7

Direkt nachdem sein Besucher gegangen war, traf Ulthar erste Vorkehrungen. Es war zu früh, noch einmal Kontakt mit Melissa aufzunehmen. Er hatte einen ersten Anstoß gegeben, mehr zu tun wäre für den Moment zu gefährlich. Zudem erforderte die Beschwörung viel Kraft, und die brauchte er gegenwärtig für andere Aktivitäten.

Conelly versuchte, ihn auf die hinterhältigste Art zu betrügen. Er warf ihm einen kleinen Köder hin, um ihn damit abzulenken, während es sein wahres Ziel war, Melissa zu töten. Aber Ulthar war entschlossen, den Spieß umzudrehen. Zu lange schon war er passiv geblieben, um so geschickter mußte er jetzt taktieren. Es gab vieles nachzuholen, und ihm würde nicht viel Zeit bleiben, um Conelly zu täuschen.

Wenn es ihm gelang, Melissa zu befreien und sich erneut mit ihr zu verbünden, wären sie gemeinsam so mächtig, daß Conelly dies nicht einfach hinnehmen würde. Er würde versuchen, sie beide zu vernichten, aber er hatte bereits jetzt einen entscheidenden Fehler begangen. Der Pakt war eine Farce, aber durch ihn würde Ulthar sowohl den Köder als auch die Beute schlucken können, wenn er es geschickt genug anstellte - und Conelly noch dazu. Der Monstermacher würde sich wundern, wenn er erfuhr, wie mächtig die Spiegel in Wahrheit bereits waren, wie unbedeutend seine Kreaturen sich gegen die in den Spiegeln wartende Armee ausnahmen.

Die Sinne der meisten Menschen waren verkümmert, so daß sie nur einen winzigen Teil der Welt wahrnahmen und diesen für das Ganze hielten, so wie ein Blinder vielleicht durch Ertasten Form und Oberfläche eines Gegenstandes erkennen konnte, aber nicht einmal ahnte, daß es auch so etwas wie Farben und Muster gab. Aber seit Anbeginn der Zivilisation hatte es immer wieder auch Menschen gegeben, deren Bewußtsein schärfer, umfassender war und das es ihnen ermöglichte, auf unterschiedliche Art in die Bereiche jenseits der normalen Wahrnehmungsfähigkeit einzudringen; Bereiche, die so phantastisch und bizarr waren, so voller Wunder, aber auch fremdartiger Gefahren, daß sie schon das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen überstiegen.

Melissa hatte sich weit in diese Bereiche vorgewagt, vielleicht zu weit. Ulthar hatte die Geschichten über ihren Tod nie geglaubt. Zunächst war es angeblich nur ein Unfall gewesen, dann hatten Conellys Leute Spuren gefunden, die darauf hindeuteten, daß eine Gruppe fanatischer Hexenjäger, die sich als Nachfolger der spanischen Inquisition betrachteten, sie ermordet hatten. Die Wahrheit jedoch würde ihm nur Melissa selbst erzählen können.

Fast zwei Stunden verharrte Ulthar reglos. Sein Gesicht war unbewegt, eine steinerne Maske, auf der keinerlei Gefühlsregung abzulesen war, aber in seinem Inneren brodelte es. Der Moment, auf den er jahrzehntelang gewartet hatte, war gekommen, doch nun, da es endlich soweit war, verspürte Ulthar nicht nur Aufregung, sondern auch Angst. Zuviel hing von dem ab, was in den nächsten Stunden passieren würde, und unbarmherzig spürte er auch die fortschreitende, durch sein hohes Alter bedingte Schwäche seines Körpers. Die Beherrscher der Spiegel hatten ihm eine ungeheure Macht verliehen, aber wie jedem anderen Menschen waren auch ihm in dieser Hinsicht Grenzen gesetzt.

Noch.

