23

Ulthar hatte die Fluchtversuche der drei Menschen in allen Einzelheiten verfolgt. Sein magischer Spiegel zeigte ihm alles, was irgendwo in den endlosen Gängen des Labyrinths geschah, so deutlich, als wäre er unmittelbar dabei. Ein geringschätziges Lächeln spielte um seine Lippen, als er die beginnende Panik in Sheldon Porters Augen sah. Die beiden Eindringlinge hatten den einzigen Weg gefunden, auf dem man seine Sklaven vernichten und die gefangenen Seelen befreien konnte. Aber sie waren dumm - so dumm wie fast alle Menschen, denen Ulthar in seinem Leben begegnet war. Sie hatten den Ausweg praktisch vor Augen gehabt, aber alles, woran sie dachten, war ihre kleinliche Rache.

Er bewegte die Hand, und der Spiegel wurde blind. Ulthar hatte dringendere Probleme, als die drei Menschen. Er würde sich später mit ihnen beschäftigen, wenn sie nicht bis dahin durch ihre eigene Dummheit schon den Tod gefunden hatten.

»Sind Mark Taylor und die anderen schon zurück?« fragte er leise.

Melissa schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie haben die Spur Vivian Taylors aufgenommen. Aber es scheint ... Schwierigkeiten zu geben.« Die merkliche Pause vor dem Wort Schwierigkeiten ließ den Magier aufhorchen. »Vivian ist weiter in den verbotenen Bereich vorgedrungen, als wir angenommen haben«, sagte Melissa knapp. Ihre Stimme klang vollkommen emotionslos.

Ulthar schluckte einen Fluch herunter und wandte sich ab. Er begann allmählich zu begreifen, daß er Vivian Taylor unterschätzt hatte. »Sie darf auf keinen Fall die Kristallfestung erreichen.«

Melissa schüttelte den Kopf. »Das wird nicht geschehen, Herr.«

Ulthar lachte humorlos. »Ich hoffe es.« Er begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen.

»Was ist mit Conelly?«

Melissa lächelte kalt. »Er scheint begriffen zu haben, daß er machtlos gegen uns ist. Zumindest sind keine Anzeichen von irgendwelchen Aktivitäten ...«

»Du unterschätzt ihn«, fuhr ihr Ulthar ins Wort. »Wenn wir uns auch nur die geringste Blöße geben, schlägt er zu.« Er blieb stehen, donnerte wütend auf die Tischplatte und fuhr herum. Die Dinge nahmen im Moment eine Entwicklung, die ihm ganz und gar nicht paßte. Vivian Taylor war gegen alle Erwartungen entkommen - schlimmer noch, sie hatte den einzigen Ort erreicht, von dem aus sie ihm wirklich gefährlich werden konnte.

Die Welt, in der sie sich befand, war weit mehr als nur eine spiegelverkehrte Ausgabe der Realität. Diesen Teil ihrer Existenz verdankte sie nur einem Zufall, ein reiner Nebeneffekt der Experimente mit den Spiegeln, eine Staffage, die auch nicht länger als ein paar Jahrzehnte Bestand haben würde. Aber es war die Welt, in der seine Spiegel erschaffen worden waren und aus der sie ihre Kraft bezogen.

Moron ...

Ulthar wußte aus eigener Erfahrung, daß die Kristallfestung von Moron praktisch uneinnehmbar war. Aber er wußte auch, daß schon mancher große Feldherr oder Verschwörer über scheinbare Kleinigkeiten gestürzt war. Die Geschichte von David und Goliath mochte frei erfunden sein, aber sie hatte einen wahren Kern. Der tödlichste Fehler, den man überhaupt begehen konnte, war, seinen Gegenspieler zu unterschätzen.

»Oder ihn überschätzen«, sagte Melissa in Vivians Gestalt.

