28

Sie erschrak.

Für einen winzigen Augenblick wallte graue, lähmende Panik in Melissa empor und drohte auch den letzten Rest von Konzentration hinwegzuspülen. Das Abbild der hilflos trudelnden Maschine im Inneren der Kugel wurde unscharf, verschwand hinter treibenden Schleiern und begann sich aufzulösen.

Melissas schmale Hände begannen zu zittern, als sie begriff, daß sie einen tödlichen Fehler begangen hatte. Sie hatte sich hinreißen lassen. Die Verlockung, die verhaßte Feindin ein für allemal aus dem Weg räumen zu können, war für einen winzigen Augenblick übermächtig geworden und hatte sie viel härter zuschlagen lassen als beabsichtigt.

Aber sie durfte Vivian nicht töten, noch nicht. Wenn das Flugzeug abstürzte, würde man Vivians Leiche bergen, und das durfte nicht geschehen. Selbst wenn es Melissa gelingen sollte, den Leichnam rechtzeitig fortzuschaffen, bevor ein anderer das Wrack erreichte, würde es ihr schwerfallen, zu erklären, wie sie diesen Absturz ohne Verletzung überlebt hatte. Dieser Körper hatte nur den einen, winzigen Nachteil, daß er in gewisser Hinsicht schon geradezu zu perfekt war. Sie war nahezu unverletzlich, es sei denn, ihr Körper würde völlig vernichtet, so daß sie sich nicht selbst ein paar harmlose Verletzungen beibringen konnte, um ihre Rolle überzeugender zu spielen. Wenn sie aber nach so einem Absturz aus dem völlig zerstörten Wrack des Flugzeugs stieg, ohne auch nur die geringste Blessur davongetragen zu haben, würde das zwangsläufig Mißtrauen schüren, und gerade das konnte sie nicht gebrauchen. Es gab sehr einfache Möglichkeiten, festzustellen, daß sie nicht die wäre, für die sie sich ausgeben wollte, schon weil sie kein Spiegelbild warf. Wenn erst einmal Verdacht entstand, würde das ihren ganzen Plan gefährden, vielleicht sogar vollends vereiteln.

Nein, Vivian Taylor durfte keinesfalls unter solchen Umständen sterben. Der Absturz hatte eine ganz andere Bedeutung in Melissas Plan, hatte nur dazu gedient, Vivian in die vorbereitete Falle zu locken. Sie war sich sicher gewesen, Vivian würde ihre eigenen Kräfte einsetzen, um den Sturz aufzuhalten, würde mit dieser Situation allein fertig werden. Danach aber sah es nicht aus.

Melissa erkannte, daß sie nicht mehr lange zögern durfte. Notfalls mußte sie selbst eingreifen. Sie verschwendete eine wertvolle Sekunde damit, sich zu entspannen, und konzentrierte sich dann erneut auf das Bild des abstürzenden Flugzeugs in der Glaskugel.

Laß sie abstürzen! wisperte eine Stimme in ihren Gedanken. Vernichte sie, ehe sie dich vernichtet! Du mußt! Sie ist eine Gefahr! Nur eine von euch kann überleben!

Melissa stöhnte. Ihre Lippen bebten, und auf ihrer Stirn erschien ein Netz feiner, glitzernder Schweißtropfen, während sie sich bemühte, ihren Haß zu unterdrücken und gegen den Drang ankämpfte, Vivian sterben zu lassen.

Das Flugzeug stürzte jetzt immer schneller. Sie sah, wie der zerschmetterte Rumpf der Cessna die Wolkendecke durchbrach und wie ein Stein dem Boden entgegenfiel.

Mit ihren Händen umklammerte Melissa die Glaskugel, aber Bruchteile von Sekunden, bevor sie sich entschloß, in das Geschehen einzugreifen und den Absturz aufzuhalten, sah sie, wie die Sturmwolken von unvorstellbaren Kräften auseinandergefetzt wurden, und sich der Kurs des Flugzeugs stabilisierte.

Melissa lächelte zufrieden. Sie hatte sich in ihrer Gegnerin nicht getäuscht.


Vivian wußte nicht, wie lange sie bewußtlos gewesen war. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war das schreckliche Gefühl des freien Fallens gewesen, das Wissen, mit Hunderten von Meilen dem Boden entgegenzurasen und vollkommen hilflos zu sein. Sie öffnete die Augen, setzte sich auf und sank mit einem wehleidigen Stöhnen wieder zurück, als ein scharfer Schmerz durch ihren Arm fuhr. Blut sickerte warm und klebrig aus einer Platzwunde dicht unter ihrem Haaransatz, und ihr linkes Bein fühlte sich seltsam taub und gefühllos an.

Vivian wartete, bis die Welle der Übelkeit einigermaßen abgeklungen war, ehe sie noch einmal versuchte, die Augen zu öffnen und aufzustehen. Diesmal gelang es ihr.