Bald jedoch würde er auch dieses Problem lösen. Ulthar versuchte, seine Erregung zu unterdrücken. Er mußte einen klaren Kopf behalten. Seine Vorbereitungen waren schon zu weit gediehen, als daß er jetzt noch einen Fehler begehen durfte. Bei einem Gegner wie Conelly konnte jede noch so kleine Nachlässigkeit tödlich sein. Sobald der Monstermacher merkte, daß er nicht mehr länger die Regeln des Spiels bestimmte, würde er mit aller Macht zuschlagen.

Eine Tür wurde geöffnet, und ein junger Mann in einem billigen Anzug trat ein. »Nun?« erkundigte sich Ulthar.

»Es hat alles wie vorgesehen geklappt«, antwortete der Mann. Er griff in die Tasche, zog eine Kette mit einem Anhänger heraus. Ulthar betrachtete das Amulett nachdenklich. Auch er spürte die darin schlummernden Kräfte. Sie waren nicht besonders stark, der bläulich glänzende Stein wirkte eher wie ein Prisma, das paranormale Energien bündelte und dadurch verstärkte. Er selbst konnte nicht viel damit anfangen, seine Spiegel, die er in ähnlicher Weise nutzen konnte, waren ungleich mächtiger, aber der Verlust des Amuletts würde Vivian Taylor schwächen. Er steckte die Kette in die Tasche und verließ das Zimmer, ging durch einen niedrigen, mit dunklem Samt ausgekleideten Raum und betrat schließlich sein Allerheiligstes: einen weiten Saal, dessen Dimensionen im krassen Gegensatz zu den äußeren Abmessungen des Gebäudes standen. Hunderte von großen rechteckigen und in weiße Leinentücher eingeschlagene Spiegel standen in scheinbarem Durcheinander auf dem schimmernden Boden, bildeten ein verwirrendes Labyrinth von Gängen und Kreuzungen, Sackgassen und Abzweigungen und verliehen dem Raum eine eigene, irgendwie bedrückende Geometrie.

Ulthar schlurfte zielsicher durch die schmalen Gänge. Jeder Fremde hätte sich hier hoffnungslos verirrt, aber der alte Magier hätte den Weg sogar mit geschlossenen Augen gefunden.

Am Ende eines langen, schmalen Ganges, dessen Wände aus verhangenen Spiegeln bestanden und nach innen geneigt waren, blieb er stehen. Er zögerte einen winzigen Augenblick, ehe er nach dem Leinentuch griff und es mit einem entschlossenen Ruck herunterzog. Das Spiegelbild, das ihm entgegenstarrte, gehörte nicht ihm. Der Spiegel zeigte ein getreues Abbild des Ganges mit seinen weißen, an eine Leichenhalle erinnernden Wände und des klinisch sauberen Fußbodens. Und der Mann darin war nicht Ulthar.

Ein triumphierendes Lächeln huschte über Ulthars Gesicht, als er die schlanke, hochgewachsene Gestalt musterte. Der Mann mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; vielleicht ein wenig älter. Sein Gesicht war fein geschnitten, und in den Augen lag ein intelligenter, überlegener Ausdruck.

»Cramer ...« murmelte Ulthar triumphierend. »Jeremy Cramer ...«

Ein unmerkliches Zittern schien über das Spiegelbild zu laufen. Das Gesicht bewegte sich, zeigte plötzlich einen Ausdruck tiefster, verzweifelter Qual, und in die Augen trat ein bittender Ausdruck.

»Du erinnerst dich nicht an mich, wie?« flüsterte Ulthar.

Das Cramer-Spiegelbild bewegte die Lippen.

