2

Die See war in dieser Nacht so ruhig, daß selbst das leise Geräusch der ins Wasser tauchenden Ruderblätter wie das Tosen eines Wasserfalls zu klingen schien. Es war dunkel, aber es war eine seltsame, wattige Dunkelheit, in der nicht nur Licht, sondern auch die Geräusche des Hafens und der Stadt zu versickern schienen. Selbst der Mond wirkte fremd und beunruhigend - eine bleiche, fleckige Scheibe, die kein Licht spendete, sondern wie ein scharf ausgestanztes Loch im Himmel aussah.

Längst schon bereute Melissa Warren ihren Entschluß, Frank auf diesen nächtlichen Ausflug begleitet zu haben, aber sie hatte bisher einfach nicht den Mut aufgebracht, ihm zu sagen, daß sie sich hier nicht wohl fühlte, daß ihr die Umgebung Unbehagen bereitete und sie im Grunde Angst hatte und nach Hause wollte. Sie versuchte, das langsam aufkeimende Gefühl der Furcht zu ignorieren und drehte sich um, um zum Ufer zurückzusehen.

Sie waren erst vor einigen Minuten losgefahren, aber die Kaimauer war längst im Dunkel versunken und zu einem Teil der Nacht geworden. Rechts von ihrem Boot glänzte ein Meer heller Lichter, durchsetzt von kleinen, bunten, auf und ab blitzenden Sternen; der Yachthafen. Selbst über das leise Tuckern des Außenbordmotors waren Musikfetzen und ein wispernder Chor undeutlicher Stimmen zu hören, die von dort durch die Nacht zu ihnen herüberwehten. Hinter dem Hafen erhob sich die Lichtglocke der Riesenstadt New York, deren City zu dieser Uhrzeit erst richtig erwachte. Aber selbst der Glanz der Millionenstadt schien gedämpft, als hätte jemand einen unsichtbaren, lichtschluckenden Schleier über der Stadt ausgebreitet.

Melissa schauderte.

Frank bemerkte ihr Zusammenzucken, legte es aber falsch aus. Er schälte sich umständlich aus seiner Jacke und legte sie um Melissas Schultern. »Es wird rasch kühl hier draußen«, sagte er überflüssigerweise. »Ich wollte eigentlich noch ein bißchen herumfahren, aber wenn dir kalt ist ...« Er sprach nicht weiter, sondern änderte den Kurs des Bootes ein wenig.

Melissa strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn, das in sanften Locken bis weit über ihren Rücken fiel, erwiderte das Lächeln des Jungen flüchtig und starrte an ihm vorbei zum gegenüberliegenden Ufer. Nacht und Entfernung hatten es zu einer drohenden, zweidimensionalen Silhouette werden lassen; eine schwarze, kompakte Masse aus unidentifizierbaren Umrissen und bizarren Türmen. Das Bild erinnerte Melissa an jene Art von Schlössern, die man häufig in Zeichentrick- oder Märchenfilmen sieht: schwarze Ungeheuer aus Stein und gestaltgewordener Furcht, bewohnt von dunklen Zaubern und Magiern und fast immer auf unbeschreibbaren Gipfeln oder inmitten grundloser Seen gelegen. Der Gedanke erschien ihr so albern und kindisch, daß sie normalerweise laut darüber gelacht hätte. Aber heute war ihr nicht zum Lachen. Immer deutlicher kam es ihr so vor, als ob sich mit der Dunkelheit eine schwarze, erstickende Decke ausgebreitet hatte, etwas, was sich wie eine unbegreifliche Barriere zwischen sie und die reale Welt geschoben hatte und langsam ihr Denken vergiftete.

Das Ufer kam rasch näher. Gleichzeitig fielen die Geräusche des Yachthafens und die Lichter der Stadt zurück. Scharrend fuhr der Bootsrumpf über Sand und Kies, als sie den Strand erreichten. Frank stellte den Motor ab, sprang leichtfüßig auf den Sand hinaus und half Melissa beim Aussteigen. Dann zog er das Boot ganz auf den feinkörnigen Sandstrand hinauf und überzeugte sich pedantisch davon, daß es nicht von einer unvorhergesehenen Welle mitgerissen werden konnte.