Die Bäume filterten das Sonnenlicht zu einem sinnverwirrenden Muster aus Hell und Dunkel, Licht und Schatten und unzähligen Grau- und Grünschattierungen. Vivian erhob sich stöhnend auf Hände und Knie, schüttelte den Kopf und versuchte, den stechenden Schmerz hinter ihrer Stirn zu ignorieren.

Das Flugzeugwrack lag fast fünfzig Meter von ihr entfernt zwischen den Bäumen; ein zertrümmertes, verdrehtes, zerfetztes Etwas, das von der Faust eines Riesen in den Boden gerammt worden zu sein schien. Die Maschine hatte eine lange, rauchende Bresche in den Wald geschlagen - eigentlich war es ein Wunder, daß sie nicht explodiert war. Vivian stand vollends auf und ging mit zitternden Knien zum Wrack der Cessna hinüber. Die Plexiglaskanzel war zersplittert und abgerissen. Die scharfkantigen Scherben hatten den Kunststoffbezug der Sitze zerfetzt, so daß das helle Schaumstoffmaterial der Füllung herausquoll.

Vivian schauderte. Wären sie und Mark nicht durch den Aufprall aus der Maschine geschleudert worden ...

Ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen ließ sie herumfahren.

Mark!

Er lag zusammengekrümmt im Schatten der Maschine, versuchte sich hochzustemmen und fiel zurück, als die Arme unter seinem Körpergewicht nachgaben.

Vivian sprang mit einem Satz über den zusammengestauchten Bug des Flugzeugs und kniete neben Mark nieder. Vorsichtig drehte sie ihn herum, wischte ihm die Haare aus der Stirn und bettete seinen Kopf auf ihrem Schoß.

Marks Gesicht war blutüberströmt. Das rechte Auge war dunkel und fast zugeschwollen, und über der Magengegend war sein Hemd blutbefleckt. »Was ...« murmelte Mark leise, »ist passiert?«

Vivian grinste gezwungen. Die Geste wirkte zuversichtlicher, als sie sich fühlte. »Du solltest dein Geld zurückverlangen«, sagte sie scherzhaft. »Eine so miserable Landung habe ich noch nicht erlebt.«

Mark versuchte zu lächeln, doch bei all dem Blut und dem bemitleidenswerten Zustand, in dem er sich befand, wirkte es furchteinflößend. »Hilf mir hoch.« Er streckte auffordernd die Hand aus, aber Vivian schüttelte nur den Kopf. »Du bleibst liegen, bis ein Arzt da ist. Du bist verletzt.«

»Blödsinn«, preßte Mark hervor. »Ich habe eins auf den Schädel bekommen, aber sonst bin ich okay.« Er stemmte sich hoch, um seine Worte zu unterstreichen, verzog schmerzhaft das Gesicht und hielt sich am Flugzeugwrack fest. Aber er stand. »Siehst du?«

Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, zog eine Grimasse und betrachtete seine Fingerspitzen. Sie schimmerten rot. »Eine Platzwunde«, sagte er. »Kopfwunden bluten immer stark. Aber ich begreife nicht, wieso wir den Absturz überhaupt überlebt haben.«

»Eine ungeheure Portion Glück«, sagte Vivian unsicher. »Sieht so aus, als hätten wir einen äußerst aufmerksamen Schutzengel gehabt.«

Mark schnitt eine Grimasse. »Unsinn. Wir waren ein paartausend Fuß über dem Boden, als die Tragfläche abriß. Aus dieser Höhe und bei unserer Geschwindigkeit nützt einem alles Glück der Welt nichts.« Er schüttelte den Kopf und bezahlte diese unüberlegte Bewegung mit einem stechenden Schmerz, der ihn aufstöhnen ließ. »Die Sache geht nicht mit rechten Dingen zu. Ebensowenig wie dieser plötzliche Sturm.«

»Du glaubst ... Melissa steckt dahinter? Aber das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollte sie eine derartige Mühe auf sich nehmen, nur um uns hinterher zu retten? Wir waren doch praktisch schon so gut wie tot.«

»Du hast mich falsch verstanden«, entgegnete Mark langsam. »Die Sache ist nur dann unlogisch, wenn für den Absturz und unsere Rettung die gleiche Person verantwortlich ist. Es kann durchaus sein, daß Melissa den Sturz verursacht hat, aber etwas anderes die Wolken auseinandergetrieben hat.«

Plötzlich begriff Vivian. »Du meinst, ich wäre es gewesen?« Sie runzelte die Stirn. »Ich kann meine Kräfte auf keinen Fall so gezielt einsetzen, außerdem habe ich schon während des Sturzes das Bewußtsein verloren.«

»Ja, genau zum gleichen Zeitpunkt, als die Wolken aufrissen. Und was deine Kräfte betrifft ... denk bloß daran, wie du Conelly getötet und dabei das Tor in die Spiegelwelt aufgerissen hast.«

