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Mit einem erstickten Schrei fuhr Vivian hoch, riß die Augen auf und schlug einen Augenblick blindlings um sich, bis sie begriff, daß sie nicht länger fiel, sondern aufrecht in ihrem Bett saß und wie all die unzähligen Male zuvor aus ihrem Alptraum aufgeschreckt war. Einige Sekunden starrte sie in die Dunkelheit, die nur von schwachem Mondlicht durchbrochen wurde, das durch Ritzen in der Jalousie hereinfiel, und wartete darauf, daß sich ihr keuchender Atem und der wild rasende Puls wieder beruhigten.

Dann wurde das Nachttischlämpchen auf der anderen Seite des Bettes angeknipst. Mark blinzelte und schaute besorgt zu ihr hinüber. »Was ist los, Darling?« erkundigte er sich. »Wieder der gleiche Alptraum?«

Vivian nickte. »Ja«, preßte sie hervor. Sie zitterte am ganzen Körper, und das Nachthemd klebte ihr feucht vom Schweiß am Körper. Das schlimmste an dem Traum war das Gefühl des Fallens, das sie auch nach dem Aufwachen immer noch hartnäckig verfolgte, da sie an einer geradezu panischen Höhenangst litt. »Aber diesmal ...«

Mark legte die Arme um sie und zog sie an sich. Sie brauchte ihm den Inhalt des Traumes nicht zu erzählen, das hatte sie schon mehr als ein dutzendmal getan.

»Beruhige dich erst einmal«, sagte er mit sanfter Stimme. »Jetzt kann dir ja nichts mehr passieren. Du brauchst nicht darüber zu sprechen, wenn du nicht willst.«

Vivian schmiegte sich an ihn und schloß die Augen. Der Traum verfolgte sie bereits seit ihrer Pubertät. Sie würde niemals vergessen, wann er sie zum ersten Mal gequält hatte - es war in der Nacht nach ihrer ersten Periode gewesen, dem Zeitpunkt, in dem sie erstmals auch die seltsamen Fähigkeiten in sich gespürt hatte, als wäre durch die Umstellung ihres Körpers vom Mädchen zur Frau auch in ihrem Geist etwas freigelegt worden, das bis zu diesem Moment tief in ihrem Inneren verborgen geschlummert hatte. Seither kehrte der Traum immer wieder, manchmal nur im Abstand von wenigen Tagen, manchmal aber auch mehreren Wochen, und einmal hatte es sogar fast drei Monate gedauert, so daß sie bereits gehofft hatte, ihn endgültig abgeschüttelt zu haben. Seit fast einer Woche jedoch quälte er sie nun schon jede Nacht.

»Es war diesmal irgendwie ... deutlicher«, brach es stockend aus ihr heraus. »Deutlicher als bisher, intensiver. Sonst gab es da immer eine gewisse Distanz. Zwar war ich die Frau in dem Traum, aber irgendwie war ich es auch wieder nicht, so als wäre ich ... eine Art Beobachterin in meinem eigenen Körper.« Sie machte eine resignierende Geste. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.«

»Ich verstehe schon«, murmelte Mark. »Das ist bei Träumen keine Seltenheit.«

»Aber diesmal befand ich mich mitten drin. Diesmal war nichts verschwommen, jedes Detail wirkte ungeheuer realistisch. Ich war diese Hexe, und ich war es auch, die in die Tiefe ...« Sie brach ab und schluchzte. »Glaubst du, daß es ... daß es eine Art Blick in die Zukunft ist? Ich meine, ich bin schließlich in gewisser Hinsicht eine Hexe, jedenfalls hat man es früher wohl so genannt. Vielleicht ist dieser Traum nicht bloß ein Alptraum, sondern eine Vision, und ich sehe meinen eigenen Tod voraus.«