Ulthar sah überrascht auf. »Du ... liest meine Gedanken?«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über das ebenmäßige Gesicht der Hexe. »Nein, das kann selbst ich nicht. Aber es war leicht, Ihre Gedanken zu erraten.«

Für einen kurzen Moment glaubte Ulthar, einen spöttischen Unterton in Melissas Stimme zu hören, aber natürlich war das Unsinn. Das Spiegelwesen unterstand seiner Herrschaft vollkommen, in stärkerem Maße noch als all die anderen Menschen, die er im Laufe der Jahre in seinen Spiegeln gefangen hatte. Ulthar schauderte unwillkürlich, als er daran dachte, was geschehen könnte, wenn seine Macht eines Tages versagte. Keine Gewalt des Universums wäre fähig, diese Horde des personifizierten Bösen noch aufzuhalten. Aber das würde höchstens geschehen, wenn er einmal sterben sollte, und was dann passierte, konnte ihm gleichgültig sein.

Aber etwas an Melissas Verhalten irritierte ihn. Sie schien an Eigenständigkeit und Individualität zu gewinnen, seit sich Vivian Taylor in Moron aufhielt, dem einzigen Ort, an dem seine Macht erlosch. Möglich, daß Vivians Anwesenheit dort eine ähnliche Wirkung hatte wie ihre Gefangenschaft in einem seiner Spiegel. Melissa - das geistig unterentwickelte Ebenbild Melissas, das vor ihm stand - entwickelte sich nicht zu ihrem früheren Charakter, sondern in eine Richtung, die wie bei seinen übrigen Sklaven eher den negativen Eigenschaften des Originals entsprach. Dadurch wurde sie für ihn nicht nur nutzlos, sondern möglicherweise sogar gefährlich. Die geplante Bewußtseinsspaltung schien gründlicher mißlungen zu sein, als er bislang angenommen hatte. Befand sich Vivian Taylor erst einmal in seiner Gewalt, würde er diese Kopie Melissas vernichten und noch einmal ganz von vorne anfangen müssen.

Melissa bewegte sich unruhig, und obwohl sie es bestritten hatte und diese Kraft auch früher nicht besaß, war sich Ulthar nicht sicher, ob sie nicht doch in der Lage war, bis zu einem gewissen Grad seine Gedanken zu lesen, sie zumindest zu ahnen. Er begann sich immer unwohler in ihrer Gegenwart zu fühlen. Selbst für ihn, ihren Schöpfer, war es ein gespenstischer Anblick, die schlanke Frau vor dem Spiegel entlanggehen zu sehen, ohne daß ihr Spiegelbild auf der silbernen Fläche erschien. Ihm blieb nicht mehr sehr viel Zeit. Wenn dieses Wesen, das nicht Melissa, sondern nur eine Personifizierung ihrer und Vivian Taylors negativer Eigenschaften darstellte, weiterhin an freiem Willen gewann, würde es sich möglicherweise gegen seine Vernichtung wehren und vielleicht sogar gegen ihn wenden. Um so dringender wurde es für ihn, Vivian Taylor schnell in seine Gewalt zu bekommen.

Ulthar atmete hörbar ein. »Wir können nicht mehr länger warten«, entschied er. »Du wirst Mark und den anderen folgen und ihnen helfen, Vivian Taylor zu fangen.« Auf diese Art steigerte er die Erfolgsaussichten der Gruppe und befreite sich gleichzeitig für eine Weile von Melissas Gegenwart. Sobald sie den Auftrag ausgeführt hatte, würde er sie töten und noch einmal neu erschaffen.

Melissa lächelte. Es war ein seltsames, undefinierbares Lächeln, das sowohl Zufriedenheit als auch boshafte Vorfreude ausdrücken konnte. »Wie Ihr befehlt, Meister.« Sie drehte sich um und ging mit steifen Schritten aus dem Raum.

Ulthar starrte die geschlossene Tür noch lange an, nachdem Melissa gegangen war. Er verspürte eine innere, nicht zu erklärende Unruhe. Obwohl er sich dagegen wehrte, wanderte sein Blick wieder zu dem deckenhohen, dunkelroten Samtvorhang, der fast die ganze Ostseite des Raumes beanspruchte. Die Falten schienen sich zu bewegen. Es war keine sichtbare Bewegung, sondern irgend etwas außerhalb des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, eine dumpfe, rein gefühlsmäßige Unruhe, die unter der Oberfläche des Sichtbaren zu brodeln schien.

Ulthar schauderte. Die Herren von Moron duldeten kein Versagen. Vielleicht hatte er schon zu viele Fehler gemacht ...