»Gib dir keine Mühe«, kicherte Ulthar. »Du bist gefangen. Erinnerst du dich wirklich nicht an mich? Es ist lange her, Jeremy. Du warst damals noch jung, ein unbedeutender kleiner FBI-Agent, der gerade erst von der Akademie kam. Damals war ich noch bereit, der Welt meine Spiegel zu schenken, aber ihr wolltet sie ja nicht. Ihr habt mich gejagt, und euch habe ich den Verlust meines Arms zu verdanken. Du erinnerst dich nicht einmal mehr daran, nicht? Aber ich habe euch nicht vergessen. Weder dich noch all die anderen Narren, die mich gedemütigt und über mich gelacht haben.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Haß. Als er weiter sprach, zitterte seine Stimme vor Erregung. »Nun ist der Tag meiner Rache da, Jeremy. Du bist der erste, der sie zu spüren bekommt, aber du wirst nicht allein bleiben, verlaß dich darauf.«

Er machte eine knappe Geste, und ein Mann betrat den Raum durch die gleiche Tür, durch die Ulthar zuvor gekommen war. Der Mann war Jeremy Cramer. Er trat neben Ulthar vor den Spiegel und betrachtete mit gefühlloser Miene sein Spiegelbild, das ihn seinerseits mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen musterte. Nach wenigen Sekunden verließ Jeremy Cramer das Zimmer wieder.

»Wie du siehst, entsteht der Welt durch deine Gefangenschaft hier keinerlei Verlust«, wandte sich Ulthar wieder an das Spiegelbild. »Man wird dich nicht einmal vermissen, aber von nun an wird das FBI in New York nur noch tun, was ich will.«

Er kicherte erneut, warf das Tuch mit gekonntem Schwung wieder über den Spiegel und ging zu einer schmalen, metallverkleideten Tür an der Rückwand des Raumes hinüber. Auch dahinter erstreckte sich ein langer, niedriger Gang, der ganz mit Spiegeln ausgekleidet war, voller sinnverwirrender Kreuzungen und Irrwege. Ulthar ging ihn entlang, bis er schließlich einen weiteren niedrigen Raum erreichte, der von flackernden Kerzen nur spärlich erleuchtet wurde. Im Zentrum des Raumes stand ein riesiger, in kostbare Schnitzereien gerahmter Spiegel. Ulthar trat darauf zu, murmelte ein paar halblaute Worte und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Graue Nebelschwaden schienen für einen Moment über die riesige Kristallfläche zu wallen, dann klärte sich das Bild, und Conelly hatte das Gefühl, durch ein übergroßes Fenster auf den Ballsaal zu starren, in dem Conellys Jubiläumsfeier gerade dem Höhepunkt zustrebte.

Die Falle war bereits zugeschnappt, und wie Conelly versprochen hatte, waren wirklich alle da, die in dieser Stadt Rang und Namen hatten. Keiner von ihnen würde entkommen, und sie würden allein ihm gehorchen, nicht Conelly. Der Monstermacher selbst spielte sie ihm in die Hand.

Zunächst aber ging es um Wichtigeres. Vivian Taylor mußte in Sicherheit gebracht werden, bevor Conelly sie in die Hände bekommen konnte. Ulthar berührte den Spiegel erneut, und die Szene wechselte. Ein hoher, von Schatten und jahrzehntealtem Staub erfüllter Raum. Auf dem Boden standen Kisten, Kartons und ausrangierte Möbelstücke herum, und im Hintergrund nahm Ulthar eine vage Bewegung wahr.

»Fangt an!« flüsterte er.


Mark hatte alle Mühe, dem Mann unauffällig zu folgen. Ein- oder zweimal verlor er ihn in dem Menschengewühl der Party, aber er hatte sich das schmale Gesicht mit den stechenden Augen gut genug eingeprägt, um es wiederzuerkennen. Er fand ihn schließlich bei einer Gruppe etwas abseits stehender Männer - Bender, Conelly, FBI-Direktor Cramer und noch fünf oder sechs weitere wichtige Persönlichkeiten der Stadt, deren Namen ihm nicht auf Anhieb einfielen. Der Mann redete mit schnellen, hastigen Worten auf Conelly ein und unterstrich seine Ausführungen mit kleinen, nervösen Handbewegungen. Conelly hörte offenbar interessiert zu. Mark konnte die Worte nicht verstehen, aber nach dem Gesichtsausdruck des Bürgermeisters zu schließen, mußte es sich um eine ernste Angelegenheit handeln, und Mark konnte sich auch denken, was.