»Das war ich nicht, das ...« Verwirrt brach Vivian ab und biß sich auf die Lippe. Sie hatte schon einmal versucht, Mark zu erklären, was passiert war, aber sie verstand es selbst noch nicht. In äußerster Todesangst hatte sie die Kontrolle über sich verloren, und diesmal ... »Ich weiß es nicht«, schloß sie. »Aber wenn das ein Angriff Melissas war, ist es um so dringender, daß wir schnell nach Hillwood Manor kommen. Jetzt jedoch kümmern wir uns erst einmal um dich. Du mußt zu einem Arzt. Auch, wenn es wirklich nur ein paar Kratzer sind«, sagte sie schnell, ehe Mark etwas erwidern konnte. »Hast du eine Ahnung, wo wir ungefähr sind?«

Mark zuckte mit den Schultern. »Vielleicht siebzig, achtzig Meilen nördlich von London. Aber dahinten kommen Leute - fragen wir sie.« Er wies mit einer Kopfbewegung zum Waldrand.

Vivian drehte sich ebenfalls um. Die Bäume hörten zwanzig, dreißig Schritte hinter ihnen wie abgeschnitten auf und wurden von einem weiten, frisch gepflügten Acker abgelöst. Ein halbes Dutzend kleiner, aufgeregt gestikulierender Gestalten kam über das Feld auf die Unfallstelle zugelaufen, und hinunter ihnen wurde ein roter, auf und ab hüpfender Punkt sichtbar, der sich nach einigen Augenblicken als Traktor entpuppte.

Vivian wartete ungeduldig, bis die ersten Helfer näher gekommen waren. Es waren drei junge, kräftig gebaute Burschen, ein etwa fünfzigjähriger Mann im blauen Overall und eine etwa gleichaltrige Frau.

»Wir ... wir haben den Absturz beobachtet«, sagte einer der Jungen schweratmend. »Mein Gott, ging das schnell. Sie ... Sie sind runtergekommen wie ein Stein, und es ist Ihnen wirklich nichts passiert?« Er sah Vivian und Mark abwechselnd an und schüttelte den Kopf, als könne er es einfach nicht fassen, die Insassen des zertrümmerten Wracks munter und einigermaßen wohlbehalten vor sich zu sehen.

»Nicht viel«, schränkte Mark ein. »Die Landung war zwar etwas unsanft, das muß ich zugeben, aber sonst ...«

Vivian lächelte flüchtig. Mark schien wirklich nicht ernsthaft verletzt zu sein. Seinen Galgenhumor hatte er jedenfalls nicht verloren.

»War sonst noch jemand in der Maschine?«

»Nein. Nur mein Mann und ich. Wir hatten Glück, daß uns der Aufprall aus der Kanzel geschleudert hat. Wahrscheinlich hat uns das das Leben gerettet.«

»Sie untertreiben. Ich verstehe zwar nichts vom Fliegen, aber ich habe noch nie gehört, daß jemand ein Flugzeug mit nur einem Flügel abfängt und dann relativ sauber landet.« Der Alte warf einen Blick auf das Wrack. »Ich heiße übrigens Hedon«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Jack Hedon. Das ist meine Frau Mary, und diese drei Burschen sind Frank, Paul und Malcolm, meine Söhne.« Er wies der Reihe nach auf die übrigen Mitglieder der Familie und sah Vivian fragend an.

»Mein Name ist Vivian Taylor«, stellte sich Vivian vor. Erleichtert registrierte sie, daß der Name den Leuten nichts zu sagen schien. »Und der Bruchpilot da drüben ist mein Mann Mark.«

Hedon grinste und ging an Vivian vorbei zum Flugzeugwrack. Seine Augen weiteten sich erstaunt, als er aus allernächster Nähe sah, wie gründlich das Flugzeug zerstört worden war.

»Allerhand«, murmelte er. »Beinahe unglaublich, daß da noch einer lebend rausgekommen ist.« Er lächelte unsicher und sah Mark nachdenklich an. »Was ist passiert?«

»Ich ... ich weiß es nicht«, improvisierte Mark hastig. »Die Motoren fielen plötzlich aus, und dann ging der Zauber auch schon los. Keine Ahnung, was wirklich passiert ist. Vielleicht habe ich auch den Sturm ein wenig unterschätzt.«

Hedon legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in den Himmel. Die Wolkendecke hing noch immer drohend und tief über dem Wald, aber die Luft war erstaunlich ruhig. »Hm«, machte er nachdenklich. »Vielleicht sieht es ja über den Wolken anders aus.« Er bückte sich, hob ein verformtes Metallteil, dessen ursprüngliche Funktion auch mit sehr viel Phantasie nicht mehr zu erraten war, vom Boden auf und wog es unschlüssig in der Hand.

Der Traktor war inzwischen näher gekommen und mit tuckerndem Motor am Waldrand stehengeblieben. Der Fahrer stieg ab und kam mit eiligen Schritten zu ihnen gelaufen.

»Was passiert?« fragte er keuchend.

