Sheldon Porter schob den Feldstecher sorgsam in das Lederfutteral an seinem Gürtel zurück, runzelte die Stirn und ging schließlich mit fast widerwilligen Bewegungen den Hang hinunter.
»Na, irgend etwas entdeckt?« fragte Mickey.
Sheldon zögerte ein paar Sekunden, ehe er den Kopf schüttelte. »Nein«, murmelte er, griff in die Satteltasche seiner Honda und zündete sich umständlich eine Zigarette an. »Das heißt ... doch. Ich meine, da wäre jemand gewesen. Aber es war nicht Frank.«
Mickey zuckte mit den Achseln, reckte sich und gähnte ungeniert. »Wenn du mich fragst«, sagte er, »vergeuden wir hier unsere Zeit. Wir sollten machen, daß wir wegkommen. Wahrscheinlich hat sich Frank mit der Braut irgendwohin abgesetzt, um ein paar Tage ungestört zu sein. Er würde sich totlachen, wenn er uns hier sehen würde.«
Sheldon nickte abwesend. Er hatte nur mit halbem Ohr hingehört, aber er war froh, daß Mickey nicht weiter nachfragte. Er war sich sicher, daß er jemanden gesehen hatte, als er auf dem Hügelkamm lag und durch das Okular des Feldstechers nach Coney Island hinüberstarrte, aber irgend etwas war - seltsam gewesen. Er wußte nicht, was ihn an der Gestalt gestört hatte, dafür war die Zeit zu kurz gewesen, bis sie wieder zwischen den Gebäuden verschwunden war, doch seine Neugier war geweckt.
Mickey grinste, schwang sich mit einer geschmeidigen Bewegung in den Sattel seiner Kawasaki, die neben Sheldons Honda abgestellt war und mit ihrem bulligen Sechs-Zylinder-Motor wie ein Überbleibsel aus grauer Vorzeit wirkte, tippte auf den Anlasser und kickte den Seitenständer weg. »Laß uns abhauen!« schrie er über den Lärm der leerlaufenden Maschine hinweg. »Ist nicht so gut, so lange hier herumzustehen. Womöglich kommen noch die Bullen vorbei und stellen einen Haufen dummer Fragen.«
Sheldon zuckte in gespieltem Gleichmut mit den Achseln. »Ist nicht verboten, am Strand zu stehen, oder?« fragte er.
Mickey starrte ihn einen Moment lang nachdenklich an. »Von mir aus bleib noch hier«, sagte er schließlich. »Ich habe jedenfalls zu tun. Sehen wir uns heute nachmittag?«
Sheldon nickte. »Bei Steve«, sagte er.
Mickey grinste zum Abschied, legte den Gang ein und fuhr los. Die Maschine wälzte sich wie ein Mammut über Gras und Büsche, riß einen tiefen, feuchtglänzenden Streifen in das wildwuchernde Gras der Böschung und sprang mit einem Satz auf den Asphalt der Straße hinaus.
Sheldon starrte ihr nach, bis das infernalische Dröhnen des Motors in der Ferne verklungen war. Dann schnippte er seine erst halb aufgerauchte Zigarette im hohen Bogen von sich, fuhr auf dem Absatz herum und eilte die gegenüberliegende Böschung hinauf. Als er oben angekommen war, fiel sein Blick auf die endlose blaue Fläche des Atlantiks. Zur Linken erstreckte sich das bunte Durcheinander des Yachthafens, der zu dieser frühen Morgenstunde noch nicht so recht erwacht zu sein schien. Ein altersschwacher Schlepper dümpelte mit leise tuckerndem Motor aufs offene Meer hinaus; das einzige Anzeichen von Leben. Aber der Yachthafen interessierte Sheldon nicht, zumindest im Augenblick. Er ging in die Knie, löste den Feldstecher ein weiteres Mal von seinem Gürtel und setzte ihn an. In dem vergrößernden Doppelkreis der Optik erschien der langgezogene Umriß von Coney Island, das wie eine ausgestreckte, fingerlose Hand ins offene Meer hinauszugreifen schien.
Einige Minuten lang beobachtete Sheldon die Buden und Schuppen des stillgelegten Vergnügungsparks, ohne die Gestalt noch einmal zu entdecken, die er gesehen zu haben glaubte.
