Zahlreiche Menschen hatten die unterirdischen Gewölbe tief unter der Villa Howard Conellys bereits betreten, aber nur die wenigsten hatte sie wieder verlassen. Zumindest nicht als Menschen ...
Der Raum war so hoch, daß sich das rötliche Flackern der Fackeln in der Höhe verlor. Die Wände bestanden aus roh bearbeitetem Fels, und die Decke wurde von Säulen aus zyklopischen, aufeinandergefügten Felsblöcken getragen, die mit barbarischen Fresken und Verzierungen geschmückt waren. An der Rückwand des rechteckigen Raumes erhob sich ein mächtiger, aus natürlich gewachsenem Fels heraus gearbeiteter Thron, der allein durch seine Dimensionen jeden Betrachter beeindruckt hätte.
Irgendwo tropfte Wasser; ein regelmäßiges, monotones Geräusch, das das leise Prasseln der Flammen untermalte und zu den niedrigen Temperaturen paßte, die in Conellys geheimem Reich herrschten.
Conelly saß reglos wie eine steinerne Statue auf dem Thron und starrte mit blicklosen Augen vor sich hin. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.
Er hatte einen Fehler gemacht, indem er erst versucht hatte, Ulthar durch den Pakt hinzuhalten und zu überlisten, statt sofort mit aller Macht zuzuschlagen und ihn zu vernichten. Besser noch wäre es gewesen, den Magier schon damals zu vernichten, unmittelbar nach Melissas Tod. Noch heute begriff Conelly nicht, warum er sich diese wohl einmalige Gelegenheit hatte entgehen lassen, wie er sich so in seinem Widersacher hatte täuschen können. Damals hätte er wahrscheinlich leichtes Spiel gehabt: Ulthar war nicht nur schwach gewesen, sondern vor allem verzweifelt. Mittlerweile hatte sich das geändert, und vor allem hatte Ulthar die seither verstrichene Zeit genutzt, seine Spiegel weiter zu ergründen und seine Kräfte in aller Heimlichkeit in einem Maße zu steigern, die Conelly niemals für möglich gehalten hätte. Am schlimmsten aber war der Gedanke, daß er selbst durch den Pakt dazu beigetragen hatte, Ulthars Macht noch zu vergrößern.
In hilfloser Wut ballte er die Fäuste, als er daran dachte, mit welcher Leichtigkeit die Spiegelwesen seine Geschöpfe getötet hatten. Ulthar hatte ihn nicht nur gedemütigt, sondern auch verhöhnt.
Conelly stieß einen Fluch aus, sprang hoch und begann wütend im Raum auf und ab zu gehen. Die kostbaren Marmorfliesen des Fußbodens erzitterten unter seinem Schritt. Was war los mit ihm, daß ihm in letzter Zeit immer mehr Fehler unterliefen? Wie es aussah, wurde er allmählich alt. Die Niederlage in Ulthars Kabinett war unnötig gewesen. Statt mit einigen wenigen seiner Geschöpfe nach Coney Island zu gehen, hätte er mit aller Kraft angreifen sollen.
Aber vielleicht konnte er auch aus der Niederlage noch einen Vorteil ziehen. Immerhin wußte er jetzt, daß er Ulthar unterschätzt hatte. Noch einmal würde ihm dieser Fehler nicht unterlaufen. Hätte er unter diesen falschen Voraussetzungen einen Großangriff gestartet, wären die Folgen erst recht verheerend gewesen. In einer offenen Auseinandersetzung würde er dem Magier unterlegen sein, daran gab es nun kaum noch einen Zweifel. Ulthar beherrschte nicht nur seine Spiegelwesen; durch Cramer und Bender konnte er notfalls sämtliche Polizeieinheiten zu seinem Schutz aufbieten.
Conelly blieb stehen, starrte zu Boden und bewegte lautlos die Lippen. Er mußte anders vorgehen, um Erfolg zu haben und Ulthar auszuschalten, unauffälliger. Ihm blieb nicht viel Zeit. Sobald der Magier Vivian Taylor erst einmal gefunden und Melissa erst zu neuem Leben erweckt hatte, würde er von ihr erfahren, wer damals für ihren Tod verantwortlich gewesen war. Dann würde sich Ulthar rächen, und mit Melissa an seiner Seite dürfte es fast unmöglich werden, ihn noch zu besiegen.
