14

Gefolgt von einer Gestalt, deren Gesicht unter der hochgeschlossenen Kapuze eines Umhanges nicht zu sehen war, betrat Mark Taylor die schattige, nur von einigen matt leuchtenden Wandlampen und einer trüben Leselampe an der Rezeption erleuchtete Eingangshalle des SHERIDAN-Hotels und eilte auf den Nachtportier zu. Der Mann sah erschrocken auf. Sein Gesicht zeigte einen verwirrten Ausdruck; er schien geschlafen zu haben. »Guten Morgen, Mister Taylor«, sagte er.

Mark blieb vor ihm stehen und schaute ihn herablassend an. »Ist meine Frau bereits hier?« erkundigte er sich.

Der Portier schüttelte den Kopf. »Nein, bis jetzt nicht.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Ich habe bereits den ganzen Abend Dienst. Es wäre mir bestimmt aufgefallen, wenn Ihre Frau hereingekommen wäre. Außerdem hängen die Schlüssel noch hier.«

»Dann geben Sie sie mir!«

Der Portier beeilte sich, die Schlüssel abzunehmen und Taylor zu geben. Seine Finger zitterten unmerklich, als er sie über den Tresen schob. Er hatte Mark Taylor als freundlichen, umgänglichen Menschen kennengelernt, der stets zu einem Schmerz aufgelegt war. Um so mehr bestürzte ihn dessen barscher, abweisender Befehlston. »Kann ich ... sonst noch etwas für Sie tun?« fragte er.

Taylor nickte. »Ja. Sollte meine Frau hier auftauchen, sagen Sie ihr nicht, daß ich da bin. Ich möchte sie überraschen. Geben Sie ihr einfach den Zweitschlüssel.« Er schob eine zusammengefaltete Hundert-Dollar-Note über den Tisch und sah den Portier durchdringend an. »Ich hoffe, wir verstehen uns.«

Der Portier griff zögernd nach dem Geld, drehte den Schein einen Augenblick in den Fingern und ließ ihn schließlich in der Rocktasche verschwinden. »Ich glaube schon, Sir.«

Taylor lächelte unfreundlich, drehte sich dann abrupt um und ging mit schnellen Schritten auf den Lift zu. Seine Begleiterin folgte ihm. Da sie einen Rock und hochhackige Pumps trug, konnte es sich nicht nur um eine Frau handeln, auch wenn ihr Gesicht unter dem Umhang verborgen war.

William Crown arbeitete bereits seit mehr als zwanzig Jahren im SHERIDAN. Er hatte gelernt, sich auf die verschiedensten Gäste einzustellen, ihre besonderen Eigenheiten zu akzeptieren und sich nach Möglichkeit niemals anmerken zu lassen, was er dachte. Jetzt aber verzog er mißbilligend das Gesicht, als die Aufzugtüren hinter Taylor und ihr zugeglitten waren. Sicher, Amerika war ein liberales Land, und es war ganz gewiß nicht seine Aufgabe, den Sittenwächter zu spielen, aber so, wie er von Mark Taylor bislang eine sehr positive Meinung gehabt hatte, hatte er auch Missis Taylor als eine sympathische junge Frau kennengelernt, und der Gedanke, daß er sie wegen ein paar Dollar und eines dahergelaufenen Flittchens belügen sollte, war ihm zuwider.

Er fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte. Es war möglich, daß er sich ein völlig falsches Bild machte, daß es sich bei der Unbekannten um eine Freundin Vivian Taylors handelte. In diesem Fall wäre die Behauptung, es solle eine Überraschung werden, keine Ausrede, aber irgendwie glaubte William Crown nicht daran. Das Verhalten Mark Taylors, seine arrogante Kaltschnäuzigkeit, sprachen dagegen. Der Mann führte irgend etwas im Schilde, und seinem Verhalten nach war es sicher nichts Gutes. Aber wenn er sich mit einem Flittchen amüsieren wollte, würde er dies sicherlich in einem anderen Hotel tun, und er hätte nicht darum gebeten, seine Anwesenheit zu verschweigen, sondern eher verlangt, daß man ihn beim Eintreffen seiner Frau telefonisch warnte, es sei denn, er wollte ganz bewußt, daß sie ihn mit einer anderen im Bett überraschte, um sie zu demütigen, sie vielleicht sogar zu einer Scheidung zu drängen. Bislang hätte er diese Möglichkeit bei Mister Taylor nicht einmal in Erwägung gezogen, aber nach dessen Auftritt vorhin traute er ihm buchstäblich alles zu.