Er nahm das Fernglas herunter, als er plötzlich bemerkte, wie sich das Riesenrad, dessen obere Hälfte über den Gebäuden aufragte, zu bewegen begann. Sheldon blinzelte, wischte sich den Schweiß aus den Augen und setzte den Feldstecher wieder an.
Er hatte sich nicht getäuscht. Das alte, seit Jahren außer Betrieb befindliche Riesenrad begann sich zu drehen, langsam, fast widerwillig, als sträubte es sich gegen die Bewegung. Er meinte sogar, das protestierende Kreischen der eingerosteten Gelenke bis zum Festland hören zu können, obwohl er genau wußte, daß es nur Einbildung sein konnte.
Ein dunkler Punkt, der dicht über dem Rand kreiste, erregte seine Aufmerksamkeit. Verwirrt runzelte Sheldon die Stirn, richtete den Feldstecher höher und drehte ein wenig an der Schärfeneinstellung. Die Entfernung war zu groß, als daß er die Kreatur genau erkennen könnte, aber es handelte sich nicht um einen Vogel, wie er zuerst gedacht hatte, sondern um etwas anderes. Sheldon zuckte erschrocken zusammen, und beinahe wäre ihm das Fernglas aus der Hand gefallen.
Er zwang sich zur Ruhe. Wieder blinzelte er ein paarmal und setzte das Glas ab. Als er es wieder ansetzte, schwebte die Kreatur immer noch über dem Riesenrad, das mittlerweile wieder zum Stillstand gekommen war. Was er sah, war kein Trugbild, das ihm seine überreizten Nerven vorgaukelten. Noch vor ein paar Sekunden hatte er es bedauert, kein stärkeres Glas mitgenommen zu haben, aber jetzt war er plötzlich froh, die unheimliche Erscheinung nicht in allen Einzelheiten erkennen zu können. Das wenige, was er sah, reichte vollkommen aus, um ihm einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen.
Sheldon versuchte erst gar nicht, eine Erklärung zu finden. Er war noch nie sonderlich phantasiebegabt gewesen, und der geradezu stoische Gleichmut, den er vielen Geschehnissen gegenüber an den Tag legte und alles verdrängte, was nicht in sein Konzept paßte, hatte Frank, Mickey und die anderen ein paarmal fast zur Raserei getrieben.
Eine Bewegung am westlichen Rand der Halbinsel lenkte Sheldons Aufmerksamkeit auf sich. Er sah eine junge, schwarzhaarige Frau zwischen den Hütten hervorgetaumelt kommen. Sie schaute sich angsterfüllt um und eilte dann auf ein Boot zu, das ein Stück von ihr entfernt am Strand lag. Sie schien am Ende ihrer Kräfte zu sein. Nur mit äußerster Mühe schaffte sie es, das Boot ins Wasser zu schieben und hineinzuklettern.
Weitere Gestalten tauchten zwischen den Hütten auf, die meisten von ihnen Männer, doch sie kamen zu spät. Ihre Gesichter und Gesten verrieten deutlich ihre Wut darüber, daß ihnen die Frau entkommen war.
Sheldon hatte genug gesehen. Er sprang auf, fuhr herum und lief mit Riesenschritten auf seine Maschine zu. Mit einem einzigen, gekonnten Satz war er im Sattel, riß die Honda mit dem verbleibenden Schwung vom Ständer herunter und warf den Gang ein. Der Motor der Honda brüllte auf, das Vorderrad stieg einige Handbreit in die Luft, kippte federnd zurück und riß die Maschine vorwärts. Sheldon bot sein ganzes fahrerisches Können auf, um die für dieses Gelände denkbar ungünstige Straßenmaschine über den welligen, mit Schlaglöchern und heimtückischen Fallgruben durchsetzten Boden zu katapultieren. Die Uferböschung verbarg das Meer vor seinen Blicken, aber er hatte sich die Stelle eingeprägt, an der das Boot an Land kommen mußte.