Er wich mit einer hastigen Bewegung in eine Wandnische zurück, als Conelly den Kopf hob und mit angespanntem Gesichtsausdruck über die Menge blickte. Mark war sich darüber im klaren, daß er einen ziemlich albernen Anblick bieten mußte, wie er so in der Nische stand, den Rücken eng gegen die Wand gepreßt, und mit einem Auge um die Ecke blinzelnd. Drei oder vier der umstehenden Partygäste drehten bereits die Köpfe und warfen ihm teils belustigte, teils fragende Blicke zu.

Mark grinste dümmlich, trat vor und drehte der Gruppe den Rücken zu. Seine Hand fuhr in die Tasche und kam mit einem kleinen, ledernen Frisieretui wieder zum Vorschein. Der Spiegel darin war zwar winzig, aber er würde zur Not ausreichen, um Conelly und seine Gesprächspartner - oder wenigstens Cramer - einigermaßen unauffällig zu betrachten.

Mark unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Aufschrei, als sein Blick in den Spiegel fiel.

Die Nische hinter ihm war fast leer. Weder Cramer noch Bender, noch einer der anderen Männer war in dem winzigen Spiegel zu sehen. Conelly schien ganz allein in der Nische zu stehen. Mark fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte mit ungläubigem Entsetzen auf die acht Männer. Für einen kurzen, grauenhaften Moment traf sich sein Blick mit dem Conellys. Der Bürgermeister lächelte dünn, aber es war eine Geste ohne jede Bedeutung, ein leeres, schon fast hämisches Verziehen der Lippen. Sein Gesicht wirkte plötzlich hart und grausam, und in den kleinen, dunklen Augen schien etwas unendlich Böses, Lauerndes zu liegen. Mark hatte Mühe, sich dem hypnotischen Einfluß dieser Augen zu entziehen.

Conelly nickte ihm mit scheinbarer Freundlichkeit zu, aber es schien Mark, als wolle ihm der dickleibige Bürgermeister auf diese wortlose, direkte Art mitteilen: Wir haben dich schon, Freund. Streng dich ruhig an. Es hat sowieso keinen Sinn. Gleich darauf drehte Conelly den Kopf zur Seite, sagte irgend etwas zu Cramer und ging mit schnellen Schritten davon.

Mark folgte ihm. Er spürte die Blicke der anderen in seinem Rücken. Er kam sich plötzlich vor wie ein kleines Kind, das mit geschlossenen Augen in einer Ecke sitzt und glaubt, daß es nicht zu sehen sei, weil es selbst nichts sehen kann.

Conelly durchquerte den Raum mit weit ausgreifenden Schritten, sah sich um und verschwand dann hinter einer Marmorsäule. Mark folgte ihm. Keiner der anderen Gäste schien von seinem seltsamen Benehmen Notiz zu nehmen.

Hinter der Säule befand sich eine schmale, kaum sichtbare Tapetentür. Mark zögerte eine halbe Sekunde, ehe er mit einer entschlossenen Bewegung nach dem Griff langte und hindurchschlüpfte.

Muffige, abgestanden riechende Luft schlug ihm entgegen, als er den schmalen Gang betrat. Eine nackte Glühbirne, die an einem einfachen Draht von der Decke baumelte, erfüllte den langen Korridor mit düsterstem Zwielicht. Mark zog die Tür hinter sich wieder ins Schloß und lauschte. Irgendwo vor ihm waren Schritte zu hören, das Trampeln von harten Schuhsohlen auf knarrendem Holz.