William Crown seufzte. Er streifte den Ärmel zurück und sah auf die Uhr. Es war fast sieben Uhr morgens. Seine Schicht war in knapp zwei Stunden zu Ende. Mit etwas Glück kam er erst gar nicht mehr in die Verlegenheit, Vivian Taylor zu treffen. Mochte sich sein Nachfolger mit dem Problem herumschlagen. Michael war jünger und in vielerlei Hinsicht abgebrühter, für ihn war die Arbeit hier nur ein Job, den er nicht sonderlich persönlich nahm. Ihm würde es nichts ausmachen, Vivian Taylor etwas vorzulügen.

Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung, während einige Stockwerke über ihm Mark Taylor die Tür zu seiner Suite öffnete, seiner Begleiterin den Vortritt ließ und ihr folgte. Erst als er die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte, streifte sie den Umhang ab.

Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, gehörte Vivian Taylor.


»Ich begreife nicht, worauf wir noch warten«, knurrte Pecos, einer von Sheldons Freunden, als Vivian ihren Bericht beendet hatte. Anfangs hatte sie erwogen, einfach den Mund zu halten und sich zu weigern, etwas über Ulthar, das Spiegelkabinett und Frank Porters vermutliches Schicksal zu erzählen, diesen Entschluß aber schnell wieder verworfen. Sheldon kannte die ganze Geschichte, und wenn sie sich weigerte, hätte er sie erzählt und dabei wahrscheinlich alles etwas verharmlost oder geringfügig in eine Richtung verändert, die ihm besser gefiel. Es war ein Fehler gewesen, sich ihm anzuvertrauen, das wußte Vivian jetzt, aber nachdem sie nun einmal so weit gegangen war, stellte es das kleinere von zwei Übeln dar, wenn sie selbst die Geschichte noch einmal wiederholte und dabei besonderen Wert auf Ulthars Gefährlichkeit legte. Wie wenig es allerdings nutzte, bewies ihr Pecos' Reaktion. Der junge Mann rutschte von seinem Barhocker herunter und funkelte Sheldon auffordernd an. »Fahren wir hinaus und nehmen diesen Laden auseinander«, verlangte er.

Sheldon verzog abfällig das Gesicht. »Du bist ein Idiot, Pecos«, sagte er ruhig. »Vivian hat doch gerade versucht, dir zu erklären, daß wir uns einen Plan ausdenken müssen, wie wir Frank dort herausholen. Denken, Pecos, verstehst du?« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Was glaubst du, wie schnell uns diese Spiegeltypen entdecken, wenn wir einfach mit unseren Motorrädern nach Coney Island hinausfahren?«

Pecos schürzte trotzig die Lippen. »Weißt du was Besseres?«

»Im Moment nicht«, gab Sheldon zu. »Aber uns wird schon was einfallen. Deshalb bin ich schließlich hergekommen, statt allein sofort was zu unternehmen.«

Einer der anderen schob sich in den Vordergrund. »Sag mal, Sheldon«, begann er zögernd, »ich will deine Worte ja nicht anzweifeln, aber ...« Er sah Vivian mißtrauisch an und wiegte den Kopf. »Bist du sicher, daß die Kleine dich nicht verläßt? Ich meine, Spiegelbilder, die herumlaufen und sich bewegen - das ist doch ziemlich phantastisch, oder? Vielleicht hat sie einfach einen kleinen Dachschaden.«

Für zehn, fünfzehn Sekunden starrte Sheldon den Mann nur schweigend an. »Ich wünschte, es wäre so«, murmelte er dann. »Was glaubst du, wie oft ich mir diese Frage in den letzten Stunden schon gestellt habe? Aber ich habe dieses ... dieses Vogelmonster selbst gesehen, und ich habe dagegen gekämpft. Und ich habe auch die Spiegelwesen gesehen, wenn auch zum Glück nur von weitem. Sie sahen zwar wie normale Menschen aus, aber nach der Begegnung mit diesem fliegenden Ungeheuer glaube ich ihr jedes Wort.« Er deutete auf Vivian. »Und was dich betrifft, Jack ... Wenn du Schiß hast, dann sag es. Ich kann es dir nicht mal übelnehmen, aber wir kommen auch gut ohne dich zurecht.«

Jack erbleichte sichtlich. »So war das nicht gemeint, Sheldon. Es ist nur ...«

»Sie glauben mir nicht«, sagte Vivian ruhig.