Abrupt drehte sich Conelly um, ging zu seinem Thron zurück und klatschte in die Hände. »Quaraan!«
Die Szenerie änderte sich schlagartig. Die großen, schmiedeeisernen Tore, die fast die ganze Südfront der Halle einnahmen, schwangen mit rostigem Quietschen auf. Ein kleines, geschupptes Wesen, halb Mensch, halb Eidechse, erschien mit wieselnden Bewegungen vor dem Thron und senkte unterwürfig den Kopf. Die mächtigen, messerscharf auslaufenden Reißzähne des kaum metergroßen Wesens schienen kräftig genug, einen jungen Baum mit einem einzigen Biß zu teilen.
Genau so hatte Conelly ihn erschaffen wollen. Quaraan stellte in gewisser Hinsicht etwas wie sein Meisterwerk dar, eine deutliche Weiterentwicklung seiner bisherigen Geschöpfe. Bevor Conelly ihn getroffen, in seine magischen Tröge gesteckt und nach seinen Vorstellungen verwandelt hatte, war er ein unauffälliger, kleiner Angestellter gewesen, mit einer nur schwachen paranormalen Begabung, die ihm nicht einmal bewußt gewesen war. Nach dem Verlassen der Tröge jedoch war er ein perfekter Killer geworden, ein Spürhund mit ungeheurer Kraft, der eine einmal aufgenommene Spur niemals verlor, bis er sein Opfer gefunden und getötet hatte.
Und er verfügte über eine ganz besondere Fähigkeit, die erst nach der Umwandlung offen zum Durchbruch gekommen war ...
»Du hast mich gerufen, Herr?«
»Wir müssen handeln«, sagte Conelly. Seine Stimme zeigte keine Spur der Gefühlswallung, die in seinem Inneren tobte. »Ich werde noch einmal zu Ulthar gehen«, erklärte er. »Die Fehler, die begangen wurden, lassen sich nicht wieder rückgängig machen, aber noch ist nicht alles verloren. Ulthar ist schon jetzt mächtiger als ich, aber er weiß nichts von dir. Um die Macht seiner Spiegel einzusetzen ist er auf optische Wahrnehmungen angewiesen, deshalb bist du genau der richtige für diesen Auftrag. Bevor er Melissa erwecken und noch mächtiger werden kann, werden wir ihn vernichten. Du wirst ihn dir schnappen, mein kleiner schuppiger Freund.« Er sprang von seinem Thron herab, tätschelte dem Echsenwesen den Kopf und blieb hochaufgerichtet stehen.
Die hornigen Lippen des Geschöpfes verzogen sich zur boshaften Karikatur eines Grinsens. »Wir werden ihn vernichten«, krächzte Quaraan.
»Mitsamt dieser Hexe.« Conelly fuhr herum und ging mit entschlossenen Schritten auf den Ausgang zu. Das Echsenwesen folgte ihm mit kleinen, watschelnden Bewegungen. Sein Schwanz schleifte über den Boden.
Hätte Conelly sich in diesem Moment umgedreht, hätte er vielleicht eine schattenhafte Gestalt in einem Winkel der riesigen Halle wahrgenommen.
Vielleicht.
Vivian hatte Pecos den Weg genau beschrieben. Er parkte die Maschine zwischen überquellenden Müllcontainern und Pappkartons, die abholbereit am Straßenrand standen, sah sich sichernd nach allen Seiten um und huschte dann auf das Hotel zu. Die Rückseite des sechsstöckigen Gebäudes bot einen wesentlich erbaulicheren Anblick als die Front. Die Fenster waren hier meist klein und blind, der Putz fleckig und abgeblättert. Unrat und Papierfetzen bedeckten den kopfsteingepflasterten Hof, und aus einem offenstehenden Fenster im Erdgeschoß drang das helle Klappern von Geschirr und Besteck.
