»Noch so ein Tag«, seufzte Mark Taylor, »und ich verkaufe den Konzern und beschäftige mich für den Rest meines Lebens mit Rosenzucht.« Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und stieß geräuschvoll die Luft aus. Sein Gesicht wirkte blaß und eingefallen, und unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe, die von den überstandenen Anstrengungen des Tages kündeten.
Vivian sah ihren Mann von der Seite an, runzelte die Stirn und lächelte dann wortlos. Sie wußte, daß Marks Worte nicht allzu ernst gemeint waren, auch wenn die Verhandlungen hart gewesen waren. Im Gegensatz zu so vielen anderen Kindern reicher Eltern, die auch als Erwachsene nur ihr Leben im Luxus genießen wollten, war Mark ein Arbeitstier - und ein Genie, was Geschäfte anging. Innerhalb der nur wenigen Jahre, die verstrichen waren, seit er nach dem Tod seiner Eltern ihr Erbe angetreten und damit die alleinige Leitung des Taylor-Konzerns übernommen hatte, war es ihm gelungen, dieses gesunde, aber nicht allzu bedeutende Unternehmen zu einem der mächtigsten und finanzkräftigsten Industriekonzerne der westlichen Welt zu machen. Ohne Verantwortung und Streß bereitete ihm das Leben keine Freude. Dennoch hatte Vivian ihm das Versprechen abgerungen, mit ihr einen Kurzurlaub zu unternehmen. Nach Abschluß der Verhandlungen würde sie zusammen für ein paar Tage in die amerikanische Wildnis fahren, um sich zu erholen.
»Die Verhandlungen waren zwar hart, aber auch sehr konstruktiv. Ich schätze, wir kommen schon morgen zum Abschluß«, fuhr er fort. »Also früher als erwartet.«
Vivian seufzte. »Hoffentlich.«
Sie hatte Mark nichts von der Seance erzählt, sondern ihn mit der gleichen erzwungenen Fröhlichkeit, mit der sie ihn am Morgen zum Masterton-Building gefahren hatte, am späten Nachmittag wieder von der Fifth Avenue abgeholt und auf seine Frage, wie der Nachtmittag bei Amy Masterton verlaufen wäre, nur ausweichend geantwortet. Sie konnte sich selbst noch keinen richtigen Reim auf die Ereignisse machen, und Mark würde ihr auch nicht helfen können. Im Moment hatte er genügend eigene Sorgen und war so erschöpft, daß er wahrscheinlich nicht einmal in der Lage wäre, ihren Worten richtig zu folgen.
»Masterton versucht natürlich, den Preis in die Höhe zu treiben, aber ich denke, er hat begriffen, daß ich jetzt keinen Dollar mehr zulege.« Mark grinste siegessicher. »Im Endeffekt machen wir beide ein glänzendes Geschäft.«
»Was ist er denn so für ein Typ?«
»Jonathan Masterton?« Mark verzog das Gesicht. »Ein eiskalter Hai. Knallhart. Stell dir eine Mischung aus Cecil Colby und einer Klapperschlange vor, dann hast du in etwa ein Bild von ihm. Ich bin nur froh, daß ich ihn nicht zum Feind habe. Als Geschäftspartner reicht er mir schon, mit ihm zu verhandeln, verdient wirklich die Bezeichnung Arbeit. Sonst kann ich nicht viel über ihn sagen. Und wie ist seine Frau?«
»Ganz nett«, entgegnete Vivian ausweichend. »Einbißchen geschwätzig und aufdringlich, aber recht lustig.«
»Kann man sich bei Jonathan kaum vorstellen. Wie war denn dein Nachmittag überhaupt so?«
Vivian antwortete nicht. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel des Cadillac, setzte den Blinker und bog an einer Kreuzung ab. Der Cadillac war ein plumpes, schwerfälliges Fahrzeug, aber Vivian war eine geübte Fahrerin, die auch mit dem ungewohnt großen und protzigen Straßenkreuzer zurechtkam. Der wuchtige, altmodisch wirkende Bau des SHERIDAN-Hotels tauchte vor ihnen auf. Sie verringerte das Tempo und wollte den Wagen in die hoteleigene Tiefgarage lenken, als Mark sie von der Seite antippte. »Direkt hinter uns fährt einer raus«, sagte er.