Jack nickte. »Wenn ich ehrlich sein soll - nein.«

»Das ist kein Wunder. Die Geschichte hört sich ziemlich phantastisch an, das weiß ich. Wahrscheinlich würde ich an Ihrer Stelle selbst nicht anders reagieren. Wenn mir vor ein paar Tagen jemand etwas von gestaltgewordenen Spiegelbildern, fliegenden Ungeheuern und anderen Schauergestalten erzählt hätte, hätte ich ihn bestimmt auch ausgelacht. Aber was ich erzählt habe, ist wahr.« Vivian seufzte. »Wenn Sheldon nicht eingegriffen hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.«

»Sheldon Porter als Lebensretter«, kicherte jemand. »Wie edel.«

Sheldon überging die Bemerkung. »Es geht gar nicht darum, ob wir ihr glauben oder nicht«, sagte er nach einer Weile. »Wir wissen, daß Frank dort hinausgefahren und seitdem nicht wieder aufgetaucht ist. Wir sollten wenigstens nachsehen, ob es dieses Kabinett wirklich gibt. Wenn es stimmt ...« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht knöpfen wir uns diesen Ulthar mal vor.«

Vivian sah ihn zornig an. »Verdammt, Sheldon, ich hätte gedacht, daß Sie vernünftig sein würden, aber das War wohl ein Irrtum. Sie unterschätzen die Gefahr noch immer. Gegen Ulthars Magie sind Sie und Ihre Freunde hier ein Nichts, begreifen Sie das doch endlich. Sie können nicht einfach hingehen und sich ihn vorknöpfen, wie Sie es ausdrücken.«

»Und ob ich das kann«, sagte Sheldon grimmig. »Seien Sie mir nicht böse, Vivian - aber bei uns herrschen andere Gesetze als in der Gesellschaftsschicht, aus der Sie kommen. Wir haben unseren eigenen Ehrenkodex. Niemand vergreift sich an einem von uns, ohne es mit allen zu tun zu bekommen. Und wir lassen uns durch ein bißchen Hokuspokus nicht einschüchtern.«

Vivian rang hilflos mit den Händen und starrte Sheldon an. Sie hätte ihn niemals einweihen dürfen. Die Welt, aus der er und seine Freunde stammten, unterschied sich grundlegend von ihrer, und das nicht erst seit ihrer Hochzeit mit Mark. Sheldons Welt mochte auf ihre Weise härter und brutaler sein, aber gleichzeitig einfacher. Gewalt wurde mit Gewalt beantwortet, und je größer eine Bedrohung war, desto größer das Maß an Gewalt, das man ihr entgegensetzen mußte.

»Selbst wenn Sie Recht hätten, Sheldon«, sagte sie leise, »selbst wenn es so einfach wäre und wir einfach hinausgehen und gegen Ulthar kämpfen könnten ... er hat einfach zu viele Männer. Ihr seid acht oder neun, aber Ulthar hat Dutzende von Gefolgsleuten, vielleicht sogar Hunderte.« Von den Echsenwesen sprach sie lieber nicht.

So ganz hatte sie das Auftauchen der unheimlichen Kreaturen noch immer nicht begriffen. Es war alles viel zu schnell gegangen, es war viel zuviel in viel zu kurzer Zeit passiert, als daß sie die Ruhe gehabt hätte, über die Hintergründe aller Geschehnisse nachzudenken. Eigentlich war sie seit Stunden fast nur noch damit beschäftigt gewesen, ihr Leben zu retten. Fest stand immerhin, daß es neben den Spiegelgeschöpfen noch eine zweite, kaum weniger gefährliche Gruppe gab, die sich zwar mit Ulthar bekriegte, deshalb aber noch lange nicht auf ihrer Seite stand. Nur zu deutlich erinnerte sie sich noch, wie eine der Echsenkreaturen sie zu töten versucht hatte. Es war möglich, daß tatsächlich Bürgermeister Conelly dahintersteckte, wie Ulthar behauptet hatte, aber es konnte sich ebensogut um eine Lüge des Magiers handeln, mit der er ein weit größeres Geheimnis zu verschleiern versuchte. Vielleicht verfolgten die Echsenmonster ein ganz anderes Ziel.