Pecos huschte zur Mauer hinüber, atmete tief ein und überprüfte nacheinander die Fenster, bis er eins fand, das nur angelehnt war. Prüfend rüttelte er an dem schmiedeeisernen Gitter, das davor angebracht war. Es sah nicht übermäßig stabil aus. Das Eisen knirschte, als er mit aller Kraft daran zog, bog sich ächzend nach außen und brach ab. Pecos grinste triumphierend, ging in die Hocke und lugte vorsichtig durch die schmutzverkrustete Scheibe nach drinnen. Er sah einen kleinen, rechteckigen Raum, in dem sich leere Kartons und große, graue Mülltonnen mit Haushaltsabfällen stapelten. Behutsam drückte er das Fenster nach innen und quetschte sich durch die schmale Öffnung.
Hinter sich schob er das Fenster wieder zu, schlich zur Tür und preßte das Ohr gegen das kalte Metall. Das Klirren von Glas und Geschirr, das er schon draußen auf dem Hof wahrgenommen hatte, schien hier lauter zu sein. Dies war nicht das erste Gebäude, in das Pecos durch die Hintertür eindrang, und er wußte, daß zuviel Zögern manchmal schädlich sein konnte. Vorsichtig öffnete er die Tür, sah sich sichernd um und trat dann auf den Gang hinaus. Das leise Knirschen seines Lederanzuges war das einzige Geräusch. Trotz der eisenbeschlagenen Motorradstiefel bewegte sich Pecos mit der Lautlosigkeit einer Katze.
Eine Tür auf der rechten Seite stand offen. Er blieb stehen und sah durch den Spalt. Große Aluminiumkessel und eine Anrichte beherrschten den Raum. Aus einem Kofferradio in der Ecke ertönte gedämpfte Musik, und der Geruch von gekochtem Schweinefleisch hing wie eine erstickende Wolke in der Luft. Offenbar handelte es sich um eine Personalküche.
Pecos zögerte nicht länger. Er betrat den Raum, drückte die Tür hinter sich zu und öffnete mit den zielsicheren Bewegungen eines routinierten Einbrechers die Schubladen. Drei Minuten später trat er wieder auf den Gang hinaus. In den Händen balancierte er ein Tablett mit Suppenschalen und Besteck, und sein schwarzer Motorradanzug war unter einem fleckigen Kittel und groben, grau-weiß-karierten Fleischerhosen verborgen. Er ging zum Aufzug hinüber, drückte den Rufknopf und wartete. Ein Zimmermädchen rauschte an ihm vorbei, ohne ihm mehr als ein flüchtiges Nicken zu widmen. Pecos erwiderte die Geste und unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Die Kleine würde sich sicher nicht an sein Gesicht erinnern. Ein Hotel wie das SHERIDAN war groß genug, daß nicht jeder jeden kennen konnte.
Der Aufzug kam, und Pecos betrat die Kabine. Der gefährlichste Teil des Unternehmens war geschafft. Wenn Sheldon sich an den Zeitplan hielt, mußte dieser Taylor jetzt bereits wohl verschnürt in seinem Wagen liegen.
Die Kabine glitt die Etagen empor und hielt im dritten Stockwerk an. Pecos stieg aus, balancierte das Tablett geschickt mit einer Hand vor sich her und ging zielsicher auf die Zimmertür zu, die Vivian ihm genannt hatte. Er klopfte vorsichtshalber an. Natürlich antwortete niemand. Taylor war also auf den Trick hereingefallen und in die Halle geeilt, um Vivian in Empfang zu nehmen.