Vivian hielt an und sah in den Spiegel. Wenige Meter hinter ihnen scherte gerade eine Limousine aus einer Parklücke aus, fast direkt vor dem Haupteingang des Hotels. Sie würden den Wagen in knapp einer Stunde ohnehin wieder brauchen, um zu dem Empfang bei Conelly zu fahren, da war es praktischer, direkt hier zu parken. Vivian legte den Rückwärtsgang ein und fuhr vorsichtig zurück, ohne sich umzudrehen. Der übergroße Innenspiegel des Cadillac genügte vollkommen.
Ein leichter Schlag traf den Wagen. Vivian trat instinktiv auf die Bremse. Sie hörte einen dumpfen Aufprall, dann den schmerzerfüllten Aufschrei eines Menschen. Vivian erbleichte, riß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Ein junger Mann lag direkt hinter dem Reifen des Cadillac. Er stöhnte. Auf seinem Gesicht lag ein schmerzerfüllter Ausdruck. Die Rechte preßte er fest gegen das Knie, wo ihn die Stoßstange des Wagens getroffen hatte. Der Mann mußte direkt in den Wagen gelaufen sein.
Vivian kniete sich neben den Verletzten. Sie konnte sich nicht erklären, wie es zu dem Unfall gekommen war. Sie war absolut sicher gewesen, daß die Straße leer war - sie hatte den Spiegel nicht eine Sekunde aus dem Auge gelassen. »Es ... es tut mir leid«, sagte sie unbeholfen. »Ich habe Sie übersehen.«
»Übersehen?« keifte eine Stimme. Vivian sah auf und blickte in das Gesicht eines alten, grauhaarigen Mannes. Er trug einen schäbigen Freizeitanzug, ein billiges, altes Nylonhemd und schwang drohend seinen Spazierstock. Außer ihm waren keine Passanten zu entdecken. Das SHERIDAN lag in einer ruhigen Nebenstraße. »Übersehen?« wiederholte er aggressiv. »Der Mann hat die ganze Zeit dort gestanden. Sie sind direkt in ihn hereingefahren.«
Auch Mark war inzwischen ausgestiegen. »Rufen Sie lieber einen Krankenwagen, statt Volksreden zu halten«, sagte er gereizt. »Der Mann ist verletzt.«
Der Alte grinste boshaft. »Damit ihr zwei inzwischen abhauen könnt, wie?« fragte er. »Ich hab's genau gesehen. Sie haben den armen Kerl ja fast mit Absicht über den Haufen gefahren. Nur, weil ihr euch dicke Schlitten leisten könnt, denkt ihr, die Straßen gehören euch.« Er wandte sich an den Verletzten. »Wenn Sie mich als Zeugen brauchen, Sir ...«
Der Mann schüttelte mühsam den Kopf und versuchte aufzustehen. Vivian half ihm. Schmerz zuckte über sein Gesicht, als er das verletzte Bein belastete, aber er blieb schwankend stehen. »Zuerst einmal rufen wir einen Krankenwagen«, sagte Vivian entschieden. »Wir besprechen alles andere später. Natürlich werde ich Sie entschädigen. Ich habe den Unfall schließlich verschuldet.«
»Wenn es ein Unfall war«, murmelte Mark.
Vivian sah verwirrt auf. »Wie meinst du das?«
Marks Zeigefinger richtete sich drohend auf den Alten, der noch immer dastand und Vivian streitlustig musterte. »Ist doch recht praktisch, gleich einen Zeugen bei der Hand zu haben, nicht wahr?« fragte er.
»Was soll das heißen?« keifte der Alte.
Mark fuhr unbeirrt fort. »Nichts«, sagte er ruhig. »Noch nicht, jedenfalls. Aber weder meine Frau noch ich haben den Mann gesehen. Und Sie behaupten, daß er die ganze Zeit über dagestanden hat.«
»Hat er auch!« brüllte der Alte. Er schnaufte, bedachte Mark mit einem vernichtenden Blick und wandte sich dann an das Unfallopfer. »Lassen Sie sich bloß nicht einschüchtern. Wir sollten die Polizei rufen. Die wird dann die Sache schon klären.«
Der Mann schüttelte mühsam den Kopf. »Keine Polizei!« sagte er. Seine Stimme klang seltsam, irgendwie eingeübt, so, als hätte er selten Gelegenheit, sie zu benutzen. Etwas an ihm störte Vivian. Er war ... sonderbar, irgendwie blaß, dünn und farblos.