Dennoch erschien Ulthar ihr im Moment als der gefährlichere Gegner. Die monsterhaften Kreaturen hatten voller Haß gekämpft, gelenkt von einem geradezu animalischen Trieb, während Ulthar ... Sie dachte an die spiegelnde, silbernen Gänge des Kabinetts zurück, und wieder stieg dieses seltsame, beklemmende Gefühl in ihr auf. Das Ganze erweckte den Eindruck einer geradezu klinischen Bösartigkeit. Ulthars Reich war sauber, blank, blitzend ... gefühllos. Seine Kreaturen glichen Robotern, die stumm ihre Befehle ausführten, ohne Gewissen, ohne Gefühle ... Vielleicht, überlegte sie, war dies die Endstufe des Bösen. Ein Wesen, das für seine Opfer nicht einmal mehr Haß empfand, sondern nur noch Gleichgültigkeit. Selbst die Zeitungsschmierer, die ihr für eine Weile das Leben zur Hölle gemacht hatten und die sie deshalb mehr als einmal als dämonische Blutsauger oder Teufelsdiener bezeichnet hatte, besaßen im Vergleich zu Ulthar wenigstens noch Ansätze von Menschlichkeit.

»Und wie«, drang Jacks Stimme in ihr Bewußtsein, »sollen wir dann vorgehen?«

Sie schrak auf, sah einen Moment lang verwirrt von Sheldon zu Jack und dann wieder zu Sheldon zurück. »Ich weiß es auch nicht«, gestand sie. »Wir müssen irgendwie versuchen, Ulthar aus seinem Bau zu locken.«

»Oder hineinzukommen«, sagte Jack. Er lächelte, als er Vivians überraschten Blick bemerkte. »Im Ernst - es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, unbemerkt in dieses komische Kabinett hineinzukommen.« Er grinste, entblößte dabei eine Zahnlücke und nippte an seinem Bier. »Wenn dieser Ulthar so scharf darauf ist, Sie in die Hände zu bekommen ...«

»Er hat seine Leute, die das für ihn erledigen«, unterbrach ihn Sheldon. Auf seinem Gesicht erschien ein nachdenklicher Ausdruck. »Aber du bringst mich da auf eine Idee ...« Er drehte sich halb herum und sah Vivian nachdenklich an. »Ihr Mann«, begann er, »er wurde auch geschnappt, nicht wahr?«

Vivian spürte einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust, als Marks Name fiel. Sie hatte bisher fast krampfhaft vermieden, an ihn zu denken. Sie nickte widerwillig.

»Wenn ich er wäre«, fuhr Sheldon nachdenklich fort, »würde ich in mein Zimmer zurückgehen und in aller Ruhe abwarten, bis Sie auftaucht.«

»Glauben Sie wirklich, ich wäre so dumm, dorthin zu gehen?« fragte Vivian.

Sheldon nickte ernsthaft. »Aber sicher. Sie verkennen Ihre Lage, Missis Taylor. Selbst wenn Sie aus eigener Kraft hätten entkommen können - wo wären Sie hingegangen? Ohne Geld, ohne Papiere, ohne Freunde? Sie müssen wenigstens Ihren Paß haben. Ohne den kommen sie nämlich nicht einmal aus der Stadt.«

Vivian mußte Sheldon widerwillig recht geben. Das Problem mochte banal erscheinen, aber es existierte. Die Stadt würde sie sicherlich auch ohne Papiere verlassen können, aber ganz sicher nicht das Land. Und sie würde ohne Geld auch nicht allzu weit kommen; für jemanden der sich wie sie daran gewöhnt hatte, sich niemals Sorgen um Geld oder Unterkunft machen zu müssen, ein fast bizarrer Gedanke. Aber leider hatte Sheldon nur zu recht. Sie hatte nicht einmal eine einzige ihrer Kreditkarten bei sich.

»Und was«, fragte sie zögernd, »schlagen Sie vor?«

Sheldon grinste gehässig. »Nun, wenn ich Ihr Mann wäre, dann würde ich im Hotel eine hübsche kleine Falle für Sie vorbereiten.«

»Das ist anzunehmen.«

»Dann sollten wir ihn nicht unnötig warten lassen«, sagte Sheldon und grinste noch breiter.