Er drückte behutsam die Klinke herunter, öffnete die Tür und huschte in den Raum. Die Suite war größer, als er erwartet hatte. Er schob die Tür hinter sich zu, stellte das Tablett auf den Tisch und sah sich neugierig um. Das Zimmer verriet die Anwesenheit eines Menschen; eine halb geleerte Kaffeetasse stand auf dem Tisch, daneben ein überquellender Aschenbecher neben einer zerlesenen Zeitung. Die Möblierung war teuer und verriet die Hand eines geschickten Innenarchitekten, und die Seidentapeten an den Wänden hatten wahrscheinlich mehr gekostet, als Pecos in einem Monat verdiente. Er spürte eine dumpfe Wut beim Anblick all dieser Kostbarkeiten in sich aufsteigen. Er trat ans Fenster, befühlte mit einer Mischung aus Neugier und Neid den teuren Stoff der Übergardinen und warf aus purem Zerstörungswillen eine Vase um. Das Klirren des zerbrochenen Porzellans schien wie eine Explosion durch den Raum zu hallen und ernüchterte ihn wieder. Er war schließlich nicht hier, um über die Ungerechtigkeit der Welt zu sinnieren.
Mit entschlossenen Schritten ging er in den angrenzenden Schlafraum hinüber. Auf Anhieb entdeckte er auf dem Bett die Handtasche, die Vivian ihm beschrieben hatte. Er war froh, sie so schnell zu finden. Die Suite bot zwar nicht allzu viele Verstecke, aber er verspürte trotzdem keine Lust, die Zimmer jetzt noch gründlich zu durchsuchen. Er ergriff die Tasche, als ihn ein leises, kaum merkliches Geräusch auffahren ließ. In einer reflexhaften Bewegung fuhr er herum, griff unter die Jacke und zog sein Klappmesser hervor.
Das Geräusch schien aus dem Bad gekommen zu sein. Pecos duckte sich, ging mit raschen, lautlosen Schritten durch den Raum und schob die Badezimmertür auf. Die Deckenlampe brannte. Der Geruch eines teuren, unaufdringlichen Parfüms hing in der Luft; und aus dem Wasserkasten lief ein dünner Strahl in das safranfarbene Becken. Pecos konnte von seinem Standort aus den Raum nicht ganz überblicken, aber der überbreite Spiegel über dem Handwaschbecken zeigte ihm die toten Winkel jenseits der Tür, und das Innere der Duschkabine. Der Raum war leer.
Und dennoch spürte er die Anwesenheit eines Menschen.
Pecos versuchte, das klamme Gefühl, das sich plötzlich in seinem Inneren ausbreitete, zu ignorieren. Er atmete tief ein, stieß die Tür mit einem entschlossenen Ruck weit auf und trat in das geräumige Badezimmer.
Ein leises, amüsiertes Lachen hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. »Gehen Sie immer in fremde Badezimmer, ohne anzuklopfen?« fragte Vivian Taylor.
Pecos wich mit einem erschrockenen Aufschrei zurück, prallte gegen die gekachelte Wand und ließ das Messer fallen. Sein Blick irrte gehetzt zwischen der schlanken Frauengestalt und dem Spiegel hin und her.
Das Zimmer, er selbst, die halb offenstehende Tür ... Er konnte alles fast überdeutlich erkennen - aber Vivian Taylor war in dem spiegelnden Glas nicht zu sehen.
»Und alles nur wegen einer Handtasche mit ein paar Papieren, auf die es mittlerweile überhaupt nicht mehr ankommt«, sagte Vivian leise. »Soll Vivian Taylor sie ruhig bekommen. Später. Wenn ich mit Ihnen fertig bin.« Sie trat beiseite, machte eine einladende Geste. »Kommen Sie.«
Irgend etwas Großes, Dunkles schien Pecos' Bewußtsein davonzuspülen.
Der Balken vor der Tür zu einem kleinen Nebenraum der alten Fabrikhalle rastete mit metallischem Quietschen in die Halterung ein. Sheldon Porter grinste, klopfte sich den Staub aus der Jacke und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Da kommt noch nicht mal ein Elefant heraus«, sagte er überzeugt. Um seine Worte zu untermalen, trat er mit der eisenbeschlagenen Spitze seines Motorradstiefels vor die Tür. Es gab einen dumpfen, hallenden Ton. Ein wenig Kalk rieselte von der Wand herunter; irgendwo löste sich durch die Erschütterung ein Steinchen und fiel zu Boden.