»Unsinn«, widersprach Mark energisch. »Du bist keine Hexe, sondern eine Wahrsagerin. Du führst schließlich keine Teufelsbeschwörungen durch, bei denen du Menschen umbringst, sondern du legst ihnen die Karten und liest ihnen aus der Hand. Es gibt viele, die so etwas tun.«

»Ja, Scharlatane, die den Leuten mit ein bißchen Hokuspokus und erfundenen Geschichten das Geld aus der Tasche ziehen. Aber du weißt, daß es bei mir etwas anderes ist. Wer weiß, ob nicht vielleicht noch andere Fähigkeiten in mir schlummern, und ob sie nicht möglicherweise irgendwann einmal mich beherrschen werden, statt ich sie.« Sie stockte und wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich habe Angst, Mark, höllische Angst.«

Er zwang sich zu einem gekünstelten Lächeln. »Nur wegen eines Traumes, Darling? Das brauchst du nicht. Es ist nur ein böser Traum, mehr nicht. Viele Menschen werden immer wieder von den gleichen Alpträumen heimgesucht, das ist völlig normal.«

Vivian schüttelte zweifelnd den Kopf. Sie wollte ihm glauben, wollte es nur zu gern, aber es gelang ihr nicht, die tief in ihr nagende Angst abzuschütteln. »Dieser Traum spielt in New York«, sagte sie. »Und es kann doch kein Zweifel sein, daß ich ihn seit fast einer Woche jede Nacht habe, seit du die Flugtickets gebucht hast, und daß er gerade heute zum ersten Mal so sehr viel deutlicher ist, wo wir die erste Nacht in dieser Stadt verbringen.«

»Natürlich ist es kein Zufall«, erwiderte Mark. »Träume sind eine Reaktion des Unterbewußtseins auf reale Ereignisse, es verarbeitet auf diese Art all die Eindrücke, die am Tage auf dich einströmen. Das hat Doktor Lincoln dir doch alles ausführlich erklärt.«

Vivian versteifte sich bei der Erwähnung des Psychiaters, zu dem sie sich vor einigen Monaten auf Marks Drängen hin für eine Weile erfolglos in Behandlung begeben hatte, und rückte ein Stück von Mark ab. »Sicher hat er das«, stieß sie schroffer als beabsichtigt hervor. »Und er hat mir noch eine Menge anderen Blödsinn erzählt, im gleichen belehrenden Ton wie du jetzt. Ich kenne den ganzen therapeutischen Mist, aber du weißt, daß es bei mir etwas völlig anderes ist. Also hör auf, mit mir wie mit einem Kind zu reden!«

»Tut mir leid«, murmelte er. »Ich wollte kein hohles Zeug reden, aber die Zeitumstellung und der Flug sitzen mir noch ziemlich in den Knochen, und ich habe tief geschlafen. Mag sein, daß dieser Traum einen tieferen Sinn hat, aber er ist ganz bestimmt kein Blick in deine Zukunft. Denk doch nur an diese Kreaturen, die dich angegriffen haben. Glaubst du vielleicht ernsthaft, daß es solche Schauergestalten wirklich gibt?« Er schaute sie fragend an, und als sie mit dem Kopf schüttelte, fuhr er mit sanfter Stimme fort: »Na also. Du brauchst einfach nur Ruhe. Spann ein paar Tage aus, und schau dir die Stadt an. Amüsier dich. Hier gibt es mehr als genug Möglichkeiten, dich zu zerstreuen. Vielleicht ist es besser, wenn du morgen einen Einkaufsbummel machst, statt zu den Mastertons zu fahren.«

Vivian lächelte flüchtig. »Du selbst hast mich doch gebeten, die Einladung anzunehmen«, erinnerte sie. »Das ist schließlich einer der Gründe, weshalb ich überhaupt mitgekommen bin. Es wäre nicht besonders höflich, so kurzfristig noch abzusagen, und das könnte sich auch auf deine Verhandlungen negativ auswirken.«