Hedon schüttelte den Kopf. »Ziemlich viel Trümmer, aber den Passagieren ist nichts zugestoßen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Mark. »Wäre trotzdem nett, wenn du Mister ...«

»Taylor«, half Mark aus.

Hedon nickte. »Wenn du Mister Taylor zu Doc Smallbridge bringen würdest.«

»Gerne.« Der Neuankömmling wandte sich an Mark. »Wenn Ihnen meine Staatskarosse nicht nobel genug ist ...«

»Besser als laufen«, sagte Mark. »Aber es ist nicht nötig.«

»Und ob es nötig ist.« Vivian sah Mark ernst an und deutete in gespielter Strenge auf den Traktor. »Du fährst mit. Ich werde mich hier um alles kümmern.«

Mark zuckte resigniert mit den Achseln. Wenn Vivian sich einmal eine Sache wirklich in den Kopf gesetzt hatte, war es so gut wie unmöglich, sie davon wieder abzubringen. Außerdem, überlegte er, hatte sie im Grunde recht. Die Platzwunde mußte versorgt werden, und er konnte sich in der Stadt gleich darum kümmern, daß die Polizei und die Behörden verständigt wurden.

Und daß sie weiterkamen.

Nach allem, was passiert war, brannte Mark ebenso wie Vivian darauf, so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen. Die Gefahr schien keineswegs überwunden zu sein. Melissa würde sich kaum tatenlos damit abfinden, daß sie ihre Attacke überlebt hatten. Wahrscheinlich würde über kurz oder lang ein weiterer Angriff erfolgen. Mark hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung dieser Angriff zu erwarten war und wie er aussehen würde, aber er würde sich in der gewohnten Umgebung von Hillwood Manor entschieden wohler fühlen. Sie waren dort nicht ganz so hilflos und ausgeliefert wie hier.

Er ging zum Flugzeug zurück, warf einen letzten, bedauernden Blick auf das zermalmte Wrack und wandte sich dann resigniert an den Traktorfahrer. »Fahren wir.«

Vivian wartete, bis Mark und sein Begleiter gegangen war. Dann wandte sie sich an Hedon. »Vielleicht wäre es besser, wenn jemand die Polizei benachrichtigen würde.«

Hedon winkte ab. »Das ist schon geschehen. Clark hat sofort angerufen, als wir gesehen haben, wie die Maschine runterkam.«

»Clark?«

»Einer meiner verzogenen Söhne«, erklärte Hedon. »Er ist auf der Farm geblieben.« Er räusperte sich. »Eigentlich müßten sie längst hier sein.«

»Wer?«

»Die Polizei. Aber das dauert bei uns manchmal etwas länger.« Er lächelte entschuldigend. »Kommen Sie mit zu uns nach Hause. Meine Frau kocht Ihnen sicher gerne einen Tee. Ich glaube, den können Sie vertragen.«

Vivian nickte dankbar. »Ich habe noch Gepäck in der Maschine«, sagte sie. »Wenn wir das mitnehmen könnten ...«

»Sicher.« Hedon fuhr herum und winkte seinen Söhnen, die neugierig die Absturzstelle umlagerten. »Malcolm, Paul, Frank - ihr geht Mrs. Taylor mit dem Gepäck zur Hand.«

Vivian öffnete die Klappe des Stauraums. Einer der Koffer war aufgeplatzt und hatte seinen Inhalt in einem wüsten Chaos ausgespien. Sie stopfte die herausgefallenen Sachen eilig in den Koffer zurück, drückte ihn zu und wuchtete ihn erst dann ins Freie.

Einer der drei Hedon-Jungen griff danach und stemmte ihn in die Höhe, als wäre er schwerelos. Sie gab den anderen Koffer und die Reisetasche an die beiden übrigen Farmerssöhne weiter und verschloß überflüssigerweise die Klappe wieder, dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg zur Farm.

Auch wenn sie bei dem Absturz unverletzt geblieben war, fühlte sich Vivian mehr als erschöpft. Der Kampf gegen Ulthar hatte ihr alles abverlangt, hatte sie mehrfach bis an den Rand der völligen körperlichen und geistigen Erschöpfung getrieben. Von diesen Strapazen hatte sie sich noch längst nicht erholt. Auch der lange Flug war anstrengend gewesen, die Zeitumstellung - von dem Absturz erst gar nicht zu reden. Sie fühlte sich ausgelaugt, und jeder Schritt fiel ihr schwer, aber zum Glück brauchten sie nicht allzu weit zu laufen. Die Farm der Hedons lag nur eine knappe Meile von dem Waldstück entfernt, in dem sie abgestürzt waren. Als Vivian hinter Jack Hedon durch das schmale, mit Efeu und wilden Rosen überwucherte Tor ging, näherte sich von Norden her das Geräusch einer Polizeisirene.