»Ruf einen Krankenwagen, Mark«, bat sie.
Mark nickte, warf dem Alten einen letzten, warnenden Blick zu und ging mit raschen Schritten in Richtung Hotel davon.
»Bitte keinen Krankenwagen, das ist nicht nötig. Mir geht es gut. Ich ... ich bin nicht verletzt«, beharrte der Mann.
»Gleich wird sie Ihnen Geld anbieten«, keifte der Alte, durch Marks Abwesenheit schon wieder merklich mutiger geworden. »Gehen Sie nicht darauf ein. Diese reichen jungen Gören glauben, sich alles erlauben zu können. Aber das Recht können sie mit ihrem Geld nicht kaufen. Noch nicht, jedenfalls.«
Vivian fuhr erbost herum. Ihre dunklen Augen blitzten wütend auf. »Es reicht«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich weiß, daß ich an dem Unfall schuld bin. Es tut mir aufrichtig leid, und ich werde den Mann entschädigen. Aber zuerst kümmern wir uns darum, daß er in ärztliche Behandlung kommt.« Normalerweise gehörte einiges mehr dazu, sie aus der Fassung zu bringen. Aber sie war nach dem Unfall nervös, und die vollkommen unbegründete Aggressivität des Alten reizte sie noch mehr. »Vielleicht sparen Sie sich Ihre Gardinenpredigt auf, bis die Polizei hier ist«, fügte sie hinzu.
Das Selbstvertrauen des Alten schien merklich angeknackst. Augenscheinlich hatte er sich in Vivian getäuscht - wie schon viele vor ihm. Trotz ihres jugendlichen Aussehens war Vivian eine Frau, die durch ein paar böse Worte allein nicht einzuschüchtern war. Dafür hatte sie schon zuviel erlebt, und gerade an diesem Tag hatte sie andere Sorgen, als sich mit einem verrückten alten Mann herumzustreiten, der sich unbedingt profilieren wollte, nur weil er zufällig Zeuge des Unglücks geworden war.
Sie spürte eine zaghafte Berührung an der Schulter und drehte sich um. »Hören Sie, Miß«, sagte der Verletzte, »es ... es geht schon besser. Ich glaube wirklich nicht, daß wir den Krankenwagen benötigen.«
Vivian runzelte unwillig die Stirn. Der Mann wirkte blaß und verstört, und in seinen Augen stand ein seltsames Flackern. Ganz offensichtlich stand er unter einem Schock. »Es ist wirklich nichts passiert«, fuhr er eindringlich fort. »Mein Bein ist vollkommen in Ordnung. Hier - sehen Sie selbst.« Um seine Worte zu untermauern, hüpfte er auf dem verletzten Bein auf und ab. Aber offensichtlich hatte er sich überschätzt. Er stieß einen schmerzhaften Seufzer aus, taumelte und wäre gestürzt, wenn Vivian nicht blitzschnell zugegriffen und ihn am Arm festgehalten hätte.
Als sie die Haut des Mannes berührte, breitete sich ein seltsames, prickelndes Gefühl in ihren Händen aus. Sie fühlte sich kalt und glatt an, kaum wie menschliche Haut, sondern eher wie Kunststoff oder Glas. Sie mußte sich überwinden, die Hand nicht sofort angewidert wieder zurückzuziehen.
»Sehen Sie!« keifte der Alte. »Ich hab's ja gesagt, der Mann ist verletzt! Und Sie sind schuld!«
Vivian lehnte den Verletzten behutsam gegen den Wagen und überzeugte sich davon, daß er aus eigener Kraft stehen konnte, ehe sie sich betont langsam umdrehte. Sie wußte nicht, was der Alte mit seinem Auftritt bezweckte, aber er ging auf alle Fälle entschieden zu weit.
Die Straße hinter ihr war leer, als sie sich umdrehte. Vivian runzelte verblüfft die Stirn, sah hastig nach rechts und links und hielt nach dem alten Mann Ausschau. Er war verschwunden.