Vivian starrte die geschlossene Eisentür aus brennenden Augen an. Marks Schreie waren zu einem kaum hörbaren Flüstern herabgesunken, nachdem die Tür geschlossen war, aber sie glaubte, sie immer noch in ihren Ohren gellen zu hören. Er hatte sich verzweifelt gewehrt, als Sheldon und die anderen damit begonnen hatten, ihm die Kleider auszuziehen, aber gegen die vereinten Kräfte von acht Männern war nicht einmal er angekommen.
»Er ist sicher«, sagte Sheldon, der Vivians Gedanken zu erraten schien. »Ihm kann dort drinnen nichts passieren. Und er kann auch nicht heraus.«
Vivian nickte unmerklich und drehte sich um. Sie ertrug es einfach nicht mehr, die Tür anzustarren.
»Möchte wissen, wo Pecos so lange bleibt«, maulte einer der Männer - John, wenn sie seinen Namen richtig behalten hatte.
»Vielleicht hat er im Hotel ein Zimmermädchen aufgerissen«, feixte Jack, dann wurde er schlagartig ernst. »Oder es ist irgend etwas schiefgegangen.«
»Red kein Blech«, sagte Sheldon streng. »Pecos kann auf sich aufpassen.« Er bückte sich, hob die Anzugjacke vom Boden auf und zwängte sich ächzend hinein. Vivian musterte ihn mit verhaltenem Lächeln. Irgendwie wirkte er in Marks Anzug, der ihm um mehrere Nummern zu klein war, lächerlich.
»Als Dressman würdest du verhungern«, spottete Jack.
Sheldon bedachte ihn mit einem bösen Blick und überprüfte nacheinander die Taschen des Anzugs. »Das gebe ich wohl besser Ihnen«, sagte er und reichte Vivian Marks Brieftasche und Portemonnaie. »Bei dem vielen Geld käme ich nur in Versuchung, und mit den Ausweisen könnte ich höchstens einen Blinden täuschen. He, was ist das denn?« Er zog eine Kette mit einem Anhänger aus der Außentasche des Jacketts. »Da Ihr Mann solchen Schmuck wohl kaum trägt, war es vermutlich als Überraschung für Sie geplant.«
»Mein Amulett!« Vivian griff hastig danach. Kaum hielt sie es in der Hand, spürte sie wieder das vertraute, beruhigende Pulsieren des Medaillons. Sie hängte es sich um den Hals. Also hatte es sich wirklich nicht um einen normalen Straßenraub gehandelt, sondern Ulthar hatte es ihr entwenden lassen und es Marks Spiegelbild gegeben.
»Was ist das?« erkundigte sich Sheldon neugierig.
»Ein Andenken«, erklärte Vivian ausweichend. Wenn sie erzählte, daß es ihr half, ihre paranormalen Fähigkeiten gezielter einzusetzen, würde das den ohnehin schon viel zu großen Übermut ihrer Begleiter nur noch mehr anstacheln. »So etwas wie ein Glücksbringer.«
Sheldon zuckte mit den Schultern, band sich ungeschickt die Krawatte um und verzog das Gesicht. »Muß dieser Mummenschanz wirklich sein?«
»Wir müssen irgendwie an Ulthar herankommen«, sagte Vivian. »Sie sehen Mark zwar nicht sonderlich ähnlich, aber ich hoffe, Ulthar läßt sich täuschen. Wahrscheinlich wird er nicht zu genau hinsehen, wenn er glaubt, Mark brächte mich als Gefangene zurück. Schließlich rechnete er ja damit, nach der Falle, die er mir im Hotel gestellt hat.«
»Ich hoffe es.« Sheldons Lächeln verschwand übergangslos. »Ich brenne darauf, mich mit diesem Herren zu unterhalten. Wenn er mir keine sehr gute Erklärung dafür geben kann, was mit Frank passiert ist ...«
»Wenn Sie dazu kommen, ihn zu fragen«, sagte Vivian düster. »Ich habe bislang noch keine Ahnung, was wir gegen Ulthar unternehmen sollen, selbst wenn wir an ihn herankommen.«
»Im Zweifelsfalle«, sagte Jack lakonisch, »hauen wir ihm einfach so lange in die Fresse, bis er aufgibt.«
Vivian starrte den Rocker an, schwieg aber auch jetzt. Diese zu groß geratenen Kinder würden nie begreifen, daß man gegen jemanden wie Ulthar nicht wie gegen irgendeinen normalen Menschen kämpfen konnte - sofern man es überhaupt konnte. Es war Wahnsinn, sie auf ihn zu hetzen, fast schon glatter Mord. Aber sie wußte auch, daß Sheldon und seine Leute auf jeden Fall hinausfahren würden, um sich für Franks Schicksal zu rächen, und trotz aller Gewissensbisse war sie auch froh über die Unterstützung. Allein hatte sie gegen Ulthars Meute nicht die leiseste Chance.