»Da wären wir also«, sagte er. »Coney Island - das größte Vergnügungsparadies der Stadt. Und heute abend ganz allein für uns zwei geöffnet.« Er grinste, und für einen Moment fühlte sich Melissa von seinem überschäumenden Tatendrang mitgerissen. Sie hatte Franks Idee, einfach ein Boot zu nehmen und zu dem stillgelegten Vergnügungspark hinüberzurudern, von Anfang an für nicht besonders gut gehalten. Wenn man wie sie in der South Bronx aufgewachsen war, lernte man früh, sich zu behaupten, aber man lernte auch, Gefahren weitmöglichst zu meiden. In einer Stadt, die von Wahnsinnigen und Kriminellen nur so wimmelte, in der man als Frau in jeder dunklen Gasse, an jedem etwas einsameren Platz Gefahr lief, überfallen und ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden, blieb einem gar nichts anderes übrig. Am sichersten war es, im Strom der Menge zu schwimmen, statt sich von der Herde abzusetzen.

Aber sie war jung, gerade erst volljährig, und sie war frisch verliebt. Franks Vorschlag, eine nächtliche Bootsfahrt zu unternehmen und im Anschluß daran einen Bummel durch den stillgelegten Vergnügungspark auf Coney Island zu unternehmen, hatte sich nicht nur verlockend angehört, sondern vor allem auch höllisch romantisch, und Romantik war etwas, wovon es in einem Leben in trostloser Arbeitslosigkeit zwischen billigen Bars und Discos und der Steinwüste abbruchreifer Gemäuer in den Slums viel zuwenig gab. Dennoch hatte Melissa gezögert, aber es war Frank nicht schwergefallen, sie mit zahlreichen Küssen, Versprechungen und seinem Charme umzustimmen, so linkisch und unbeholfen er manchmal auch sein mochte.

Frank war bei weitem nicht so hart und rücksichtslos, wie er sich selbst gerne gab. Unter der rauhen Schale lag ein eher sanfter Kern verborgen, der sich auch in seinen Augen widerspiegelte, und den Melissa auf Anhieb entdeckt hatte. Obwohl sie erst seit knapp zwei Wochen fest mit Frank befreundet war, zeigte ihr Einfluß bereits unverkennbare Spuren. An diesem Abend hatte er ihr zuliebe sogar seinen Bart ein wenig gestutzt und auf seine Motorradkluft verzichtet, die er sonst ständig trug. Statt dessen hatte er eine saubere Jeans und ein frisches Hemd angezogen.

»Komm schon«, sagte Frank. Er legte seinen Arm um sie, zog sie an sich und schlenderte zusammen mit ihr los. Nach wenigen Dutzend Metern schon erreichten sie den ehemaligen Rummelplatz. Melissa preßte sich enger an ihren Begleiter, und seine Nähe vermittelte ihr ein Gefühl des Schutzes, dennoch bedauerte sie es, ihm nachgegeben zu haben. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in die Geisterstadt aus Bretterbuden und verrottenden Wellblechbuden eindrangen, schien sich das Gefühl der Bedrohung zu verstärken. Später würde sie wahrscheinlich darüber lachen, so wie man sich nach einem Gruselfilm beim Verlassen eines Kinos meist kaum noch vorstellen konnte, sich während der Vorführung gefürchtet zu haben, aber im Moment war das Gefühl noch höchst gegenwärtig.