»Aber das ist doch unmöglich«, flüsterte sie fassungslos. Die wenigen Sekunden, die sie den Alten aus den Augen gelassen hatte, waren viel zu kurz gewesen, als daß ein Mensch spurlos verschwinden konnte. Plötzlich spürte sie eine seltsame, unerklärliche Kälte, so als würde sie von einem eisigen Windstoß getroffen. Aber es war völlig windstill. Sie schauderte und drehte sich erneut um; der Verletzte war ebenfalls verschwunden. Sie hatte allerhöchstens vier, fünf Sekunden nach dem Alten Ausschau gehalten. Mit seinem verletzten Bein konnte der Mann in dieser Zeit unmöglich weiter als ein paar Schritte weit gekommen sein. Aber die Straße war zu beiden Seiten leer, und das einzige Gebäude, das er in den wenigen Augenblicken erreicht haben konnte, war das Hotel.
Vivian eilte mit raschen Schritten auf den Hoteleingang zu. Mark kam ihr entgegen, als sie das Foyer betrat. »Ist er hier?« fragte sie übergangslos.
»Wer?«
»Der Mann, den ich angefahren habe«, entgegnete Vivian ungeduldig. »Er ist verschwunden.«
»Verschwunden?« wiederholte Mark. »Was heißt das?«
»Verschwunden«, sagte Vivian gereizt. »Weg. Nicht mehr da. Ich hatte mich einen Augenblick umgedreht, um mit diesem komischen Alten zu reden. Als ich wieder hinsah, war er weg. Aber er kann mit seinem verletzten Bein unmöglich weiter als ein paar Schritte gelaufen sein. Ich dachte, er wäre vielleicht hier.«
Mark schüttelte den Kopf. »Ich habe die ganze Zeit dort drüben beim Portier gestanden und den Ausgang nicht aus den Augen gelassen.« Er lachte kurz und humorlos. »Die beiden sauberen Herren werden sich aus dem Staub gemacht haben. Wahrscheinlich haben sie gemerkt, daß sie mit ihrem Trick an die Falschen geraten sind.«
»Was für ein Trick?«
»Er ist nicht gerade neu, aber es gibt einige Gauner, die versuchen es immer wieder. Und es gibt noch genügend Dumme, die darauf hereinfallen. Diese Burschen arbeiten meist zu zweit. Einer springt vor einen Wagen und mimt den Verletzten, der andere tritt als zufällig anwesender Zeuge auf und beschwört, daß der arme Mann wirklich unschuldig an dem Unfall sei. Der Verletzte ist schließlich bereit, sich mit einer Entschädigung abzufinden, und der Fahrer zahlt, um unerwünschtes Aufsehen zu vermeiden.« Er grinste. »Aber sie haben wohl erkannt, daß die Masche diesmal nicht zieht. Die beiden konnten es sich nicht leisten, auf die Polizei zu warten.«
Vivian nickte widerwillig. Marks Worte klangen logisch und überzeugend, dennoch sträubte sie sich dagegen, die Erklärung zu akzeptieren. Mit den beiden hatte irgend etwas zweifelsohne nicht gestimmt, aber sie glaubte einfach nicht daran, daß es sich nur um zwei geschickte Trickbetrüger gehandelt hatte. Und da war noch ein Gedanke, der sich in ihrem Bewußtsein einnistete. Je genauer sie sich die Szene ins Gedächtnis rief, desto sicherer war sie, daß die Straße hinter dem Wagen leer gewesen war, als sie in den Spiegel gesehen hatte.