Der Portier sah überrascht auf, als die Gruppe das Foyer betrat. Für einen Moment spielte ein mißbilligender Zug um seine Mundwinkel, ehe sein Gesicht wieder zu einer Maske berufsmäßiger Freundlichkeit erstarrte. Als eines der teuersten und vornehmsten Hotels New Yorks genoß das SHERIDAN nicht umsonst einen gewissen Ruf, so daß eine Rockerbande nicht unbedingt zum gewohnten Bild des Hotels gehörte, und die Aufmachung der vier jungen Männer, die durch die Glastüren traten, ließen den Portier nicht an ihrer Zugehörigkeit zu einer Straßengang zweifeln: enge, glänzende Lederhosen über schweren Stiefeln, nietenbeschlagene Jeans, Lederjacken und abgewetzte Stulpenhandschuhe. Die geschwärzten Visiere der Motorradhelme gaben den Gestalten etwas Bedrohliches, Abenteuerliches.

»Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte der Portier mit der üblichen professionellen Höflichkeit, als die Gruppe vor ihm anhielt. Einige vorübergehende Gäste warfen den vier mißbilligende oder ängstliche Blicke zu und beeilten sich, weiterzukommen.

»Wir wollen zu Mister Taylor«, sagte einer der vier. Er griff mit einer geschmeidigen Bewegung nach oben, nahm den Helm ab und legte ihn auf die Theke. »Ist er da?«

Der Portier drehte sich zögernd herum, sah zum Schlüsselbord herauf und schüttelte den Kopf. William Crown hatte ihm beim Schichtwechsel vor rund drei Stunden Taylors Wunsch, seine Anwesenheit verleugnen zulassen, mitgeteilt.

»Der Zimmerschlüssel ist hier«, sagte er, ohne zu erwähnen, daß es sich nur um einen von zweien handelte. »Mister Taylor scheint nicht im Haus zu sein.«

»Das macht auch nichts«, sagte einer der drei anderen Ankömmlinge, setzte ebenfalls den Helm ab und schüttelte das Haar auseinander. Erst jetzt war zu erkennen, daß es sich um eine Frau handelte.

Der Portier schluckte. »Missis Taylor!«

Vivian lächelte breit. »In Lebensgröße. Haben Sie mich nicht erkannt?«

»Nein, ich ...«

Vivian unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Hat Mister Taylor gesagt, wann er wiederkommt?«

»Nein. Ich bin erst seit drei Stunden hier. Er muß sehr früh weggegangen sein.« Er drehte sich um und machte Anstalten, nach dem Schlüssel zu greifen, aber Vivian hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.

»Das wird nicht nötig sein. Ich brauche nur eine Kleinigkeit aus dem Zimmer. Vielleicht kann einer der Pagen hinaufgehen?«

»Selbstverständlich. Worum handelt es sich?«

»Ich brauche den blauen Koffer aus dem Schlafzimmer«, sagte sie. »Er müßte direkt neben dem Bett stehen. Könnten Sie ihn für mich holen lassen?«

Der Portier nickte, drückte auf einen verborgenen Klingelknopf und drehte sich erwartungsvoll um. In der holzgetäfelten Wand hinter seinem Rücken öffnete sich eine schmale Tür, und ein kleinwüchsiger uniformierter Page erschien. Vivian konnte nicht verstehen, was der Portier zu ihm sagte, aber er nickte beflissen und entfernte sich in Richtung Aufzug.

»Wir warten hier«, sagt Vivian. Sie griff nach ihrem Helm, klemmte ihn unter den Arm und wich mit zufällig erscheinenden Bewegungen ein paar Schritte in Richtung Ausgang zurück. Ihre drei Begleiter folgten ihr.

»Glauben Sie, es hat geklappt?« fragte Sheldon, als sie außer Hörweite des Portiers waren.

Vivian biß sich auf die Unterlippe. »Ich hoffe es«, sagte sie. »Wenn nicht ...« Sie brach ab und starrte an Sheldon vorbei nach draußen. »Er muß einfach da sein«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Sie können sich ausrechnen, daß ich früher oder später hier auftauche. Ich hoffe nur, Mark fällt auf den Trick herein.« Sie sah zweifelnd zum Aufzug und verfluchte ihre Nervosität. Allmählich kamen ihr Zweifel, ob Sheldons Plan wirklich so gut war, wie sie im ersten Augenblick angenommen hatten. Die ganze Geschichte war mehr als gewagt. Aber vielleicht hatten sie gerade deshalb Aussicht auf Erfolg. Ulthar würde mit allem rechnen - aber kaum damit, daß Vivian zum Angriff überging.