Hedon verzog spöttisch das Gesicht. »Unsere gute Polizei«, sagte er. »Sie kommt mal wieder, wenn alles zu spät ist.«

»Kommen Sie, Mrs. Taylor.« Mary Hedon berührte Vivian sanft am Arm und führte sie ins Haus. »Wir können genausogut hier drinnen auf die Polizei warten.«

Das Haus erwies sich als überraschend hell und sauber. Die moderne, funktionale Küche stand im krassen Gegensatz zu dem verfallenen Äußeren des Fachwerkgebäudes, und die übrige Einrichtung schien, soweit Vivian mit ein paar flüchtigen Blicken erkennen konnte, ebensowenig auf einen kleinen, abseits gelegenen Bauernhof zu passen. Irgendwie hatte sie erwartet, daß hier noch alles wie vor hundert Jahren sein würde, obwohl sie wußte, daß es ein unsinniges Klischee war. Die Segnungen der Zivilisation machten auch vor der ländlichen Idylle längst nicht mehr halt.

Sie ließ sich den Weg ins Bad zeigen, verschloß die Tür sorgfältig hinter sich und zog Jacke und Bluse aus. Das eisige Wasser tat gut, als sie sich Blut und Schmutz aus ihrem Gesicht wusch. Sie trocknete sich ab, zog sich wieder an und verließ das Bad. Als sie über den Flur ging, hörte sie Jack Hedon leise mit jemandem reden. Der Duft von frischem Tee zog durch das Haus.

Hedon sah auf, als Vivian die Küche betrat. Er saß zusammen mit einem älteren, untersetzten Mann in der schwarzen Uniform des Landpolizisten am Küchentisch, spielte gedankenverloren mit seiner Teetasse und rauchte eine Zigarette.

»Nehmen Sie Platz, Missis Taylor.«

Vivian gehorchte. Hedon schob ihr eine Tasse Tee herüber und bot ihr eine Zigarette an. Sie griff mit einem dankbaren Nicken danach und ließ sich Feuer geben.

»Mister Klugman, unser Dorfpolizist«, erklärte Hedon mit einem flüchtigen Lächeln. »Und das«, er deutete auf Vivian, »ist Missis Taylor.«

Klugman nippte an seinem Tee, griff in seine Uniform und förderte einen Schreibblock und einen kaum fünf Zentimeter langen Bleistiftstummel zutage. »Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen jetzt nicht danach ist, lästige Fragen zu beantworten«, sagte er bedauernd. »Aber es muß sein. Ich werde mich bemühen, es so kurz wie möglich zu machen. Aber ich muß zumindest Ihre Personalien aufnehmen.«

»Das macht nichts«, entgegnete Vivian. »Im Gegenteil - ich bin ganz froh, ein wenig Ablenkung zu haben. Der Schreck sitzt mir noch immer in den Knochen.«

Klugman lächelte verständnisvoll und befeuchtete die Spitze seines Bleistifts mit der Zunge. »Ihr Name ist also Taylor.«

»Vivian Taylor«, bestätigte Vivian.

Klugman kritzelte etwas, stockte und sah dann auf. »Vivian Taylor?« fragte er. »Haben Sie irgend etwas mit dem Taylor-Konzern zu tun?«

»Er gehört meinem Mann und mir«, sagte Vivian.

Klugman schwieg eine ganze Weile. Seine Stimme klang um mehrere Tonlagen freundlicher, als er weitersprach. »Jack sagte irgend etwas von einem Sturm, in den sie geraten sind?«

Vivian antwortete nicht sofort. Der Zweifel in Klugmans Stimme war unüberhörbar.

»Sie müssen mich verstehen«, sagte Klugman hastig, als er ihr Zögern bemerkte. »Es ist nicht gerade an der Tagesordnung, daß ein Flugzeug abstürzt. Und bei jemandem wie Ihnen ...«

»Ja?«

»Nun.« Klugman rang verzweifelt nach Worten. »Sehen Sie, Misses Taylor, Prominente wie Sie haben gewöhnlich Feinde, und ...«

Vivian lächelte gegen ihren Willen, als Klugman abbrach. Wahrscheinlich beschränkten sich die Fälle, die er normalerweise zu untersuchen hatte, auf das Einfangen entlaufener Katzen oder das Aufklären von Hühnerdiebstählen, und jetzt, als wirklich einmal etwas Aufregendes passierte, ging seine Phantasie mit ihm durch. Dabei hatte er nicht einmal so unrecht - wenn auch auf eine ganz andere Art, als er dachte.

Vivian schüttelte den Kopf. »Es war ein Unfall, Mister Klugman, das ist ganz sicher. Ich wüßte niemanden, der mir nach dem Leben trachtet. Außerdem gäbe es einfachere Methoden.«

»Wir müssen das Flugzeugwrack trotzdem vorerst beschlagnahmen«, sagte er unsicher. »Es gibt gewisse Vorschriften, die ...«

Vivian nickte. »Weiterfliegen können wir sowieso nicht«, erklärte sie.