Mark zuckte mit den Schultern. »Man wird Verständnis dafür haben, wenn du sagst, daß du dich nicht wohl fühlst. Schließlich ist morgen abend ja noch das Fest bei Conelly. Da können die alten Schnepfen dich immer noch kennenlernen, wenn sie so begierig darauf sind.«

Vivian schüttelte den Kopf. »Wenn du den ganzen Tag mit Masterton verhandeln kannst, werde ich ja wohl ein Kaffeekränzchen bei seiner Frau durchstehen. Ich brauche ja nicht lange zu bleiben.« Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Ich bin so durchgeschwitzt, daß ich erst einmal unter die Dusche muß, bevor ich weiter schlafe.«

Sie stand auf und streifte das feuchte Nachthemd ab, dann huschte sie ins Badezimmer und trat in die Duschkabine. Mehrere Minuten lang ließ sie sich von den heißen Wasserstrahlen massieren, genoß es, wie sich ihre während des Traumes verkrampften Muskeln entspannten, und im gleichen Maße auch das Gefühl von Angst und Verzweiflung, das ihr auch nach dem Aufwachen noch in die Realität gefolgt war, von ihr abfiel.

Als sie schließlich ins Schlafzimmer zurückkehrte, war Mark bereits wieder eingeschlafen. Sie konnte es ihm nicht verübeln, schließlich hatte er einen anstrengenden Tag vor sich. Vivian schaute auf die Uhr. Es war bereits halb fünf durch, und sie entschied, daß es keinen Sinn hatte, wenn sie sich wieder hinlegte. Sie würde ohnehin keinen Schlaf mehr finden. Also konnte sie auch aufbleiben. Sie zog einen Bademantel über, trat in den Wohnraum der großen, aus drei Zimmern bestehenden Suite und bestellte telefonisch eine Tasse Kaffee.

Kurz darauf klopfte es an die Tür. Ein Junge vom Zimmerservice brachte ihr den Kaffee. Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab, während er mit verstohlenen Blicken musterte, was ihr knapp geschnittener Bademantel ihm enthüllte. »Bitte sehr, Missis Taylor.«

Vivian drückte ihm ein Trinkgeld in die Hand und schloß die Tür hinter ihm wieder. Dann setzte sie sich in einen der behaglichen Ledersessel, nippte an der Tasse und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte nur unregelmäßig, meist nicht mehr als zwei oder drei Zigaretten am Tag, hatte aber stets eine Schachtel bei sich. Gedankenverloren schaute sie dem Rauch nach, der in Kringeln zur Decke aufstieg, und trank gelegentlich einen Schluck Kaffee.

Zwar waren die Schrecken des Alptraums weitgehend verblaßt, aber immer noch quälten sie die Zweifel und Ängste, die sie stets erst nach dem Aufwachen empfand, wenn sie den Inhalt und vor allem den Sinn des Traumes mit Logik zu analysieren versuchte.

Nachdenklich spielte sie mit dem kleinen Medaillon, das an einer Kette um ihren Hals hing. Sie hatte es vor einigen Jahren bei einer Urlaubsreise nach Kalkutta in einem kleinen Geschäft gekauft, in dem vor allem Wurzeln, Kräuter, selbstgebraute Arzneien und dergleichen mehr verkauft wurden, aber auch eine Reihe von Dingen, die aus dem okkulten Bereich stammen sollten: Armreifen, Amulette, Glaskugeln und eine Vielzahl ähnlicher Gegenstände, denen angeblich magische Kräfte innewohnen sollten. Das meiste davon war wertloser Tand, nur dazu bestimmt, abergläubische Dummköpfe übers Ohr zu hauen, doch das Medaillon hatte Vivian wie ein Magnet angezogen, kaum daß sie den Laden betreten hatte. Vom ersten Moment an hatte sie gewußt, daß es damit eine besondere Bewandtnis besaß. Irgend etwas in ihr hatte auf das Kleinod reagiert, und sie hatte eine tiefe innere Verbundenheit mit dem Medaillon gespürt. Als sie es berührte, fühlte es sich nicht wie ein toter Gegenstand an, sondern schien in ihrer Hand zu pulsieren, sich fast wie ein Lebewesen an sie zu schmiegen.

