, was aus Melissas negativem Spiegelbild geworden war. Es war nicht wieder mit ihr verschmolzen, und sie glaubte nicht daran, daß es vernichtet war. Eine Stimme tief in ihrem Inneren sagte ihr, daß es immer noch lebte. Vielleicht stand ihr der gefährlichste Teil dieses Kampfes noch bevor.

Aber es hatte keinen Sinn, auch noch die anderen mit diesen Gedanken zu ängstigen. Sie hatten damit nichts mehr zu tun. Wenn Melissa noch lebte, dann handelte es sich um eine Angelegenheit, die nur sie beide betraf, höchstens noch Mark. Und Vivian wußte auch, daß die finale Auseinandersetzung nicht hier in New York stattfinden würde, sondern in England.

»Natürlich verstehen wir das alle«, ergriff Jonathan Masterton das Wort. »Ich hoffe jedoch, daß ihr New York nicht nur in schlechter Erinnerung behaltet. Ihr wißt ja, gemeinsam durchlebte Gefahren schmieden Freundschaften besser als alles andere, und nachdem wir diese Gefahren siegreich gemeistert haben, werden wir uns schon allein aufgrund unserer geschäftlichen Zusammenarbeit in Zukunft noch oft sehen.« Er zwinkerte Vivian zu. »Beim nächsten Mal komme ich zu euch, dann könnt ihr mir die Gespenster und Dämonen zeigen, für die England so berühmt ist. Wäre doch gelacht, wenn wir mit denen nicht auch fertig würden.« Er hob sein Glas. »Trinken wir darauf, daß wir uns bald alle wiedersehen.«

Genau wie die anderen hob auch Vivian ihr Glas und trank einen Schluck Champagner.

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