Klugman lächelte gezwungen. Offensichtlich wurde ihm die Situation mit jeder Sekunde peinlicher. »Ihr Mann ... äh ... Mister Taylor ist derzeit beim Arzt«, sagte er lahm. »Ich hoffe, er wird wiederkommen, wenn ... wenn ...«

Vivian sah den Polizisten kühl an. »Besteht irgendein Grund für uns, länger als unbedingt nötig hierzubleiben?« fragte sie.

Klugman schüttelte irritiert den Kopf. »Eigentlich nicht. Sie ... wollen natürlich weiter. Dringende Geschäfte, nehme ich an.«

»Das stimmt. Es wird sicher ein paar Tage dauern, ehe die Untersuchung abgeschlossen ist. Ich hoffe, wir müssen nicht so lange dableiben.«

»Das nicht. Sie sollten sich natürlich zu unserer Verfügung halten - aber ich denke, Sie können Weiterreisen, wenn Sie müssen.«

»Aber erst morgen«, mischte sich Hedon ein. »Es wird ja schon bald dunkel. Sie können und Ihr Mann können diese Nacht gerne hier schlafen.«

Vivian zögerte. »Wir möchten uns auf keinen Fall aufdrängen ...«

Hedon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie drängen sich nicht auf. Wir haben genug Platz. Außerdem glaube ich nicht, daß heute noch ein Zug fährt, und es gibt im Ort kein anständiges Hotel. Hier passiert auch so wenig, daß wir uns über jeden Besuch freuen.«

Vivian blieb unschlüssig. »Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht ...«

»Das macht es nicht. Malcolm kann Sie morgen in aller Frühe zum Bahnhof bringen. Oder wir bestellen Ihnen ein Taxi - wie Sie wollen.« Er stand auf, ging zur Tür und rief nach seiner Frau.

»Mary wird ein Zimmer vorbereiten«, sagte er, als wäre es bereits beschlossene Sache, daß Mark und Vivian hierblieben.

»Eigentlich ...« begann Vivian, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

»Nichts eigentlich«, sagte Hedon entschieden. »Falsche Bescheidenheit ist hier völlig unangebracht. Sie brauchen Ruhe. Sie haben bei dem Absturz mit Sicherheit einen Schock erlitten, auch wenn Sie jetzt vielleicht noch nichts spüren.«

Vivian nickte ergeben, senkte den Blick und nippte an ihrem Kaffee. Plötzlich spürte sie erneut, wie müde sie war. Eine wohltuende, sanfte Lähmung schien sich von innen heraus in ihrem Körper auszubreiten.

Klugman stand geräuschvoll auf. »Ich werde hinüberfahren und mir die Absturzstelle ansehen«, erklärte er, während er seinen Schreibblock umständlich verstaute. »Danach muß ich mit meinen Vorgesetzten telefonieren. Ich denke, wir sehen uns nachher noch einmal. Ich muß noch ein paar Worte mit Ihrem Mann wechseln, schließlich war er der Pilot.« Er nickte Hedon zum Abschied zu und verließ die Küche. Wenige Augenblicke später hörte Vivian, wie sein Wagen angelassen wurde.

Sie leerte ihre Teetasse, drückte die Zigarette aus und stand schwankend auf. Der Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen. Sie stöhnte, preßte die Handflächen gegen die Schläfen und machte einen unsicheren Schritt.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Hedon. Seine Stimme klang seltsam verzerrt.

Vivian versuchte zu antworten, aber es ging nicht. Ihre Stimme schien ihrem Willen nicht mehr zu gehorchen. Die Dimensionen des Raumes stimmten plötzlich nicht mehr. Die Wände wichen auseinander, und da, wo gerade noch der Küchentisch gewesen war, befand sich plötzlich ein riesiges, wirbelndes Nichts, ein schwarzer Strudel aus Vergessen und Schlaf.

»Kommen Sie, ich bringe Sie auf Ihr Zimmer«, sagte eine gleichermaßen vertraute wie fremde Stimme, Jemand berührte sie sanft an der Schulter. Sie sah auf, machte eine instinktive Abwehrbewegung und wäre gestürzt, wenn nicht plötzlich starke Hände nach ihr gegriffen und sie aufgefangen hätten. »Sehen Sie, Missis Taylor, das habe ich gemeint«, sagte Hedon. Er griff sanft unter ihre Schulter und führte sie wie ein kleines Kind vor sich her.

Irgendwo tief in ihr begann eine warnende Stimme zu schreien, aber sie fühlte sich zu schwach, um darauf zu hören. Sie taumelte durch den Flur, fiel die Treppe hinauf, als sie ging, und wankte schließlich willenlos auf das breite, weißbezogene Bett zu, zu dem Hedon sie führte.

»Ruhen Sie sich eine Stunde aus, dann geht es Ihnen besser«, sagte er. Seine Stimme schien einen bösen, gehässigen Unterton zu haben.