Das fahle Mondlicht ließ die Farbe an den Buden, Karussells und Häusern verblassen, aber es legte auch einen barmherzigen Schleier über die überall sichtbaren Zeichen des Verfalls; abgeblätterter Lack, heruntergefallene Dachziegel. Türen, die schräg und halbverfault in ihren Angeln hingen. Sie kamen an einer verlassenen Geisterbahn vorbei. Jemand hatte die Bretter, mit denen der Eingang zugenagelt gewesen war, heruntergerissen, und der gähnende schwarze Schlund erschien ihr wie ein Tor zu einer fremden, geheimnisvollen Welt. Melissa blieb stehen. Über dem Eingang glotzten sie die Augen eines Phantasiemonsters an, ein hornköpfiges, geschupptes Ungeheuer, vor dem sich wahrscheinlich nicht einmal kleine Kinder erschrecken würden. Daneben war etwas, das vage an eine menschliche Gestalt erinnerte, aber Regen und Zeit hatten die lackierte Oberfläche aufgebrochen und den Puppenkörper zu einer verquollenen, weißgrauen Masse werden lassen. Das einzige, was noch zu erkennen war, war eine Hand; eine Laune der Witterung hatte sie vor dem Verfall bewahrt. Sie ragte weiß und zu einer Klaue verkrümmt aus dem Rest der aufgeschwemmten Masse, fast so, als hätte hier ein bizarres Protoplasmawesen einen Menschen verschlungen.

Melissa schüttelte sich. Obwohl der Anblick sie entsetzte, verspürte sie gleichzeitig eine morbide Faszination. Die drängende, an Panik grenzende Angst wich allmählich jener Art wohligen Grauens, das sie im Kino empfand. Sie spürte, wie ihr Herz wild und hart zu hämmern begann. Ihre Finger krallten sich so fest in Franks Oberarm, daß der junge Mann zusammenzuckte.

Er grinste. »Na, habe ich zuviel versprochen? So ein bißchen Grusel ist doch ganz aufregend.«

Melissa schüttelte den Kopf, ohne zu antworten. Franks Stimme hatte seltsam laut und durchdringend geklungen, obwohl er sich Mühe gab, leise zu sein. Aber die verlassenen Gebäude schienen jedes Geräusch zu verstärken und tausendfach verzerrt zurückzuwerfen. Nein; nicht jedes, verbesserte sie sich in Gedanken. Das Geräusch ihrer Schritte beispielsweise war kaum zu hören. Der Boden schien die Laute aufzusaugen.

Irgendwo klapperte etwas - ein loser Fensterrahmen vielleicht. Eine Tür, die sich im Wind bewegte. Melissa fuhr zusammen und lächelte unsicher. »Meinst du nicht, daß wir lieber umkehren sollen?« fragte sie leise. Die Worte kamen ihr nur mühsam über die Lippen; auf gar keinen Fall wollte sie, daß Frank sie für feige hielt, und deshalb fügte sie rasch hinzu: »Hier gibt es ja doch nichts zu entdecken, und besonders romantisch finde ich diesen ganzen Dreck auch nicht. Dafür ist alles viel zu trostlos.«

»He, nun sei doch keine Spielverderberin.« Frank lachte und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Wir sind doch gerade erst angekommen. Was ist denn bloß los mit dir?«

Melissa senkte den Blick. »Ich weiß auch nicht. Ich habe mir das alles ein bißchen anders vorgestellt. Ich wollte so gern ein paar Stunden mit dir allein sein, aber hier ...« Sie zuckte nervös mit den Schultern. »Sehen wir uns noch ein bißchen um, aber laß uns nicht mehr allzu lange bleiben, okay?« Ihre Stimme bebte.