Mark drückte sie in die Polster eines Ledersessels. »Warte hier. Die Polizei wird bald kommen. Ich parke in der Zwischenzeit den Wagen richtig, bevor es womöglich noch einen weiteren Unfall gibt.«
Vivian nickte, und er verließ das Hotel. Kaum eine Minute später kehrte er zurück, und kurz darauf betrat auch ein Polizist das Foyer, der sich als Lieutenant Beramo vorstellte. Vivian erzählte ihm in knappen Worten, was passiert war, und Mark machte einige ergänzende Bemerkungen. Beramo kritzelte etwas auf seinen Block, schüttelte den Kopf und steckte seinen Kugelschreiber zurück. »Ich glaube«, sagte er nach kurzem Überlegen, »daß Ihr Mann recht hat.« Er klappte seinen Notizblock zu und schenkte Vivian ein scheues Lächeln. »Wahrscheinlich haben die beiden wirklich versucht, Sie hereinzulegen. Ein uralter Trick. Ich bin nur froh, daß Sie nicht darauf hereingefallen sind und ihnen Geld gegeben haben.«
Vivian erwiderte seinen Blick gelassen. Sie hatte keine Lust, länger als unbedingt nötig über den Vorfall zu sprechen. Ihrer Meinung nach wäre es nicht nötig gewesen, überhaupt die Polizei einzuschalten, und sie mußte sich Mühe geben, ihre Verärgerung darüber nicht an dem jungen Beamten auszulassen. »Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte sie nach einer Weile, »wäre es mir am liebsten, wenn wir die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen würden.«
»Soll das heißen, daß Sie keine Strafanzeige erstatten wollen?«
Vivian schüttelte den Kopf. »Gegen wen denn? Und weswegen? Ich wüßte kein Gesetz, nach dem sich ein Unfallopfer strafbar macht, wenn sie sich weigert, eine Entschädigung anzunehmen. Und mehr ist schließlich nicht passiert. Eventuelle Absichten können wir höchstens vermuten, aber nicht beweisen. Die beiden würden nicht einmal einen Anwalt brauchen, um sofort wieder freigelassen zu werden.«
»Es sei denn, es liegen schon weitere Anzeigen gegen sie vor. Dann würden die beiden sich nicht mehr herausreden können.«
»Falls Sie sie überhaupt finden sollten.«
»Die Chancen dafür stehen allerdings nicht besonders gut«, räumte Beramo ein. »Trotzdem wäre es einen Versuch wert.« Er wandte sich Mark zu. »Sie und Ihre Frau sind bedeutende Persönlichkeiten. Ich möchte nicht, daß Sie einen falschen Eindruck von unserem Land bekommen.«
»Keine Sorge.« Vivian lächelte und wechselte einen raschen Blick mit Mark. Er schwieg, konnte sich aber nur mühsam ein Grinsen verkneifen. »Gauner gibt es überall. Ich bin Ihnen für Ihre Bemühungen sehr dankbar, aber mehr ist wirklich nicht nötig.«
Beramo überlegte. Auf der einen Seite mochte er froh sein, die Angelegenheit so schnell erledigen zu können, anderseits widerstrebte es seinem Gerechtigkeitsempfinden. Schließlich zuckte er mit den Achseln und stand auf. »Wie Sie wünschen, Missis Taylor.« Er ging zur Tür und blieb zögernd stehen. »Wenn Sie Wert darauf legen, lasse ich zwei Beamte zu Ihrem Schutz abstellen.«
Vivian schüttelte erneut den Kopf. Sie konnte sich Angenehmeres vorstellen, als Tag und Nacht von zwei Polizisten begleitet zu werden, und alles nur, weil zwei kleine Ganoven sie um ein paar Dollar zu betrügen versucht hatten. »Das ist wirklich nicht nötig«, erklärte sie mit Entschiedenheit. »Mein Mann und ich werden voraussichtlich ohnehin morgen oder spätestens übermorgen abreisen.«
»Ist das auch Ihre Meinung, Mister Taylor? Sie sollten sich das Angebot überlegen.«
Mark nickte. »Wir wissen Ihre Hilfe zu schätzen, Lieutenant«, sagte er. »Aber ich schließe mich der Meinung meiner Frau an.«
Beramo trat noch einen Moment unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. »Also gut, dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt.« Er verabschiedete sich und verließ das Hotel.
»Polizeischutz«, murmelte Vivian kopfschüttelnd, während sie mit Mark zum Fahrstuhl ging. »Kommt überhaupt nicht in Frage.«
Mark lachte leise. »Wir werden ihn sowieso bekommen, ob es uns paßt oder nicht.«
Vivian zog die Brauen zusammen. »So?«
Mark nickte gelassen. »Sicher. Wenn wir nicht offiziell zustimmen, wird man uns eben etwas unauffälliger beobachten, aber den Schutz bekommen wir auf alle Fälle. New York kann es sich nicht leisten, uns zu verärgern. Es gibt schließlich den Taylor-Konzern.«
»Du übertreibst.«
»Keineswegs. Wenn alles so läuft, wie ich es mir gegenwärtig vorstelle, werden unsere Niederlassungen hier der Stadt demnächst Millionen an Steuergeldern einbringen, und nichts braucht New York dringender als Geld. Ob es dir paßt oder nicht - wir gelten im Moment als äußerst wichtige Personen.«
»Und nur wegen ein paar kleinkarierter Ganoven sieht man plötzlich die Verhandlungen bedroht?«
Mark lächelte, und sie stiegen gemeinsam in die Liftkabine. »Wohl kaum. Bloß ist den Herren im Stadtrat wahrscheinlich jetzt erst aufgefallen, wie gefährdet wir sind. Die beiden hätten theoretisch auch Touristen sein können, und wenn man hier einen Anschlag auf uns unternommen hätte, würde das für einige der hohen Tiere ziemlich unangenehme Folgen haben.«
»Aber das ist doch totaler Blödsinn!«
»In dieser Welt ist vieles blödsinnig.« Mark lächelte. Sie betraten ihr Apartment.