Vivian sank seufzend auf das Bett nieder. Hedon griff nach ihren Füßen, zog ihr wie ein fürsorglicher Vater die Schuhe aus und breitete dann ein dünnes, weißes Laken über ihr aus. Vivian war zu schwach, um sich zu wehren. Das Geräusch, mit dem er die Tür hinter sich zuzog, schien wie ein Donnerschlag durch den winzigen Raum zu hallen.

Sie war allein.

Allein?

Nein - sie war nicht allein. Irgend etwas Fremdes befand sich noch im Raum. Unsichtbar, ungreifbar, lautlos. Es war, als wären die Schatten in Ecken und Winkeln plötzlich von lauerndem, bösen Leben erfüllt.

Vivian zwang sich, die Augen zu öffnen und die niedrige Decke anzusehen. Die Maserung der gehobelten Deckenplatten bildete plötzlich ein verwirrendes, hypnotisches Muster, sinnverdrehende Zeichen und Linien, die ihren Blick zwangen, ihnen zu folgen. Langsam, fast wie in Trance stand Vivian auf. Sie trat auf einen Spiegel zu, der an einer Wand des Zimmers hing und musterte ihr Gesicht, das ihr daraus entgegenstarrte.

Ihr Gesicht?

Erst nach Sekunden erkannte Vivian, daß sie sich täuschte. Das Gesicht glich dem ihren in jedem Detail, und doch war es das Gesicht einer Fremden! Die Augen blickten hart und mitleidslos. Augen, für die Begriffe wie Güte, Liebe und Menschlichkeit nicht existierten und die einen harten und rücksichtslosen Geist widerspiegelten. Es war Melissas Blick.

Vivian schrie und wich aufstöhnend vor dem Spiegel zurück, aber ihr Spiegelbild wiederholte die Bewegung nicht. Sie versuchte, den Blick abzuwenden, aber es ging nicht. Sie war im Blick der Hexe gefangen, eingesponnen in das hypnotische Funkeln dieser schwarzen, grundlosen Augen.

»Ich kriege dich, Vivian Taylor!« vernahm sie die Stimme Melissas. Die Worte klangen direkt in ihrem Geist auf. »Du kannst nicht vor mir fliehen. Einmal bist du mir entkommen, aber ich kriege dich, egal, wo du dich verkriechst. Du kannst dich nicht vor mir verstecken!«

Vivian taumelte zurück, stolperte und fiel schwer zu Boden. Der Schmerz zerriß den Bann. Vivian schlug die Hände vors Gesicht, wälzte sich herum und schloß die Augen. Dann verlor sie zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit das Bewußtsein. Sie sah nicht mehr, wie das Bild ihrer Doppelgängerin verblaßte.

Als Jack Hedon, der von ihren Schreien angelockt worden war, in das Zimmer stürzte, war von der unheimlichen Erscheinung nichts mehr zu sehen.


»Wie fühlst du dich?«

Zuerst wußte Vivian nicht, wo sie die Stimme einordnen sollte. Sie lag auf dem Rücken auf einer harten, kalten Unterlage. Rotgefärbtes Licht drang durch ihre geschlossenen Lider, und die Berührung an ihrer Schulter war zwar sanft, aber auch stark. Sie öffnete die Augen und versuchte sich aufzusetzen, wurde aber sofort mit sanfter Gewalt zurückgeschoben.

»Du bleibst schön liegen«, sagte Mark. Er verbarg seine Sorge hinter einem ungeschickt geschauspielerten Lächeln und setzte sich ächzend auf die Bettkante. »Schön, daß du wieder wach bist.«

»Was ... ist passiert?« fragte Vivian verwirrt.

Mark zuckte die Achseln. »Ich dachte, du würdest mir das sagen«, antwortete er. »Mister Hedon hat dich bewußtlos auf dem Fußboden gefunden. Er sagt, er hätte dich schreien gehört.« Das Lächeln war plötzlich wie fortgewischt, und zwischen seinen Brauen entstand eine steile Falte. »Was ist geschehen?«

Vivian sah sich ängstlich im Zimmer um. Die Tür stand einen Spalt weit offen, und aus dem Erdgeschoß drangen die undeutlichen Stimmen der Hedons herauf.

»Wir sind allein«, beruhigte sie Mark. »Du kannst offen reden.«

»Es war Melissa«, erklärte Vivian mit gedämpfter Stimme. »Ich habe sie in dem Spiegel dort drüben gesehen.« Sie deutete zu der Wand.

Mark zuckte bei der Erwähnung des Spiegels unwillkürlich zusammen. Er schaute hinüber, aber alles, was er in der gläsernen Fläche sah, war ein exaktes Abbild eines Teils des Raumes.