Er fuhr herum, lief aus dem Raum und warf die Tür hinter sich zu.

Als er gegangen war, bewegte sich der Vorhang. Für einen Moment klafften die beiden Hälften auseinander und gaben den Blick auf eine unglaublich fremde und bizarre Welt frei. Ein seltsamer, klagender Ton wehte herein, ein Geräusch, als streiche der Wind durch einen verzauberten Kristallwald. Es klang wie ein böses Lachen.


Vivian hatte jedes Wort verstanden, das Mark gesagt hatte. Sie sah, wie Masterton bis zur Straßenmitte zurückwich und stehenblieb. Von dort aus hatte er sämtliche Häuser auf dieser Straßenseite im Blick. Die anderen machten sich unter Marks Führung daran, die Gebäude zu durchsuchen.

Vivian gab sich keinen Illusionen hin - sie hatte schon mehrmals Kostproben der übermenschlichen Kraft dieser Wesen bekommen. Sie hatten sich mit dem Übergang in diese Welt verändert, ihren freien Willen wiedergewonnen, aber das änderte nichts an ihrer Stärke und machte sie eher noch gefährlicher. Der Mark Taylor, der die kleine Gruppe anführte, war nicht ihr Mann. Auch wenn er jetzt nicht mehr unter Ulthars Einfluß stand, war er immer noch nur ein Spiegelbild, in dem sämtliche negativen Charaktereigenschaften des echten Mark die Oberhand gewonnen hatten. Es war eine Kreatur, die eiskalt nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht war.

Bisher war sie Ulthars Nachstellungen nur entkommen, weil der Magier darum bemüht war, sie unbeschadet in die Hände zu bekommen. Mark hingegen verfolgte ein anderes Ziel, und er würde sich dabei von keinerlei Skrupel oder Rücksichtnahme beirren lassen.

Sie mußte weg.

Noch einmal sah sie sich um, aber es gab keinen Ausgang. Die Wand hinter ihr war glatt und fugenlos, rechts und links davon war nichts außer abgrundtiefer Schwärze und tödlicher Kälte und über ihr ... Sie drehte sich um, drückte die Tür lautlos ins Schloß und sah nach oben. Über ihrem Kopf war die gleiche wesenlose Schwärze wie ringsum, aber die Stirnwand des Raumes ging für die Länge von etwa einem Meter in eine rauhe, unverputzte Decke über, um dann wie abgeschnitten aufzuhören - das Stück Decke, das irgendwann einmal in einem Spiegel zu sehen gewesen war.

Vivian zögerte nicht länger. Sie lief mit zwei, drei schnellen Schritten durch den Raum, federte kurz in den Knien ein und sprang dann mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Beim dritten Versuch bekam sie die Kante des Deckenstückes zu fassen. Sie klammerte sich verzweifelt fest, konzentrierte sich und zog sich mit aller Kraft hinauf.

Hinter ihr ertönte ein wütender, enttäuschter Schrei. Graue Helligkeit strömte in den Raum, als die Tür wuchtig aufgestoßen wurde, und im Eingang erschien einer von Marks Begleitern.

Vivian verdoppelte ihre Anstrengungen, hinaufzukommen. Es war eine phantastische, bizarre Art des Aufstiegs - ihre Finger schienen sich da, wo sie über die Bruchkante hinausgriffen, aufzulösen. Aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. In einem verzweifelten Versuch ließ sie die Bruchkante mit der Rechten los und griff blind in das unsichtbare Nichts über ihr hinein. Ihre Hand verschwand bis zum Ellbogen, als sie hinaufgriff, aber sie bekam etwas Hartes zu fassen und zog sich blitzschnell hinauf.

Eine Hand griff nach ihrem Fußgelenk und zerrte daran. Vivian schrie vor Schmerz und Erschrecken auf und trat in blinder Angst um sich. Ihr Fuß trat auf etwas Weiches. Der Griff um ihr Fußgelenk löste sich. Der Mann taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit wild rudernden Armen ins Nichts. Sein Schrei schien endlos in Vivians Ohren zu gellen.

Eine zweite Gestalt erschien im hellen Rechteck der Tür. Es war Mark.

»Vivian! Bleib stehen!« rief er.