Sie drangen tiefer in das Labyrinth aus Geisterbahnen, Schießbuden und Schiffschaukeln und tausend anderen Jahrmarktsattraktionen ein. Melissa versuchte sich vorzustellen, wie es hier wohl ausgesehen haben mochte, als Coney Island noch nicht aufgegeben worden war. Coney Island, die Insel der Träume, auf der Illusionen und Wünsche für ein paar Stunden wahr werden konnten. Plötzlich glaubte sie Stimmen zu hören, das dumpfe Raunen einer riesigen Menschenmenge, die die engen Gassen bevölkerte. Kinderlachen, die Stimmen der Ausrufer, die sich gegenseitig zu überbrüllen versuchten, das Plärren von einem Dutzend Lautsprechern. In ihrer Phantasie wurde der Vergnügungspark mit all seinen Farben und Lauten, seinem Treiben, dem Lachen und den fröhlichen Kindern, die ihre Mütter um ein paar Cent für die Geisterbahn anbettelten, noch einmal lebendig. Dann verschwand die Illusion, und statt dessen tauchte noch einmal die weiße, verquollene Masse aus Pappmaché und Klebstoff auf. Eine verkrampfte menschliche Hand ragte daraus hervor. Die Musik in ihren Ohren wurde schrill und mißtönend, eine kreischende Kakophonie des Grauens, und all die fröhlichen, heiteren Menschen, mit denen ihre Phantasie die Halbinsel bevölkert hatte, begannen sich auf erschreckende Weise zu verändern. Ihre Gesichter wirkten plötzlich verzerrt. In den Augen, die Melissa hilfesuchend anzustarren schienen, stand ein Ausdruck unbeschreiblicher Qual.

Melissa ballte die Fäuste, riß die Augen auf und versuchte, den gräßlichen Anblick zu verscheuchen. Ihr Blick tastete über das Stahlskelett des Riesenrades, das hoch über die zerrissene Skyline der Geisterstadt aufragte. Ein einzelner, blasser Stern blinkte durch das Gewirr von Trägern und Streben, von dem die verrosteten Gondeln wie die Körper Gehängter baumelten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, das dieser Stern sie anstarrte; ein kaltes, gefühlloses Auge, das sie abschätzte wie ein Raubtier, bevor es seine Beute schlug. Mit äußerster Willenskraft gelang es Melissa, sich von der Vorstellung loszureißen. Die Bilder verblaßten, die Musik verklang, wurde dünner und hörte schließlich ganz auf.

Nein - nicht ganz.

Sie blieb stehen, schloß die Augen und lauschte angestrengt. Von irgendwoher wehte Musik an ihr Ohr, dünne, anspruchslose Musik, wie man sie nur auf Jahrmärkten hören konnte.

Frank war ebenfalls stehengeblieben. »Sag mal - hörst du das auch?« fragte er.

Melissa nickte wortlos. Ohne einen vernünftigen Grund dafür nennen zu können, fürchtete sie sich plötzlich vor der Musik.

»Komm. Wir gehen nachsehen«, schlug Frank vor.

Melissa zögerte. »Nein - ich würde lieber ...«

Frank wischte ihren Einwand mit einer gebieterischen Handbewegung fort. »Nun komm schon. Wahrscheinlich hat noch jemand den klaren Abend zu einem Ausflug genutzt.« Er grinste. »Vielleicht ist das eine ganz heiße Party. Gehen wir.« Er nahm sie an der Hand und zog sie hinter sich her.

Die Musik wurde lauter, als sie sich dem Zentrum des Parks näherten. Schließlich blieb Frank vor einem niedrigen, aus Wellblech und bunten Kunststoffteilen gefertigten Gebäude stehen. Die Musik drang aus seinem Inneren. Er ließ Melissa los, trat zögernd auf den Eingang zu und klopfte gegen den Rahmen. Irgendwie, fand Melissa, sah es albern aus. Sie wollte lachen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Gefühl der Bedrohung wurde stärker. Die Schatten, die bisher schweigend und drohend in ihren Winkeln gelauert hatten, schienen plötzlich auf sie zuzukriechen, sie wie eine schweigende Armee großer dunkler Tiere zu umzingeln und einzukreisen.

»Frank, ich möchte gehen«, sagte sie unsicher.

Frank drehte sich nicht einmal um. »Sei nicht albern«, murmelte er, während er mit zusammengekniffenen Augen versuchte, im abgedunkelten Inneren des Gebäudes etwas zu erkennen.

»Bitte, Frank, ich ...« Melissa brach ab und stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus. In der Dunkelheit hinter dem Eingang hatte sich etwas bewegt.