Natürlich hatte der Händler ihr Interesse sofort bemerkt und eine horrende Summe verlangt, und obwohl sie den Preis noch um einiges drücken konnte, hatte der Kauf des Medaillons fast ihre gesamte, ohnehin nicht besonders üppige Reisekasse verschlungen. Aber trotz seines beinahe unscheinbaren Aussehens war es jeden Penny mehr als wert gewesen.

Vivian hob das Medaillon vor die Augen und starrte es an. Es handelte sich um einen flachen, von einem matten, bläulichen Glanz erfüllten Schmuckstein, eingefaßt in einen silbernen, sternförmig gezackten Kranz. Unverständliche Schriftzeichen waren in das Silber eingraviert, auf deren Bedeutung sie auch in ihrer mittlerweile recht umfangreichen Sammlung okkulter Schriftstücke und Bücher keinen Hinweis gefunden hatte. Ein paarmal hatte sie erwogen, die Zeichen einem Archäologen oder Schriftforscher vorzulegen, war aber ebenso stets davor zurückgeschreckt wie vor einer Analyse des Materials, aus dem der Stein bestand. Unterschwellig fürchtete sie, die geheimnisvolle Macht des Talismans könnte verlorengehen, wenn sie zuviel von seinem Geheimnis entschlüsselte.

Auch jetzt spürte sie das Pulsieren des Steins, der auf die medialen Kräfte in ihr reagierte, ihre Gedanken wie in einem Fokus zu bündeln und zu verstärken schien, aber eine Antwort auf die drängenden Fragen, die sie quälten, vermochte auch er ihr nicht zu liefern.

Nach einigen Minuten hatte sich Vivian zu einem Entschluß durchgerungen. Sie drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus, leerte die noch halbvolle Tasse in einem Zug und stand auf, um das Päckchen Tarock-Karten aus ihrer Handtasche zu holen, auf das sie auch auf dieser Reise nicht verzichtet hatte. Mit den Karten in der Hand kehrte sie an den Tisch zurück und setzte sich wieder, dann zögerte sie aber. Noch nie zuvor hatte sie für sich oder für Mark die Karten gelegt. Bislang war sie immer davor zurückgeschreckt. Was auch immer sie aus den Karten über andere erfuhr, konnte sie ihnen schonend mitteilen, notfalls abschwächen oder ganz verschweigen. Sich selbst hingegen würde sie nichts vormachen können, und im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie begriffen, daß es nicht immer erstrebenswert war, die Zukunft, oder wenigstens einen Teilaspekt davon zu kennen. Sie wußte nur zu gut, daß die von den Karten offenbarten Konstellationen sich auf vielfältige Weise interpretieren ließen, und das, was man sich am wenigsten wünschte, nur deshalb eintrat, weil man es nach einer Voraussage mit aller Kraft zu verhindern versuchte.

Jetzt aber war sie an einem Punkt angelangt, wo sie die quälende Ungewißheit nicht länger ertragen konnte. Mit mechanischen Bewegungen begann sie, die Karten in der vorgeschriebenen Form auf dem Tisch aufzudecken. Ihre Finger zitterten merklich. Sie spürte, wie sich das Medaillon auf ihrer Brust stärker zu erwärmen begann.

Schon nach wenigen Sekunden zeichnete sich ab, daß es eine interessante Konstellation werden würde, kompliziert und verworren, doch nachdem sie fertig war, hatte sie dafür keinen Gedanken mehr übrig. Ihr Blick hing wie gebannt an den beiden Karten, die das gesamte übrige Gefüge dominierten.

Die eine von ihnen zeigte den doppelgesichtigen Januskopf, der gleichermaßen das Antlitz eines Engels wie eines Teufels besaß.

Die andere Karte zeigte den Tod.

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