Vivian zog sich mit einem entschlossenen Ruck höher, in die Schwärze hinein. Ihre Arme waren jetzt bis zu den Ellbogen verschwunden. Es sah aus, als löse sich ihr Körper Stück für Stück auf.

»Vivian! Bleib hier!« brüllte Mark noch einmal. »Ich will dir helfen!« Er rannte mit träum wandlerischer Sicherheit über den schmalen Grat auf sie zu, griff nach ihren Beinen und bezahlte diesen Versuch mit einem schmerzhaften Tritt auf die Finger.

Vivian nahm all ihren Mut zusammen und zog sich nach oben. Sie spürte absolut nichts, als sie durch die unsichtbare Barriere glitt, aber dann wurde es vor ihren Augen plötzlich wieder hell. Sie befand sich in einem hohen, altmodisch eingerichteten Raum, durch dessen Fenster graues Zwielicht sickerte.

Rasch zog sie sich vollends nach oben, rollte über den weichen Teppich und blieb einen Herzschlag lang schweratmend liegen. Sie versuchte erst gar nicht, das Unerklärliche zu erklären. Offensichtlich waren die Naturgesetze ihrer Welt hier außer Kraft gesetzt. Alles, was je in einem Spiegel abgebildet worden war, war hier vorhanden. Räume, die scheinbar schwerelos im Nichts schwebten, jäh aufklaffende Abgründe, blinde Flecken in der Schöpfung, hinter denen das Nichts lauerte ... alles war möglich. Und sie wußte nun, daß es möglich war, das Nichts unbeschadet zu durchqueren, wenn es dahinter einen festen Halt gab.

Sie stand auf, trat ans Fenster und sah hinaus. Die Gestalt Jonathan Mastertons stand immer noch auf der Straße vor dem Haus. Sie sah, daß er sich heftig gestikulierend mit jemandem außerhalb ihres Gesichtsfeldes unterhielt und dann abrupt zu ihr hinaufsah.

Die Sicherheit, in der sie sich im Moment befand, trog. Wenn sie einen Weg gefunden hatte, hier hinaufzugelangen, dann würden ihre Verfolger diesen Weg bald ebenfalls finden. Sie fuhr herum, lief zur Tür und sah vorsichtig auf den Korridor hinaus. Auch der Gang war nur halb vorhanden. Die linke Wand und ein keilförmiger, nach hinten schmaler werdender Streifen des Fußbodens waren da, während ihr auf der rechten Seite die gleiche, angsteinflößende Schwärze wie unten entgegengähnte.

Vivian drückte sich eng gegen die Wand und ging vorsichtig los. Ihr Inneres war in hellem Aufruhr. Sie spürte den Boden unter den Füßen, und ihr Verstand sagte ihr, daß er fest war und ihr Gewicht trug. Aber ihre Augen signalisierten ihr, daß sie sich über einem endlosen Abgrund bewegte und der Boden jeden Augenblick unter ihrem Gewicht nachgeben konnte. Sie hatte einmal eine Geschichte über eine Brücke gelesen, die nur existierte, solange man fest an ihre Existenz glaubte, die sich aber in Nichts auflöste, sobald man an ihrer Tragfähigkeit zu zweifeln begann. Vivian verdrängte diesen Gedanken rasch wieder.

Sie erreichte die Biegung des Ganges. Der Korridor dahinter schien vollkommen erhalten zu sein. Vivian bleib einen Augenblick lang stehen und sah sich unschlüssig um. Von ihren Verfolgern war nichts zu sehen, aber es konnte nur noch Sekunden dauern, ehe sie auftauchten.

Es mußte einen Weg aus diesem Haus geben! Sie lief zögernd bis zur Treppe und blieb abermals stehen. Die Stufen führten steil in die Höhe. Sie dachte plötzlich daran, wie grausam verändert die Fassade des Hauses dort oben von außen ausgesehen hatte, aber ihr blieb keine andere Wahl, als diesen Weg einzuschlagen.

Von panischer Angst getrieben, begann sie die Stufen emporzusteigen. Es blieb ihr erspart, in die oberen Stockwerke des Hauses vorzudringen, allerdings auf eine ganz andere Art, als sie sich erhofft hatte. Sie kam genau zwei Stockwerke hoch, dann endete die Treppe ein Stück über ihr abrupt, und zu allem Überfluß, konnte sie unter sich bereits gedämpfte Stimmen und die polternden Schritte ihrer Verfolger hören.