Auf der Straße fuhr eine Kolonne schwerer Motorräder vorbei. Das dumpfe Grollen der Motoren wurde von den dicken Glasscheiben der Türen fast vollkommen verschluckt, aber Vivian und Sheldon hörten es trotzdem. Sheldon trat vor die Glasscheibe und bewegte wie zufällig die Hand. Keinem Außenstehenden wäre die Geste aufgefallen. Auch im Verhalten der Motorradfahrer schien sich nichts zu ändern. Aber Vivian wußte, daß Pecos das Zeichen gesehen hatte. Die Gruppe mochte nach außen wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen wilder Gestalten erscheinen, aber Vivian hatte schnell erkannt, daß es sich in Wirklichkeit um eine straff geführte Gruppe handelte, die mehr Disziplin aufbringen konnte, als man ihr zutraute. Zwei der Maschinen würden jetzt ausscheren und sich dem Hotel von der entgegengesetzten Seite nähern.

»Ich hoffe, es war nicht zu früh«, murmelte sie.

Sheldon lächelte ermutigend. »Kaum. Außerdem - Pecos kann schon auf sich aufpassen. Er ist ein Meister im Improvisieren.«

»Der Aufzug kommt«, flüsterte Jack.

Vivian drehte sich mit erzwungenen ruhigen Bewegungen herum. Das weiße Licht über der Aufzugstür war aufgeleuchtet. Ein heller Glockenton erklang, dann gingen die Türen mit quälender Langsamkeit auseinander. Aus der Kabine trat Mark Taylor. Für einen kurzen Augenblick fühlte Vivian einen heißen, brennenden Schmerz, als sie die schlanke Gestalt betrachtete, die so ganz wie Mark aussah und doch grundverschieden von ihm war.

Er sah sich rasch nach rechts und links um und ging dann zum Portier hinüber. Vivian sah, wie er ein paar Worte mit dem Mann wechselte, der dann mit der Hand in ihre Richtung deutete. Marks Kopf ruckte herum. Für einen Herzschlag stand auf seinem Gesicht maßlose Verblüffung. Dann lächelte er, bedankte sich mit einem flüchtigen Kopfnicken beim Portier und kam mit ausgebreiteten Armen auf Vivian zu. »Vivian!« rief er. Seine Stimme klang warm und herzlich wie immer, und in seinem Blick schien echte Freude zu liegen. »Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht. Wo warst du die ganze Zeit?«

Er erreichte Vivian, umarmte sie flüchtig und trat einen Schritt zurück. »Entschuldige bitte - dieser Idiot von Portier hat nicht einmal gemerkt, daß ich schon längst zurückgekommen war. Willst du mir nicht deine Freunde vorstellen?« Er sah Jack, Sheldon und Steven durchdringend an und lächelte dann erneut. »Es sind doch deine Freunde, oder?«

Vivian nickte zögernd. Alles in ihr schien verkrampft, drängte danach, sich an Marks Hals zu werfen und diesen ganzen, gräßlichen Alptraum zu vergessen. Dieser Mann war nicht Mark, dachte sie immer wieder. Er ist nicht Mark. Er ist nicht der Mark, den ich kenne.

»Gehen wir doch hinauf«, sagte Mark mit einer einladenden Geste. Vivian schüttelte ruckhaft den Kopf und wich unwillkürlich einen Schritt von dieser vertrautunheimlichen Erscheinung zurück. Marks Brauen schienen sich mißbilligend zusammenzuziehen. Aber er hatte sich augenblicklich wieder in der Gewalt. »Du bist sauer wegen gestern abend«, erklärte er. »Ich verstehe dich. Aber diese Party war einfach zu langweilig, deswegen bin ich eher gegangen.«

Für einen Moment war Vivian versucht, ihm zu glauben. Sie hatte Mark nur zu Beginn des Empfangs gesehen, und wenn er früher gegangen sein sollte ... Aber das war natürlich Unsinn. Mark hätte nicht so einfach von der Feier verschwinden können, selbst wenn sie ihm noch so langweilig erschienen sein mochte. Schließlich war er nicht nur hingegangen, um sich zu amüsieren, sondern um Kontakte zu knüpfen, wichtige geschäftliche Kontakte, auf die er nicht aus einer Laune heraus verzichtet hätte. Er war es von Jugend an gewöhnt, an noch wesentlich förmlicheren und langweiligeren Empfängen teilzunehmen. Vor allem aber wäre er niemals ohne sie gegangen, oder ohne ihr wenigstens Bescheid zu sagen.