Irgendwie erschien ihr die Vorstellung absurd. Sie stand hier, inmitten einer Gruppe jugendlicher Motorradfahrer, die nicht einmal wirkliche Rocker waren, sondern höchstens eine Gang zu spielen versuchten, inmitten der modernsten Stadt der Welt, im Herzen des mächtigsten Kontinents der Erde, und bereitete sich auf einen Kampf mit Mächten vor, die ihre Wurzeln irgendwo im finsteren Mittelalter zu haben schienen - zumindest aber dort wesentlich besser hingepaßt hätten.
Das Geräusch eines sich nähernden Motorrads unterbrach ihre Gedanken. »Pecos kommt«, rief einer der an der Tür postierten Männer.
»Wurde auch Zeit«, knurrte Sheldon.
Sie setzten sich gemeinsam in Richtung Ausgang in Bewegung. Der Boden war mit Schutt und heruntergestürzten Balken und Trümmern übersät. Jeder ihrer Schritte wirbelte Staubwolken auf, und angesichts der riesigen Dimensionen der Halle fühlte sich Vivian plötzlich noch kleiner und hilfloser als zuvor. Sie war froh, das Fabrikgebäude verlassen zu können.
Pecos stieg schnaufend von seiner Maschine, als sie auf den Hof hinaustraten. In der rechten Hand schwenkte er triumphierend die Handtasche.
»Du hast dir ja mächtig Zeit gelassen«, schnappte Sheldon. »Wir dachten schon, du hättest dich irgendwo zu einem gemütlichen Mittagsschläfchen niedergelassen.«
»Ich hab das Ding doch gebracht, oder?« gab Pecos gereizt zurück. Er warf Vivian die Tasche zu und setzte seinen Helm ab. »Steig doch das nächste Mal selbst ein, wenn du wieder mal was gestohlen haben willst.«
Vivian öffnete die Tasche und kontrollierte den Inhalt, ohne weiter auf das Wortgefecht zu achten, das sich zwischen Sheldon und Pecos entspannte. Es war alles vorhanden, vor allem ihre Papiere, und wenn sie diese auch zumindest im Moment nicht brauchte, so vermittelte es ihr doch ein beruhigendes Gefühl, sich ausweisen zu können und dank Marks Bargeld sowie seiner und ihrer Kreditkarten jederzeit in der Lage zu sein, etwas zu kaufen, sich irgendwo ein neues Hotelzimmer zu nehmen oder auch zu fliehen, wenn es gar nicht mehr anders ging.
Sie schob den Gedanken beiseite, schloß die Tasche wieder und sah Sheldon an. »Wir können fahren.«
Sheldon nickte. »Okay. Pecos - du bleibst hier und paßt auf unseren Gefangenen auf. Wenn wir bis Sonnenaufgang nicht wieder hier sind, laß ihn laufen. Jack, Steven - ihr fahrt mit mir und Vivian im Wagen. Die anderen kommen mit den Maschinen nach. Aber denkt daran - nicht zu dicht.« Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß alle seine Berichte verstanden hatten, ging er von Vivian, Jack und Steven gefolgt zum Wagen hinüber. Er klemmte sich hinter das Steuer, startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen an.
Vivian beobachtete ihn unauffällig. Sie merkte, daß seine Mundwinkel zuckten, und er mit seinem Finger immer wieder kleine, unbewußte Bewegungen ausführte. Er war nervös, auch wenn er es auf keinen Fall zugegeben hätte.