Frank wich ebenfalls zurück. Er gab sich Mühe, sein Erschrecken zu verbergen, aber Melissa konnte sogar bei der unzureichenden Beleuchtung sehen, daß seine Selbstsicherheit erschüttert war. Dann aber atmete er auf, als er sah, wer die Bewegung verursacht hatte. Es war nur ein alter, einarmiger Mann mit schütterem, schulterlangem grauem Haar, der aus dem Gebäude trat und die beiden jungen Besucher musterte. Melissa war zu weit von dem Alten entfernt, um mehr als einen verwaschenen Fleck an der Stelle auszumachen, wo eigentlich sein Gesicht sein sollte, aber sie hatte trotzdem den Eindruck, daß die Augen des Alten triumphierend aufleuchteten.

»Willkommen«, sagte er mit einer unangenehm krächzenden Stimme.

Frank nickte zaghaft. »Wir ...«

Der Alte unterbrach ihn mit einem sanften Lächeln. »Sie brauchen nichts zu erklären, junger Mann.« Er trat ein paar Schritte weiter vor und musterte Melissa und Frank mit unverhohlener Neugierde. »Kommen Sie doch herein. Wir haben geöffnet. Nur leider kommt heutzutage nicht mehr viel Kundschaft«, sagte er mit wehmütiger Stimme, dann drehte er sich um und machte eine einladende Handbewegung. Aber weder Frank noch Melissa machten Anstalten, seiner Einladung zu folgen. »Sie interessieren sich nicht für mein Kabinett?« fragte der Alte. In seiner Stimme klang Trauer mit. »Es ist das einzige, das hier noch geöffnet hat.«

Frank nickte hastig. »Doch«, sagte er verlegen. »Es ist nur ...«

»Sie sind überrascht, mich hier anzutreffen«, sagte der Alte. »Das verstehe ich. Aber kommen Sie doch herein. Wir können uns drinnen unterhalten. Es ist kühl hier draußen. Ein alter Mann wie ich friert schneller als Sie.« Er drehte sich um, schlurfte zum Eingang zurück und verschwand, ohne sich davon zu überzeugen, daß seine Besucher ihm auch tatsächlich folgten.

Frank tauschte einen verwirrten Blick mit Melissa. »Was hältst du davon?«

»Nichts«, sagte Melissa entschieden. Nun war es ihr auch egal, ob Frank sie für feige hielt. »Ich will nicht dort hinein. Ich will weg. Ich will nach Hause oder jedenfalls weg von dieser verdammten Insel.«

In diesem Augenblick flammte die Beleuchtung auf. Quer über die Front des Gebäudes gleißten Dutzende von kleinen, grellweißen Scheinwerfern, und über dem Eingang konnte Melissa in verschnörkelten Buchstaben die Worte ULTHARS SPIEGELKABINETT entziffern. Gleichzeitig wurde die Musik lauter.

Frank zuckte mit den Achseln, griff nach Melissas Hand und zog sie mit sich. Melissa sträubte sich nicht, obwohl sie sich am liebsten losgerissen hätte und weggelaufen wäre, aber noch weniger als in den Schuppen wollte sie allein sein.

Gemeinsam betraten sie das Gebäude. Ein kleiner, spärlich beleuchteter Raum nahm sie auf. Der Alte saß hinter einem niedrigen Tisch aus weißem Kunststoff und lächelte ihnen freundlich zu. »Nur keine Scheu«, sagte er, als er bemerkte, daß sie immer noch zögerten. »Es wird Ihnen gefallen. Bislang hat sich noch niemand beschwert, der mein Kabinett besucht hat.« Er beugte sich unter den Tisch und kam mit zwei Eintrittskarten wieder hoch. »Das macht einen Dollar. Für Sie beide zusammen.«

Frank runzelte die Stirn. »Augenblick, wir ...«

Auf dem Gesicht des Alten erschien Bestürzung. »Ein Dollar ist wirklich nicht viel.«

»Nein, das nicht«, entgegnete Frank hastig. »Es ist nur ...« Er brach ab, lächelte verlegen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wir ... hatten nur nicht damit gerechnet, daß Sie wirklich öffnen«, sagte er schließlich.