Sie sah in Marks Gesicht und entdeckte in seinen Augen eine Kälte, die das sanftmütige Lächeln, mit dem er sie um Verzeihung zu bitten schien, Lügen strafte.

»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sie stockend. Sie spürte, wie Sheldon neben ihr aufatmete, und merkte plötzlich, wie lange sie wie versteinert dagestanden und Mark angestarrt hatte.

»Was?«

»Draußen. Es ist im Wagen.«

Mark zögerte, zuckte schließlich mit den Achseln und nickte. »Gut. Gehen wir.«

Sie verließen das Hotel. Mark schien nicht zu bemerken, daß sich Sheldon und Jack unauffällig neben ihn schoben, während der hünenhafte Steven wie zufällig direkt hinter ihm ging.

»Der Wagen steht dort vorne«, sagte Vivian. Sie deutete auf einen klapprigen, viertürigen Ford, der so aussah, als würde er nur noch vom Rost zusammengehalten. Sheldon hatte sich den Wagen von seiner Mutter ausgeborgt. Er hatte es jedenfalls behauptet. Aber Vivian befürchtete, daß die alte Dame - falls es sie überhaupt gab - nichts von dieser Leihgabe wußte.

»Was soll die Geheimnistuerei eigentlich?« fragte Mark plötzlich. Er blieb stehen, runzelte die Stirn und sah Vivian mißbilligend an. »Du bist doch normalerweise nicht so exzentrisch?«

Vivian antwortete nicht, sondern ging mit eiligen Schritten weiter. Mark folgte ihr notgedrungen, flankiert von den beiden Führern der Motorradgang. Sie öffnete die hintere Tür des Fords, machte eine einladende Geste und wartete, bis Mark sich neugierig in das Innere des Wagens beugte. Ihr Blick tastete fast ängstlich zum Innenspiegel. Obwohl sie den Anblick erwartet hatte, war es ein Schock. Sie sah sich selbst, ihre angstvoll geweiteten Augen. Sie sah Sheldon, der dicht neben der Tür stand und Mark den Rückweg verwehrte. Sie sah Jacks zum Schlag erhobene Hand ... aber Mark Taylor war im Spiegel nicht sichtbar! Vivian stöhnte unwillkürlich auf und sog scharf die Luft ein. Mark ruckte in einer schlangenartigen Bewegung herum. Auf seinem Gesicht spiegelte sich zuerst Überraschung, dann Zorn und eine Spur von Angst, als er begriff, daß er in eine Falle gegangen war.

Aber seine Reaktion kam zu spät. Jacks Faust sauste mit der Wucht eines Vorschlaghammers auf seinen Nacken herab. Mark stieß einen unterdrückten Fluch aus, ruderte in der Enge des Wagens hilflos mit den Armen und kippte vornüber.

Yivian stöhnte erneut auf. Obwohl sie wußte, daß dieser Mann nichts mit dem Mark Taylor, den sie kannte, gemein hatte, hatte sie das Gefühl, daß der Schlag nicht ihn, sondern sie getroffen hatte. Sie drehte sich um und wandte den Blick von der Szene ab.

Der Schlag hatte das Spiegelwesen, das Marks Taylors Stelle eingenommen hatte, nicht sonderlich beeindruckt, aber allein die Wucht des Hiebes ließ ihn vornüber auf den Sitz fallen. Die drei gaben ihm nicht die geringste Chance. Er fühlte, wie kräftige, sehnige Hände nach seinen Armen griffen und sie auf den Rücken bogen, und versuchte mit der ganzen unmenschlichen Kraft, die er aufbringen konnte, sich zu befreien. Aber auch seinen Kräften waren Grenzen gesetzt. Gegen die drei starken, kampferprobten Männer kam er nicht an. Je mehr er sich aufbäumte, um sich aus der Umklammerung zu befreien, desto gnadenloser schien der Griff Jacks und Sheldons zu werden.

»Die Handschellen, schnell!« zischte Sheldon.

In Stevens Fäusten erschien ein Paar schimmernder Handschellen. Unter Marks protestierendem Gebrüll ließ er die stählerne Acht um dessen Handgelenk schnappen, beförderte ihn mit einem unsanften Stoß ganz in den Wagen hinein und warf sich auf den Sitz neben ihm. Jack eilte um den Wagen herum und postierte sich auf der anderen Seite des wild um sich schlagenden Gefangenen, während Sheldon sich hinter das Steuer klemmte und den Motor anließ. Vivian setzte sich neben ihn auf den Beifahrersitz. Sie vermied es krampfhaft, Mark anzusehen.