Wahllos stürzte sie durch eine der Türen, die sie in einem seitlich abzweigenden Korridor entdeckte. Das Zimmer dahinter schien ein genaues Duplikat des Raumes im Erdgeschoß zu sein, durch den sie in dieses irrsinnige Gebäude gelangt war: ein schmaler, keilförmiger Streifen festen Bodens, der in ein vielleicht anderthalb Meter breites Wandstück überging. Rechts und links davon war nur Schwärze.

Vivian Taylor fluchte lautlos vor sich hin. Sie hatte sich selbst in eine Falle hineinmanövriert. Die Schritte hinter ihr waren bereits zu nah, als daß ihr noch die Zeit blieb, ihr Versteck zu verlassen und sich nach einem anderen umzusehen. Mit klopfendem Herzen preßte sie sich in den toten Winkel zwischen Tür und Wand, den einzigen schmalen Streifen festen Bodens, den man von außen nicht einsehen konnte.

»Sie muß hier irgendwo sein«, hörte sie Marks Stimme durch die dünne Trennwand dringen. »In einem dieser Zimmer. Ich habe ihre Schritte genau gehört.«

»Und wenn sie weiter die Treppe hinauf gegangen ist?« ertönte eine andere Stimme.

Mark lachte rauh. »Sie besitzt zwar ein paar besondere Fähigkeiten, aber fliegen kann sie noch nicht«, sagte er spöttisch. »Die Treppe hört da hinten auf. Also los, worauf wartet ihr noch? Durchsucht die Zimmer.«

Schritte näherten sich. Vivian hörte, wie die Tür zum Nebenzimmer aufgestoßen wurde. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, bis ihre Verfolger hier waren, und diesmal würde sie ihnen nicht noch einmal entkommen. Mark würde ihr keine zweite Chance geben, und der winzige, nur wenige Quadratmeter große Bodenstreifen, der sich wie eine Brücke über dem bodenlosen Nichts spannte, bot nicht einmal ein Versteck, hinter dem sich eine Maus hätte verbergen können.

Die Schritte kamen noch näher, dann wurde die Türklinke energisch heruntergedrückt.

Vivian reagierte, ohne zu denken. Ihre Finger griffen nach der Türkante, gleichzeitig suchte sie mit den Fingerspitzen an den aufgesetzten Zierleisten nach Halt. Als die Tür nach innen schwang, klammerte sich Vivian mit Finger- und Zehenspitzen daran fest. Sie begriff erst jetzt wirklich, was sie tat, aber es war zu spät, um noch abzuspringen. Die Tür schwang in einem Halbkreis auf und glitt über die scharf abgezirkelte Bodenkante hinaus ins Nichts. Vivian schloß die Augen und klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an den winzigen Vorsprüngen fest.

Ein dunkler, durch das schräg einfallende Licht bizarr verzerrter Schatten erschien unter der Tür. »Hier ist sie nicht.«

»Aber sie muß hier irgendwo sein!« protestierte Mark vom Korridor aus. »Es gibt nur diese sechs Türen. Sie muß hier irgendwo in der Nähe sein.«

Der Schmerz in Vivians Fingern wurde unerträglich. Sie spürte, wie ihre Kraft mit jeder Sekunde nachließ. Sie öffnete die Augen, sah nach unten und stöhnte lautlos, als ihr Blick in die bodenlose Tiefe fiel.

»Aber das gibt es doch nicht! Sie ...«

»Sie wird tot sein«, fiel ihm eine andere Stimme ins Wort. »Es gibt keinen zweiten Ausgang. Wenn sie hier irgendwo wäre, hätten wir sie erwischt. Sie muß abgestürzt sein. Das ist die einzige Erklärung.«

Vivian betete lautlos, daß Mark die Erklärung akzeptieren würde. Sie wußte, wie stur er sein konnte, und es gab keinen Grund, anzunehmen, daß sein Doppelgänger ihm in dieser Beziehung nachstehen sollte.