»Ich verstehe«, sagte der Alte. »Aber sehen Sie - ich lebe schon sehr lange hier. Ich bin ein alter Mann, müssen Sie verstehen. Wenn man so jung ist wie Sie, dann begreift man es vermutlich nicht, aber ... aber ich kann hier nicht weg. Ich habe beinahe mein ganzes Leben hier draußen verbracht, und dieses Geschäft ist alles, was ich habe.«

»Aber wovon leben Sie?« fragte Frank neugierig.

»Von meinem Geschäft. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber ich kann davon leben. Es kostet praktisch nichts - ein bißchen Strom und etwas Arbeit. Und ich selbst brauche nicht viel.«

»Aber kommen denn überhaupt Besucher?«

»Nicht viele, aber immer wieder mal welche. Sie sind nicht die einzigen, die nachts hier herauskommen. Viele Menschen kommen hierher, obwohl es eigentlich verboten ist. Und jeder, der einmal bei mir war, kommt wieder.« Er reichte Frank die Karten. »Ich mache Ihnen einen Sonderpreis. Fünfzig Cent für jeden.«

Frank stutzte, grinste flüchtig über den Scherz und kramte eine Dollarnote aus der Tasche. Der Alte nahm das Geld und legte es achtlos auf den Tisch. »Der Eingang ist dort drüben«, sagte er. Er deutete auf eine schmale, in Gold und Schwarz lackierte Tür. »Es wird Ihnen gefallen. Ich bin ganz sicher.«

Für einen Augenblick hatte Melissa das Gefühl, in Ulthars Stimme so etwas wie gehässige Befriedigung zu hören. Aber sein Gesicht blieb ausdruckslos, und der Blick seiner grauen Augen wirkte eher väterlich als verschlagen. Wahrscheinlich, sagte sich Melissa, war sie nur überreizt, hatte die Atmosphäre hier ihre Nerven so strapaziert, daß sie hinter allem und jedem eine Gefahr witterte, selbst hinter einem freundlichen, alten Mann, der nicht einsehen wollte, daß die Zeit dieses Vergnügungsparks längst abgelaufen war. Statt dessen sollte sie lieber froh sein, einen Menschen gefunden zu haben und nicht mehr länger nur mit Frank allein zu sein. Der Alte war schließlich der beste Beweis, daß hier keine Gefahr drohte.

Sie gingen durch die bezeichnete Tür. Zuerst sahen sie nichts. Der Raum war vollkommen finster, eine Dunkelheit, die alles übertraf, was Melissa jemals erlebt hatte. Sie spürte, wie ihr Herz erneut zu rasen begann. Wenige Menschen ertrugen es, totale Finsternis zu erleben. Dann glomm über ihnen ein schwachgelbes Licht auf. Es schien aus keiner sichtbaren Quelle zu stammen, sondern überall gleichzeitig aufzuglühen, als wäre die ganze Decke eine einzige überdimensionale Lampe. Gleichzeitig begannen die Wände ringsum im gleichen Farbton zu glimmen, bis sich der ganze Raum in ein Meer flackernder, orangegelber Helligkeit verwandelt hatte.

Um sie herum waren Spiegel. Sie befanden sich in einem scheinbar endlosen Raum voller Spiegel. Melissa machte einen vorsichtigen Schritt. Tausend spiegelverkehrte Ebenbilder von ihr kopierten die Bewegung. Sie streckte die Hand aus und löste damit eine ganze Lawine gleichartiger Bewegungen ringsum aus. Sie sah, wie Frank nervös lächelte. Tausend gleichgesichtige Franks lächelten zurück.

Sie trat einen weiteren Schritt vor. Der Boden unter ihr fühlte sich kühl und glatt und hart an. Als sie den Blick senkte, sah sie, daß selbst der Fußboden ein riesiger, mattsilberner Spiegel war. Ihre Angst verschwand und machte einer Mischung aus Neugier und Faszination Platz. Mit einemmal empfand sie für den Alten so etwas wie Bewunderung, mindestens aber Respekt. Wenn er die ganze Anlage hier wirklich allein in Ordnung hielt, dann war es eine ungeheure Leistung.