Der Wagen rollte langsam los und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Die Kampfgeräusche auf dem Rücksitz verstummten allmählich. Mark schien eingesehen zu haben, daß er gegen seine beiden Bewacher keine Chance hatte. Und auch seine übermenschlichen Kräfte schienen nicht imstande zu sein, die Handschellen zu sprengen. »Vivian!« keuchte er. »Was zum Teufel soll das bedeuten? Bist du total übergeschnappt?«

Vivian schluckte krampfhaft und setzte zu einer Antwort an, aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Es ist nicht Mark! hämmerte sie sich immer wieder ein.

»Vivian - bitte ... erklär mir doch wenigstens, was das Ganze soll!« schrie Mark. Die Verzweiflung in seiner Stimme hörte sich vollkommen echt an.

Vivian drehte sich schweratmend auf dem Beifahrersitz herum und zwang sich, Mark ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, und in seinem Blick flackerte Panik. »Gib auf«, sagte sie leise. Die Worte erforderten ihre ganze Kraft. »Hör auf mit dem Theater, Mark. Ich wußte von Anfang an ...« Ihre Stimme versagte abermals, und die Worte gingen in einem trockenen Schluchzen unter. »Mark, ich ...«

Die Verzweiflung verschwand schlagartig aus Marks Gesicht. »Ich hätte mir denken können, daß du nicht drauf reinfällst«, sagte er kalt. Der Klang seiner Stimme ließ Vivian erschaudern. Er lehnte sich zurück, setzte sich, so weit dies die Handschellen und der unbarmherzige Griff seiner beiden Bewacher zuließ; bequem hin und starrte scheinbar teilnahmslos aus dem Fenster. »Und was versprichst du dir von diesem Spielchen?« fragte er.

Vivian starrte ihn durch einen Schleier von Tränen an. »Mark ...«

»Mark, Mark, Mark ...« äffte er ihren Tonfall nach. »Hör auf zu flennen, dumme Kuh.« Er lachte grausam und bedachte Vivian mit einem Blick, der ihr wie ein glühendes Messer in die Brust zu stechen schien. »Freu dich ruhig über deinen Sieg«, fügte er dann grinsend hinzu. »Freut euch ruhig - du und deine drei Freunde. Wenn es euch Spaß macht, spielt ruhig noch ein bißchen Räuber und Gendarm. Du bist dir darüber im klaren, daß ihr keine Chance habt?«

»Halt die Schnauze«, grollte Jack. »Sonst stopf ich sie dir.«

Mark lächelte sanft, fuhr dann mit einer blitzschnellen Bewegung herum und rammte ihm den Ellbogen in den Magen. Jack ächzte, fiel vorn über und rang würgend nach Luft.

»Hört auf!« Vivians scharfer Befehl ließ Mark erstarren. Er lehnte sich zurück, grinste flüchtig und starrte aus dem Fenster. Jack richtete sich stöhnend auf und massierte sich den Magen. Er wirkte blaß. »Wo bringen wir ihn eigentlich hin?« fragte Vivian. Ihre Stimme schwankte immer noch. Aber irgendwie war sie froh, diesen kurzen Ausbruch miterlebt zu haben. Der heimtückische Angriff hatte ihr endgültig bewiesen, daß dieses Wesen nichts, aber auch gar nichts mit Mark gemeinsam hatte.

»Es gibt eine alte Fabrik im Westen«, sagte Sheldon, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Das Ding ist massiver als das Staatsgefängnis. Wir werden ihn dort eine Weile festhalten können. Pecos kommt auch dorthin.«

»Wenn alles gutgeht«, sagte Vivian. Sheldon grinste. »Wird schon. Bisher hat alles geklappt, warum sollte es nicht weiter so gut gehen?«

»Alles geklappt?« ächzte Jack. »Deine Art von Humor ist goldig, Sheldon. Vielleicht hätte ich mich besser nach vorne setzen sollen.«

Sheldon grinste schief, sah in den Rückspiegel und bog auf die Stadtautobahn ein. Der Wagen beschleunigte.

»Heb dir deine Wut für den Augenblick auf, in dem du diesem Ulthar gegenüberstehst«, riet er. »Das heißt, wenn noch etwas von ihm übrig ist, nachdem ich mit ihm abgerechnet habe.«

Vivian schüttelte den Kopf, aber sie sagte nichts, sondern starrte stumm aus dem Fenster.

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