Er wich einer Gruppe verkrüppelter Bäume aus, walzte durch niedriges Buschwerk und Sträucher und schoß schließlich die steile, rutschige Flanke der Düne hinauf. Das Hinterrad der Honda drehte auf dem feuchten Gras protestierend durch. Sheldon spürte, wie er Geschwindigkeit verlor, und spielte vorsichtig mit Gas und Kupplung, um das Motorrad auf Kurs zu halten. Dann war er oben, tippte vorsichtig auf die Bremse und schoß mit aufheulendem Motor den gegenüberliegenden Hang hinunter. Er hatte richtig geschätzt - das Boot befand sich keine zwanzig Meter westlich von ihm und rutschte mit jeder Welle ein Stück weiter den Strand hinauf. Von der Frau war nichts zu entdecken.
Sheldon hätte um ein Haar den Lenker verrissen, als er das fliegende Ungeheuer zum ersten Mal aus der Nähe sah, das ein Stück über dem Boot in der Luft schwebte und wütend über den Strand schrie. Wenn er Zeit zum Überlegen gehabt hätte, hätte er wahrscheinlich die Maschine herumgerissen und die Flucht ergriffen, aber das Monster ließ ihm diese Zeit nicht. Es entdeckte ihn im gleichen Augenblick, als Sheldon es sah, und der kleine, häßliche Kopf ruckte herum. Die riesigen, ledrigen Schwingen pflügten scheinbar schwerfällig durch die Luft, und aus der Kehle des Wesens drang ein weiterer krächzender Schrei. Mit einer ungeheuer kraftvollen Bewegung warf sich die Kreatur herum und stürzte sich auf das neue Opfer. Ihre messerscharfen Krallen funkelten wie Dolche in der Sonne.
Sheldon reagierte rein instinktiv. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, duckte sich tief über den Lenker und gab im gleichen Augenblick Gas, als die Bestie auf ihn herunterstieß. Die riesigen Flügel rauschten wenige Zentimeter über ihm durch die Luft; die dolchartigen Krallen kratzten mit häßlichem Geräusch über seinen Helm und glitten daran ab, Sheldon riß die Maschine herum, bremste abrupt ab und griff mit der Linken unter seine Jacke. Als er sie wieder hervorzog, hielt er eine zusammengerollte, vielgliedrige Stahlkette in der Hand. Er wartete bis zum letztmöglichen Augenblick, bis die Kreatur ihn fast erreicht hatte, dann erst ließ er sich aus dem Sattel fallen. Die Kette zischte durch die Luft, zerfetzte die rechte Schwinge des Monstrums und ließ die Knochen wie dünne Schilfrohre zerbrechen. Ein mörderischer Ruck fuhr durch Sheldons Handgelenk, als sich das Ende der Kette um den Stumpf der Schwinge wickelte. Er wurde hochgerissen, und für einen Moment schien es fast so, als würde sich die Kreatur trotz der Verletzung und des zusätzlichen Gewichts noch einmal in die Luft erheben, aber dieses letzte Aufbäumen dauerte nur wenige Sekunden.
Mit aller Kraft riß Sheldon an der Kette. Das Ungeheuer bäumte sich in der Luft auf, warf den Kopf in den Nacken und trudelte hilflos zu Boden. Seine schrecklichen Klauen schlugen in sinnloser Wut in den Sand. Sheldon ließ der Bestie keine Chance. Mit einem wütenden Ruck befreite er seine Kette, sprang außer Reichweite der umherpeitschenden Flügel und hieb nach ihrem Kopf. Zwei-, dreimal schlug er mit aller Kraft zu, dann lag die alptraumhafte Kreatur reglos vor ihm. Schwarzes, schleimig glänzendes Blut tropfte aus dem zertrümmerten Schädel und versickerte im Sand, doch gleich darauf ging eine erschreckende Veränderung mit der toten Kreatur vor. Ihre Konturen begannen zu flimmern, wurden unscharf, als befände sie sich unter einer von sanften Wellen bewegten Wasseroberfläche.
Dann begann sie sich aufzulösen.
Vor Sheldons fassungslos aufgerissenen Augen verlor sie an Festigkeit, wurde durchscheinend wie eine schwache Holographie. Nach wenigen Sekunden war der gewaltige Leichnam der Bestie vollends verschwunden, einschließlich der Blutspuren. Nur eine Mulde im Sand zeichnete noch den Umriß ihres Körpers nach und bewies Sheldon, daß er nicht nur geträumt hatte.