Melissa ging weiter. Ihre tausend vorgestreckten Fingerspitzen verschmolzen mit denen ihrer Ebenbilder und stießen auf ein Hindernis. Sie drehte sich um. Auch die Rückwand bestand aus Spiegeln. Dutzende, scheinbar Hunderte von Spiegeln, die sie selbst und Frank in immer neuen Perspektiven zeigten. Es gab keine sichtbare Unterbrechung. Der Eingang, durch den sie gekommen waren, war verschwunden.

Melissa runzelte die Stirn. Tausend Melissas kopierten die Bewegung. Sie hatte schon von solchen Spiegelkabinetten gehört, aber zuvor noch nie selbst eines betreten. Plötzlich fielen ihr Geschichten über Leute ein, die sich in einem solchen Labyrinth verirrt hatten, und schließlich befreit werden mußten, weil sie den Ausgang aus eigener Kraft nicht mehr fanden. Das hatte sie bislang für übertrieben gehalten, aber nachdem sie dieses Kabinett nun betreten hatte, erschien es ihr durchaus vorstellbar.

Mit einemmal kehrte die Angst zurück, schlimmer und quälender als zuvor. »Ich ... ich sehe keinen Ausgang«, sagte Melissa. Sie machte eine weit ausholende Geste. Die Kammer schien in einer Woge aus reiner Bewegung zu versinken, als die Spiegelbilder ihre Geste nachahmten.

Frank zögerte. »Aber es ...« Er brach ab, machte einen Schritt und prallte gegen einen der deckenhohen Spiegel. Es klirrte vernehmlich, aber das polierte Kristallglas war unbeschädigt. Franks Spiegelbild schien ihn strafend anzusehen.

»Wir müssen nur die Nerven bewahren«, sagte Frank nervös. »Das ist ja gerade der Trick hier. Wir müssen den Ausgang selbst finden. Am besten, wir gehen das Problem mit Logik an.« Er atmete hörbar ein und fuhr sich mit einer nervösen Geste über das Gesicht. »Es gibt keine Probleme, die man nicht mit Logik und einem klaren Kopf lösen kann.« Er drehte sich einmal um seine Achse und musterte die spiegelnden Wände. Es gab tatsächlich keinen Ausgang.

»Wahrscheinlich nur ein optischer Effekt«, behauptete Frank. »Es muß irgendwo weitergehen, schließlich ist das ja der Witz bei so einem Kabinett. Es wäre wenig vergnüglich, wenn man nur in einen Raum eingesperrt würde. Am besten, wir tasten uns an den Wänden entlang. Wenn wir den Durchgang aufgrund der Optik schon nicht sehen, werden wir ihn auf alle Fälle spüren.«

Wie auf ein Stichwort hin begann plötzlich einer der Spiegel zu flackern. Das Bild wurde unscharf, verschwamm, und dann gähnte dort, wo sich eben noch die Gesichter ihrer Spiegelbilder befunden hatten, ein schwarzer, rechteckiger Durchgang.

Frank lächelte verzerrt. »Na also.«

»Was ... was war das?« stieß Melissa leise hervor. »Der Spiegel ist einfach verschwunden.«

»Das sah nur so aus«, erklärte Frank. »Ein genialer Trick, wahrscheinlich eine optische Täuschung.« Seine Stimme klang nicht so kühl und sachlich, wie er es gerne gehabt hätte. »Ich werde den Alten nachher fragen, wie das funktioniert.«

Kaum waren sie durch den Durchgang getreten, schloß sich die Tür hinter ihnen wieder, und erneut umfing sie Dunkelheit, die nach wenigen Sekunden von diesem seltsamen, orangegelben Licht abgelöst wurde.

Dieser Raum war anders. Es gab keine Spiegel, keine stummen Ebenbilder an den Wänden, aber durch einen optischen Trick schien sich der Raum bis in die Unendlichkeit auszudehnen; ein rechteckiger, hoher Korridor, der sich scheinbar kilometerweit erstreckte.