Als sie den Fabrikhof verließen, drehte sich Vivian um und warf dem verlassenen Komplex einen letzten Blick zu. Die übrigen Mitglieder der Gruppe schwangen sich gerade auf ihre Maschinen, um dem Wagen zu folgen, aber Vivian sah die Männer kaum. Sie sah auch nicht die grauen, verfallenen Mauern der Fabrik. Vor ihren Augen stand immer noch das Bild Marks: An Händen und Füßen gefesselt, nackt bis auf Socken und Unterwäsche und eingesperrt in einem feuchten, kalten und finsteren Raum, aus dem er sich aus eigener Kraft nie würde befreien können. Sie wußte, daß dieser Mann nicht Mark war, aber er hatte sie mit seinen Augen gesehen, sie mit seiner Stimme angefleht ...
»Sie denken immer noch an Ihren Mann, nicht wahr?« fragte Sheldon plötzlich.
Vivian sah verwirrt auf.
Sheldon nickte. »Ich kann sie verstehen. Ich ... selbst habe die Veränderung gespürt. Dieser Mark Taylor, den wir da eingesperrt haben, ist kein Mensch mehr. Das Teuflischste an allem ist nur, daß er noch genauso aussieht. Aber diese ... diese Wesen, die Ulthar erschafft, sind irgendwie anders.«
»Sie sind nur Kopien«, entgegnete Vivian leise. »Schlechte Kopien. Spiegelbilder.«
»Vielleicht«, murmelte Sheldon, »gibt es doch so etwas wie eine Seele.« Er lächelte unsicher. »Hört sich albern an, aus meinem Mund, nicht wahr?«
Vivian schüttelte den Kopf. »Das tut es nicht. Vielleicht haben Sie sogar recht, Sheldon. Vielleicht ist es das, woran man sie erkennen kann - sie haben keine Seele, wenn es so etwas wirklich gibt.«
Seine Stimme zitterte unmerklich. »Ob mit ... mit Frank das gleiche passiert ist?« fragte er stockend. »Ob wir anstelle von Frank auch nur so eine ... Kreatur finden, die wie er aussieht?«
Vivian antwortete nicht sofort.
»Sie glauben es«, sagte Sheldon, als Vivian eine Weile geschwiegen hatte. »Und ich glaube es auch. Ich ... fühle, daß Frank etwas zugestoßen ist.«
»Sie fühlen es?«
Sheldon lächelte unsicher, aber es war ein Lächeln, dem jede Spur von Freude oder Humor fehlte. »Es ist einfach nur ein Gefühl. Frank ist immerhin mein Bruder. Er und ich haben uns immer sehr nahe gestanden und ... es klingt vielleicht lächerlich, aber manchmal konnten wir gegenseitig spüren, wenn der andere in Schwierigkeiten steckte. Einfach so, verstehen Sie?«
Vivian nickte. »Aber selbst wenn Ihr Bruder in Ulthars Falle gegangen ist, bedeutet das noch nicht, daß wir auf sein Ebenbild treffen«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß Ulthar die Spiegelbilder aller seiner Gefangenen zum Leben erweckt, sonst müßte er bereits über eine riesige Armee verfügen, die sich kaum lange verstecken ließe. Er wird eine Auswahl der Personen treffen, die ihm für den Moment besonders nützlich erscheinen.«
Sheldon reagierte nicht auf ihre Worte, und Vivian begriff, daß er nicht weiter über dieses Thema reden wollte. Wahrscheinlich hatte er schon viel mehr gesagt, als er eigentlich wollte. Statt dessen konzentrierte er sich wieder auf den Verkehr, schaltete, gab Gas und überholte einen langsameren Wagen. Die Verkehrsdichte nahm allmählich ab. Vivian versuchte, sich zu orientieren, aber sie war diesen Weg erst einmal gefahren, noch dazu bei Dunkelheit. »Ist es noch weit?«
»Ein paar Meilen. Vielleicht zehn Minuten.« Sheldon fingerte nervös am Lenkrad herum und beschleunigte abermals. Der altersschwache Wagen wurde mit protestierend kreischendem Motor schneller.