»Sie hat mir gedroht«, fuhr Vivian fort. »Sie hat gesagt, sie würde mich töten, und ich könnte mich nirgendwo vor ihr verstecken. Sie kann uns jederzeit finden, das hat sie bewiesen. Sie weiß, daß wir hier sind. Wir müssen weg, Mark, so schnell wie möglich.«

Mark lachte bitter. »Du wirst in deinem Zustand nirgendwo hinfahren. Ganz abgesehen davon, daß der nächste Zug erst morgen früh fährt. Um diese Zeit kriegen wir nicht mal einen Wagen.«

»Um diese Zeit?«

»Es ist fast elf«, erwiderte Mark. »Du warst mehrere Stunden bewußtlos. Du gehst nirgendwohin, ehe der Arzt nicht hier war.« Er grinste. »Eine der seltenen Gelegenheiten, dir mal etwas mit gleicher Münze heimzuzahlen.«

Vivian setzte sich auf. Sie fühlte sich immer noch zum Umfallen müde, aber es war keine rein körperliche Müdigkeit mehr. Es war etwas, das tiefer ging. Eine Erschöpfung, die ihre Wurzeln irgendwo in ihrer Seele hatte, als gäbe es da etwas, das ihren Lebenswillen angriff.

»Verdammt, Mark, das ist kein Spiel! Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe? Melissa weiß, daß wir hier sind. Ist dir klar, was das bedeutet? Sie kann uns jederzeit angreifen, und du hast ja erlebt, was sie auszurichten vermag.«

»Eben«, antwortete Mark ernst. »Wenn sie uns überall mühelos finden kann, ist es egal, wo wir uns aufhalten. Dadurch wird es sogar besonders wichtig, daß du dich schnellstmöglich erholst. Je schlechter es dir geht, ein desto leichteres Opfer bist du für sie.«

»Mark, ich bin in Ordnung«, behauptete Vivian. »Und irgendein Transportmittel finden wir schon. Niemand wird ablehnen, wenn du ihm den doppelten oder dreifachen Neupreis für seinen Wagen bietest.«

»Was nutzt mir all mein Geld, wenn ich es nicht bei mir habe? In meiner Brieftasche sind nur die dreihundert Pfund, die ich vor unserem Abflug am Flughafen gewechselt habe. Bei einem Scheck sieht alles schon anders aus, bei einem solchen Angebot würde jeder mißtrauisch werden.«

»Dann lassen wir uns eben von einem Taxi nach Hillwood Manor fahren.«

»Hör schon auf mit dem Unsinn«, sagte Mark unwirsch. »Du bist nicht im Zustand, zu reisen. Mir kannst du nichts vormachen. Du fühlst dich großartig, wie? Man sieht es dir an. Du siehst aus wie das blühende Leben.«

»Ich kann mir vorstellen, wie ich aussehe«, erwiderte Vivian ärgerlich. »Aber das hat nichts mit dem Unfall zu tun. Ich ... ich fühle mich schon seit unserer Rückkehr aus den Staaten nicht wohl.« Sie lachte leise. »Vielleicht vertrage ich das englische Klima nicht mehr.«

Mark ging nicht auf den Scherz ein. Er stand auf und ging zur Tür, um sie zu schließen. »Ich wollte es eigentlich später tun«, sagte er dann. »Aber früher oder später muß ich dich sowieso fragen - und wenn du schon selbst damit anfängst ... Du bist nicht erst seit unserer Rückkehr aus New York so seltsam. Du hast dich verändert, seit du auf der Spiegelwelt warst. Du bist plötzlich reizbar, übellaunig, depressiv ... Eigenschaften, die ich überhaupt nicht an dir kenne.«

Vivian antwortete nicht sofort. Mark drückte eigentlich nur mit einfachen, klaren Worten das aus, was sie selbst schon die ganze Zeit über gefühlt hatte. Irgend etwas war mit ihr passiert - oder passierte noch. Zu Anfang hatte sie diese Veränderung auf die Erschöpfung geschoben, auf den Umstand, daß nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Geist eine Erholungspause dringend nötig hatte. Aber eigentlich hatte sie gewußt, daß dies nichts als eine Ausrede war. Es wurde nicht besser, sondern schlimmer.

»Ich weiß«, sagte sie leise, ohne Mark anzusehen. »Aber ich kann dir diese Frage nicht beantworten, weil ich die Antwort selbst nicht weiß. Ich habe dir alles erzählt, was ich erlebt habe, aber ...« Sie brach ab und suchte nach Worten. »Es gibt Dinge, die man nicht mit Worten beschreiben kann«, sagte sie schließlich.

Eine Zeitlang sagte keiner von ihnen ein Wort. Schließlich nickte Mark verständnisvoll. »Das beste wird sein, du schläfst dich erst einmal aus. Morgen früh reden wir dann über alles.«

»Mark, ich will nicht hierbleiben. Wir sind hier in Gefahr, begreif das doch endlich.«

»Aber die Gefahr ist hier sicherlich nicht größer, als wenn wir mit dem Auto irgendwo in der Nacht unterwegs wären.« Mark drehte sich herum, ging zur Tür und verließ den Raum. Vivian hörte seine Schritte auf der Treppe.

Plötzlich hatte sie Angst.

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