Nach all der glitzernden Pracht und dem zur Schau gestellten Luxus der Party kam Mark der schmale Gang doppelt schäbig vor. Die Wände bestanden aus nackten, unverputzten Steinen, zwischen denen der Mörtel hervorbröckelte. Auf dem Fußboden lag eine dicke Staubschicht, in der sich Conellys Spuren überdeutlich abzeichneten. Die trübe Glühbirne erfüllte den Gang mit einem seltsamen unwirklichen Licht, in dem die Schatten zu unheilvollem Leben zu erwachen schienen. Mark kam sich plötzlich vor, als wäre er in einer gigantischen Rattenfalle gefangen. Mit klopfendem Herzen setzte er sich in Bewegung und folgte den Fußspuren des Bürgermeisters.

Der Gang gabelte sich nach etwa dreißig Metern. Mark schlich vorsichtig weiter. Der Gang verengte sich, wurde schließlich so schmal, daß Mark mit den Schultern an der Wand entlangstreifte, und endete dann abrupt vor einer steilen, ausgetretenen Holztreppe, die in die Höhe führte.

Irgend etwas warnte Mark hinaufzugehen. Plötzlich sah er wieder Conellys kalte, stechende Augen vor sich, den mühsam unterdrückten Triumph darin. Wahrscheinlich tat er genau das, was Conelly und die anderen von ihm erwarteten, dennoch konnte er nicht anders.

Er streckte die Hand nach dem morschen Treppengeländer aus, setzte vorsichtig den Fuß auf die unterste Stufe und zog sich hinauf. Das Holz knarrte so laut unter seinem Gewicht, daß er glaubte, das Geräusch müsse im ganzen Haus gehört werden.

Vorsichtig, Stufe um Stufe, schlich er höher. Conellys Schritte waren jetzt nicht mehr zu hören, aber dafür glaubte er, aus den über ihm liegenden Räumen dumpfes Stimmengemurmel wahrzunehmen. Ein niedriger Türrahmen tauchte vor ihm auf. Mark zog den Kopf ein, stieß sich das Schienbein an einem unsichtbaren Hindernis und unterdrückte mühsam einen Schmerzenslaut. Er hätte viel für eine Taschenlampe oder wenigstens ein Streichholz gegeben. Aber er war schließlich zu einer Party gegangen, nicht zu einer Abenteuersafari.

Die Treppe machte einen scharfen Knick, führte weitere zwanzig oder fünfundzwanzig Stufen steil empor und endete dann abrupt vor einer niedrigen Brettertür. Er mußte sich jetzt unmittelbar unter dem Dachgeschoß des Hauses befinden.

Mark preßte das Ohr gegen die Tür und lauschte. Er hörte dumpfe Schritte, Stimmen und eine Reihe weiterer unidentifizierbarer Geräusche. Sein Verdacht wurde zur Gewißheit. Irgend etwas war mit Conellys sogenannter Party faul. Er tastete im Dunkeln nach dem Türgriff, fand ihn und ging vorsichtig in die Knie, um durch das Schlüsselloch zu spähen.

Er hatte richtig vermutet. Hinter der Tür befand sich der Dachboden - ein weiter, von freistehenden Balken und ausrangierten Möbeln beherrschter Raum, der von einem Dutzend brennender Taschenlampen in fleckige Helligkeit getaucht wurde. Conelly stand mit dem Rücken zu ihm vor einer Gruppe von vielleicht zwanzig sonderbar aussehenden Männern. Ihre Kleidung bestand aus einem scheinbar sinnlos zusammengewürfelten Haufen von Straßenanzügen, Overalls, Uniformen, Sommer- und Wintermänteln, die fast ausnahmslos veraltet und aus der Mode gekommen waren. Einer von ihnen kam dicht genug an Marks Position vorbei, daß er ihn in allen Einzelheiten begutachten konnte. Der Mann trug nicht nur einen Haarschnitt, der den ›Pilzköpfen‹ der Beatles exakt glich, er wirkte ganz so, als hätte er sich um drei Jahrzehnte in der Zeit geirrt.