Ungläubig und von beinahe noch größerem Schrecken als zuvor beim Anblick der Bestie erfüllt, wich er ein paar Schritte zurück. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und bei jeder Bewegung zuckte ein lähmender Schmerz durch sein Handgelenk. Keuchend ließ er die Kette fallen und massierte seinen schmerzenden Unterarm, während er versuchte, etwas Ruhe in seine aufgewühlten Gedanken zu bringen.
Ein leises, kaum hörbares Stöhnen ließ ihn herumfahren. Eine Hand tastete mit unsicheren Bewegungen über den Rand des Bootes, das noch immer mit sinnlos laufendem Motor versuchte, den Strand zu erklimmen.
Sheldon lief los.
In dem Boot lag der zusammengekrümmte Körper einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau. Sheldon erkannte, daß sie normalerweise sehr schön sein mußte, aber im Augenblick bot sie einen eher bemitleidenswerten Anblick. Ihre Kleider waren verdreckt und zerrissen.
Zahllose Kratz- und Schnittwunden bedeckten ihre Haut, und ihr schwarzes, schulterlanges Haar war verklebt von Blut und feuchtem Sand. Sie atmete keuchend und versuchte kraftlos, sich über den Bootsrand zu ziehen. Sheldon ergriff ihre Handgelenke und hob sie behutsam so weit aus dem Boot, daß er unter ihre Achseln greifen konnte. Sie war überraschend leicht. Sie stöhnte unter seiner Berührung und machte einen schwachen Versuch, seine Hände abzustreifen. Sheldon ignorierte es.
Er hatte längst aufgehört, eine Erklärung für die phantastischen Vorgänge finden zu wollen, die er beobachtet hatte. Sein Blick irrte unsicher über das Meer nach Coney Island hinaus. Ohne sein Fernglas konnte er die Gestalten am gegenüberliegenden Ufer nur als winzige schwarze Punkte ausmachen, aber er war sicher, daß sie den Kampf mit dem Vogel beobachtet hatten. Wahrscheinlich würden sich jetzt schon einige von ihnen auf dem Weg hierher befinden.
Er schleifte den Körper der halb bewußtlosen Frau auf den Strand, legte sie behutsam auf den Rücken und beugte sich über sie. Ihr Gesicht zuckte vor Schmerz, als er ihre Wange berührte. Wahrscheinlich hatte sie Fieber. »Können Sie mich verstehen?« fragte er leise.
Sie stöhnte, warf den Kopf hin und her und öffnete die Augen. Ihr Blick flackerte unstet. Sie versuchte zu nicken, aber die Bewegung war mehr zu ahnen als wirklich zu erkennen.
»Wir müssen hier weg«, sagte Sheldon eindringlich. »Verstehen Sie mich? Wir müssen weg. Die Leute, die hinter Ihnen her sind, werden jeden Augenblick hier auftauchen.« Er zögerte. »Glauben Sie, daß Sie auf einem Motorrad mitfahren können?« fragte er.
Die junge Frau nickte erneut, aber Sheldon bezweifelte, daß sie seine Worte überhaupt verstanden hatte.
Wahrscheinlich war dieses Nicken nur ein reiner Reflex auf den Klang seiner Stimme.
Er stand auf, ging zu seiner Maschine hinüber und richtete sie keuchend auf. Dann kehrte er zu der Frau zurück, hob sie vorsichtig hoch und setzte sie behutsam auf die Honda. Sie fiel kraftlos vornüber und wäre erneut zu Boden gestürzt, wenn Sheldon sie nicht an den Schultern festgehalten hätte. Er schwang sich vor ihr in den Sattel, bettete ungelenk ihren Kopf auf seiner Schulter und löste mit hastigen Bewegungen seinen Gürtel. Es war ein schweres Stück Arbeit, bei dem die Frau mehr als einmal aus dem Sattel zu rutschen und zu Boden zu fallen drohte, aber schließlich hatte er sie provisorisch mit dem Gürtel an sich gebunden. Er startete den Motor, fuhr vorsichtig durch den lockeren Sand und gab Gas, als das erste Gras unter den Reifen der Maschine auftauchte.