»Phantastisch«, murmelte Frank. »So etwas habe ich noch nicht gesehen.«

Sie schritten langsam den Flur hinunter, die Hände tastend wie Blinde vorgestreckt und jederzeit darauf gefaßt, gegen ein unsichtbares Hindernis zu stoßen. Aber es gab keine Hindernisse, weder sichtbare noch unsichtbare. Es war nichts als ein gerader, ebener Flur, der sich endlos dahinzog.

»Ich verstehe das nicht«, raunte Melissa. »So groß ist das Gebäude doch gar nicht.«

Frank nickte. Auch ihm war der krasse Widerspruch zwischen dem kleinen Wellblechschuppen und der scheinbaren Endlosigkeit des Ganges aufgefallen. »Wahrscheinlich bewegen wir uns im Kreis, ohne es zu merken«, suchte er nach einer Erklärung.

Melissa sah ihn zweifelnd an. Irgend etwas stimmte mit diesem Kabinett nicht. Sie spürte es, und ihr gesunder Menschenverstand bestätigte das Gefühl. Sie verstand nichts von Schaustellerei und Zaubertricks, aber sie wußte, daß dieses Spiegelkabinett eine Sensation war, mit der der Alte in wenigen Jahren Millionär werden konnte, wenn er es irgendwo anders aufbauen ließe. Und wenn er absolut nicht von hier weggehen wollte, brauchte er nur etwas Reklame zu machen, dann würden die Leute auch in Scharen hierherkommen, und vielleicht würde man auch einige der anderen Attraktionen wieder neu aufbauen und in Betrieb nehmen. Niemand, der seine fünf Sinne auch nur halbwegs beieinander hatte, würde eine solche Goldgrube hier nach und nach verkommen lassen und sich darauf beschränken, den paar Jugendlichen, die so wie sie gelegentlich hierher kamen, einen läppischen Dollar Eintrittsgeld abzuknöpfen. Irgend etwas war mit diesem seltsamen Alten und seinen Spiegeln ganz und gar nicht in Ordnung.

Der Gang endete ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte. Gerade schien er sich noch unzählige weitere Kilometer vor ihnen auszudehnen, dann, von einer Sekunde auf die andere, fanden sie sich in einem runden, von mattgelber Helligkeit erleuchteten Raum wieder. Melissa blieb verblüfft stehen und drehte sich um. Die Wand hinter ihrem Rücken war glatt und fugenlos. Der Eingang, durch den sie in die Kammer gekommen waren, war verschwunden. Melissa fuhr herum, um Frank ihre Entdeckung mitzuteilen, und erst jetzt bemerkte sie, daß sie allein war.

Allein.

Allein in diesem runden, vielleicht fünf Meter durchmessenden Raum, der keinen sichtbaren Ausgang hatte. Sie drehte sich einmal um ihre Achse und stellte fest, daß sie ihren Orientierungssinn verloren hatte.

»Frank!« rief sie mit zitternder Stimme.

Die Wände schienen ihre Worte aufzusagen. Die Geräusche versickerten wie Wasser in einem trockenen Schwamm. Sie rief noch einmal nach Frank, ohne eine Antwort zu bekommen. Dafür öffnete sich in der Wand vor ihr ein weiterer Durchgang. Kalkweiße Helligkeit drang in ihre Kammer.

Melissa machte einen zögernden Schritt, dann noch einen. Vor dem Durchgang blieb sie stehen. Der Raum dahinter schien sich in nichts von dem zu unterscheiden, in dem sie sich befand, lediglich an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein hoher, ovaler Spiegel.

Sie betrat die Kammer und warf einen zögernden Blick in das geschliffene Kristallglas. Zuerst sah sie nur sich selbst und die Wand in ihrem Rücken, dann ...

Die Züge ihres Spiegelbildes verzerrten sich zu einem gehässigen Lächeln. Einige Sekunden lang starrte es sie grinsend an, dann hob es den Arm und winkte Melissa zu sich heran.

Eine eisige Hand schien nach ihr zu greifen. Melissa begann zu schreien, aber es war niemand da, der ihr helfen konnte.

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