Hinter den Männern war ein hoher, rechteckiger Umriß zu erkennen, der Mark entfernt an einen überdimensionalen Bilderrahmen erinnerte.

»Ihr wißt Bescheid«, sagte Conelly gerade. »Niemand tut etwas ohne meinen ausdrücklichen Befehl. Geht jetzt auf eure Plätze und wartet.« Er machte eine befehlende Geste, und die Männer setzten sich gehorsam in Bewegung.

Mark wartete mit angehaltenem Atem, bis das dumpfe Poltern der Schritte verklungen war. Irgendwo wurde knarrend eine Tür geschlossen.

Conelly war jetzt allein auf dem Dachboden. Mark spannte sich unwillkürlich. Wenn er überhaupt eine Chance hatte, den Bürgermeister allein zu fassen zu kriegen, dann jetzt. Aber er kam nicht mehr dazu, die Tür aufzureißen und Conelly zur Rede zu stellen. Der Bürgermeister, ging mit schnellen, energischen Schritten auf den riesigen Rahmen zu und - verschwand.

Mark sprang auf, rammte die Tür mit der Schulter auf und war mit einem Satz auf dem Dachboden. Trockene, zum Husten reizende Staubwolken wallten unter seinen Füßen auf, und der Lärm, mit dem die zerborstenen Türrahmen auf den Boden polterten, schien überlaut in seinen Ohren zu gellen.

Er war allein.

Für die Dauer eines Atemzuges blieb er bewegungslos stehen und lauschte. Aber das einzige Geräusch, das er hörte, war das leise Echo der Musik, die von der Party heraufwehte. Mark machte ein paar zögernde Schritte, blieb abermals stehen und sah sich nach irgend etwas um, das er im Notfall als Waffe benutzen konnte. Er spürte die Gegenwart des Fremden, Bösen überdeutlich. Er hatte das Gefühl, von tausend unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Die lastenden Schatten in Ecken und Winkel schienen zu drohendem, lauerndem Leben erwacht zu sein; unsichtbare Spinnenbeine, die ihr Opfer langsam und geduldig in ein Netz der Dunkelheit und Horror einwoben.

Unsinn, sagte er sich. Was er sah - und vor allem, was er vorher gesehen hatte - war zwar unheimlich, aber er durfte sich nicht selbst verrückt machen. Es würde für alles eine Erklärung geben, mochte sie auch noch so unglaublich sein. Dank Vivian hatte er längst gelernt, Dinge als Realität zu akzeptieren, die andere in das Reich der Fabeln verbannen würden. Mark wünschte sich, Vivian wäre hier. Sie würde ihm am ehesten eine Erklärung geben können.

Er versuchte, das Klopfen seines Herzens zu ignorieren, und ging langsam auf den Bilderrahmen zu, als er plötzlich eine huschende, undeutliche Bewegung wahrnahm, einen monströsen, umrißlosen Schatten.

Mark er starrte.

Irgend etwas lauerte in der Dunkelheit vor ihm. Vorsichtig, jederzeit auf einen Angriff gefaßt, ging er in die Hocke und hob ein zerbrochenes Stuhlbein vom Boden auf. Geduckt setzte er einen Fuß vor und machte einen Schritt nach vorne.

Wieder glaubte er, eine Bewegung wahrzunehmen, und wieder war er sich nicht sicher, ob ihm seine überreizten Nerven nicht nur einen Streich vorspielten. Er machte einen weiteren Schritt, hob die Rechte mit dem Stuhlbein und sprang mit einem entschlossenen Satz vor. Er sah eine Gestalt vor sich, duckte sich instinktiv und schlug mit dem Stuhlbein zu, um gleich darauf krachend auf dem Fußboden zu landen, als sein Schlag ins Leere ging. Geschlagene zehn Sekunden lag er bewegungslos da, starrte sein Gegenüber an und kam sich unbeschreiblich dumm vor. Dann richtete er sich benommen auf und hustete.