»Verschwinden wir von hier. Wir vergeuden unsere Zeit«, sagte die fremde Stimme. Im gleichen Augenblick tönte von der Straße ein markerschütternder Schrei herauf. »Verdammt, das ist Masterton. Ich habe dir gesagt, daß mir die Gegend nicht geheuer ist. Laß uns verschwinden.«

»Ihr bleibt hier«, sagte Mark dumpf. »Ich gehe hier nicht eher weg, bis ich Vivian habe. Sie oder ihre Leiche.«

Vivian spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Sie würde sich nur noch wenige Sekunden lang halten können.

»Du kannst ja bleiben, wenn es dir Spaß macht«, antwortete die gleiche aggressive Stimme, die Mark schon einmal widersprochen hatte. »Ich verschwinde jedenfalls von hier. Vancourn ist schon tot - ich habe keine Lust, ihm zu folgen.« Der Schatten unter der Tür wirbelte herum. Hastige, schnelle Schritte entfernten sich auf dem Korridor.

»Verdammt noch mal - ihr bleibt hier!« brüllte Mark. Seine Stimme überschlug sich. »Ich ...«

Vivians Muskeln verkrampften sich. Sie stöhnte, warf den Kopf in den Nacken und versuchte, die unerträglichen Schmerzen in Fingern und Fußspitzen zu ignorieren. Es ging nicht.

Und dann, genau in diesem Augenblick, in dem sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, hörte sie, wie Mark sich herumdrehte und den beiden anderen folgte. Sie seufzte erleichtert und brachte die Tür leicht ins Schwingen, bis sie den festen Boden erreichen konnte. Vivian ließ sich zu Boden fallen, blieb eine Zeitlang mit hämmerndem Herzen liegen und stand schließlich mühsam auf. Die Anstrengung, die Tür zu öffnen und auf den Korridor hinauszugehen, erschien ihr fast zu groß.

Immer deutlicher spürte sie, wie müde und erschöpft sie war. Sie war jetzt praktisch seit drei Tagen ununterbrochen auf den Beinen, und sie hatte seit gestern abend weder etwas gegessen noch getrunken. Ihr Magen begann zu revoltieren. Übelkeit stieg in ihr empor, spülte einen widerwärtigen, bitteren Geschmack in ihren Mund und ließ sie schwindeln. Vor ihren Augen bewegten sich feurige Kreise. Sie taumelte gegen die Wand und sank langsam daran herunter.

Mit der Schwäche kam die Verzweiflung. Bei der Anstrengung, unter der sie bisher gestanden hatte, hatte sie noch keine Zeit gehabt, Angst oder Mutlosigkeit zu empfinden.

Bis jetzt.

Von der Straße drang gedämpfter Kampflärm zu ihr empor; wütende, zischende Schreie, ein dumpfes Klatschen, als träfe irgend etwas unglaublich Schweres und Hartes auf Fleisch und Knochen, gefolgt von einem wütenden Fauchen und schweren, stampfenden Schritten.

Vivian öffnete mühsam die Augen. Das Fenster war ein verschwommener, grauer Umriß irgendwo in unerreichbarer Ferne, und der Kampflärm schien wie durch einen dichten, wattigen Vorhang zu ihr herüberzuwehen; Geräusche aus einer anderen Welt, mit der sie nichts zu tun hatte.

Sie versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Ihre Muskeln weigerten sich, ihren Befehlen zu gehorchen. Sie spürte, wie ein warme, wohltuende Lähmung von ihrem Körper Besitz ergriff, eine verlockende Dunkelheit. Sie kämpfte dagegen an, aber sie spürte, daß sie den Kampf verlieren würde. Schließlich war sie nur ein Mensch, und selbst ein Mensch mit übernatürlichen Kräften braucht von Zeit zu Zeit eine Erholungspause.

Sie war allein.

Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie, was das Wort Einsamkeit in seiner letzten Konsequenz bedeutete. Was es hieß, wirklich allein zu sein, das einzige wirklich lebende Wesen in einer ganzen Welt zu sein, in der jedes Molekül, jedes Atom Feindseligkeit und Ablehnung ausstrahlte.

Allein ...

Ohne daß sie es merkte, sank sie vollends zu Boden, krümmte sich wie ein schlafendes Baby auf der Seite zusammen und verfiel in einen todesähnlichen Schlaf.

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