»Ich bin froh, wenn wir wieder von hier weggehen«, stieß Vivian hervor. Sie ging zum Fenster hinüber und warf einen Blick hinaus. Obwohl sie sich nur im dritten Stock befanden, schien die Straße tief unter ihr zu liegen. Die wenigen Passanten bewegten sich seltsam ruckartig, wie bei einem alten, mit viel zu hoher Geschwindigkeit gedrehten Film. Wenn sie aus einer größeren Höhe nach unten schaute, empfand Vivian durch ihre Höhenangst fast augenblicklich Schwindel, und sie wandte den Kopf rasch wieder ab. »Ich hasse diese Stadt. Hier ist alles so voller Hektik, so seelenlos, wie in einer Roboterfabrik.«
Mark musterte sie durchdringend. »Was ist eigentlich mit dir los?« fragte er unverblümt. »So nervös kenne ich dich überhaupt nicht.«
Vivian zuckte unwillig mit den Achseln. »Nichts. Ich ... ich fühle mich nicht besonders wohl«, antwortete sie.
»Wegen des Unfalls?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vergiß die Sache. Selbst wenn es kein abgekartetes Spiel gewesen sein sollte, kann der Mann nicht schwer verletzt gewesen sein, sonst wäre er wohl kaum so schnell verschwunden.«
Vivian wußte, daß Mark recht hatte, aber die seltsame unerklärliche Unruhe, die von ihr Besitz ergriffen hatte, schien sich eher noch zu verstärken. Irgend etwas war mit diesem Mann nicht in Ordnung gewesen. Sie war sich vollkommen sicher, daß er im Spiegel nicht sichtbar gewesen war, auch wenn dies unmöglich war. Sie stieß sich vom Fenster ab und ging auf Mark zu. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf über etwas zu zerbrechen, das sie im Moment sowieso nicht lösen konnte. »Du hast recht«, flüsterte sie. Sie schlang die Arme um seinen Hals, hauchte einen Kuß auf seine Lippen und preßte ihr Gesicht gegen seines. »Entschuldige, Liebling. Ich bin wohl einfach etwas überreizt.«
»Da geht es nicht nur dir so.« Marks Finger streichelten sanft ihre Wange. »Sobald wir das Geschäft hinter uns gebracht haben, machen wir uns ein paar schöne Tage. Dann kann uns der Rest der Welt gestohlen bleiben.«
»Ich freue mich schon darauf. Allerdings warne ich dich schon jetzt: Wenn du irgend jemandem Bescheid sagst, wo man dich erreichen kann, dann kratze ich dir die Augen aus.«
»Ich verspreche dir, keiner wird uns stören.« Mark löste sich aus seiner Umarmung. »Aber noch ist es nicht soweit. Es wird Zeit, daß wir uns für den Empfang zurechtmachen, wenn wir nicht zu spät kommen wollen.«
Vivian nickte widerwillig. »Ich fürchte, du hast recht. Dabei habe ich überhaupt keine Lust.«
»Vielleicht wird es ganz unterhaltsam«, erklärte Mark wenig überzeugend. »Immerhin - wer wird schon vom Bürgermeister New Yorks zu einer Party eingeladen?«
»Wahrscheinlich ein paar hundert absolut langweilige Leute«, konterte Vivian. Sie drehte sich um und ging auf das Badezimmer zu. »Ich mache mich nur ein wenig frisch und ziehe mich um, dann ...« Sie brach ab. Ihre Augen weiteten sich ungläubig.
Mark war mit einem Satz bei ihr. »Was hast du?«
»Ich ... ich weiß jetzt, worauf es die beiden Kerle wirklich abgesehen hatten«, sagte Vivian stockend. »Mein Amulett. Sie ... sie haben mir mein Amulett gestohlen!«