Der rechteckige Umriß, in dem Conelly verschwunden war, war kein Bilderrahmen, sondern ein überdimensionaler Spiegel. Und der riesige Schatten, der ihn vermeintlich angegriffen hatte, war nichts anderes als sein eigenes Spiegelbild gewesen.

»Mark Taylor«, flüsterte er, »du bist ein Idiot.« Er stand auf, klopfte sich den Staub aus den Kleidern und betrachtete sein Spiegelbild mit neu erwachendem Mißtrauen. Conelly war in dem Spiegel verschwunden, das hatte er mit eigenen Augen gesehen. Er trat vorsichtig an den riesigen Spiegel heran, tastete mit bebenden Fingern über den Rahmen und berührte schließlich das Glas.

Seine Finger versanken in dem schimmernden Glas.

Mark schrie auf, zog die Hand blitzschnell zurück und starrte fassungslos auf seine Fingerspitzen. Sie fühlten sich kalt und taub an.

Hinter ihm ertönte plötzlich ein dumpfes Poltern. Mark fuhr herum. Der gelbe, zitternde Lichtkreis einer Taschenlampe stach aus dem Treppenaufgang, durch den er selbst den Dachboden betreten hatte, glitt über das zerbrochene Holz der Türfüllung und wanderte schließlich über die spinnwebenverhangenen Dachziegel. Aufgeregte Stimmen wurden laut, dann hörte er das dumpfe Trampeln schwerer Schritte, die die ausgetretenen Stufen hinauf rannten.

Mark fluchte lautlos und sah sich nach einem Versteck um, obwohl er wußte, daß es sinnlos sein würde sich zu verbergen. Ganz abgesehen davon, daß seine Verfolger den Speicher Stück für Stück auseinandernehmen würden, um ihn zu finden, würden ihn seine Fußspuren genauso verraten, wie Conellys Abdrücke ihn selbst hierhergeführt hatten. Aber wenigstens würde er mit etwas Glück ein paar Sekunden Zeit gewinnen und seine Gegner überraschen können.

Mit einem weiten Satz erreichte Mark eine der großen Kisten und duckte sich dahinter. Er hörte Geräusche: Leise Schritte, aber auch noch etwas anderes, einen sonderbaren kratzenden Laut, als würden scharfe Krallen über irgend etwas scharren. Mark packte das Stuhlbein fester, richtete sich ein klein wenig auf und bereitete sich darauf vor, vorzuspringen, doch dazu kam es nicht mehr.

Als er den Kopf hob, blickte er direkt in ein Paar glühender, weit aufgerissener Augen, dann schien unmittelbar vor ihm ein ungeheuer schwarzer Umriß aus dem Boden zu wachsen; ein gigantischer, verzerrter Schatten, der sich mit gierig emporgerissenen Klauen auf ihn stürzte.

Mark schrie auf und warf sich instinktiv zur Seite. Er hörte, wie die Klauen dicht neben ihm das Holz der Kiste trafen, sich hineinbohrten und es zerfetzten. Mark rollte über den Boden, prallte gegen irgend etwas und stemmte sich in die Höhe. Mühsam kam er auf die Beine. Im Halbdunkel des Dachbodens erkannte er weitere Gestalten, die ihm den Weg zur Tür versperrten und sich ihm in einem Halbkreis näherten. Es war zu dunkel, als daß er sie genauer erkennen konnte, und er war fast froh darüber. Schon die vagen Umrisse verrieten ihm, daß es sich nicht um Menschen handelte.

Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an den Rahmen des Spiegels stieß. Die Kreaturen näherten sich ihm langsam, wußten ihn in der sicheren Falle.

Aber vielleicht gab es doch noch einen Ausweg. Obwohl er eine panische Angst vor dem verspürte, was ihn erwarten mochte, atmete Mark tief durch, schloß die Augen und sprang dann mit einem entschlossenen Satz direkt in den Spiegel hinein.

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