9

Für einen winzigen Moment kam es Vivian vor, als wäre die Zeit selbst erstarrt. Die Gestalten ihrer unheimlichen Gegner schienen mitten in der Bewegung einzufrieren. Ein lauter, quälend hoher Ton lag plötzlich in der Luft; ein zermürbendes Kreischen und Singen, als würde irgendwo ein gigantisches Weinglas angeschlagen. Sämtliche Gläser und Flaschen im Raum begannen zu klirren.

Vivian konnte sich aus dem brutalen Griff des Angreifers lösen. Sie fiel zu Boden und prallte schmerzhaft auf den harten Marmor.

Dann, scheinbar ohne jeden Grund und von einem Moment zum anderen, explodierte der Spiegel. Es gab einen kurzen, grellen Lichtblitz, gefolgt von einem Schwall heißer Luft, der den Raum mit einem Hagel winziger scharfkantiger Spiegelstückchen überschüttete, aber das nahm Vivian kaum wahr. Entsetzt beobachtete sie, wie sich die unheimlichen Gestalten wie unter einem ungeheuren Schock aufbäumten, um gleich darauf wieder zu erstarren. Ihre Körper begannen milchig und kristallen zu werden, und in Ansätzen sogar transparent, so daß Vivian meinte, verzerrt den Hintergrund des Raumes durch sie hindurchschimmern zu sehen. Sie hatten den Eindruck lebensgroße Glasskulpturen zu sehen.

Dann zerbrachen sie.

Mit ohrenbetäubendem Knall zerbarsten sie in unzählige Bruchstücke. Der Anblick war so grauenhaft, daß Vivian nur daliegen und das Schauspiel wie gelähmt beobachten konnte.

Dann, von einer Sekunde zur anderen, kehrte eine fast unnatürliche Ruhe ein.

Vivian richtete sich mühsam auf die Ellenbogen auf und drehte den Kopf. Der Raum war so gründlich verwüstet, als wären hier ganze Armeen aufeinandergeprallt. Der große, leere Rahmen über dem Kamin schien sie höhnisch anzugrinsen. Überall lagen Glasscherben; zerbrochene Fragmente des großen Spiegels, zertrümmerte Gläser und Flaschen und die kleinen, an zerborstenes Sicherheitsglas erinnernden Glasstückchen, in die sich die Körper der Angreifer verwandelt hatten.

Sie stand auf, watete durch ein Meer von Trümmern und Glas zu Masterton hinüber und drehte ihn auf den Rücken. Der Manager war bewußtlos, schien aber bis auf eine mächtige Beule am Hinterkopf und ein paar oberflächliche Kratzer unverletzt zu sein. Sie zog ihre Jacke aus, bettete seinen Kopf behutsam darauf und stand auf. Unter ihren Schuhen knirschte Glas, als sie zur Tür ging. Sie brauchte einen Arzt für Masterton.

Ungeheurer Lärm schlug ihr entgegen, kaum daß sie auf den Korridor hinausgetreten war: das Klirren von Glas, die entsetzten Schreie von Männern und Frauen, Schmerzenslaute. Als sie die Tür zum Ballsaal erreichte, prallte sie entsetzt zurück.

Sämtliche Ausgänge des Saales waren von Gruppen großer, muskulöser Männer versperrt, die jeden Versuch, den Raum zu verlassen, verhinderten. An den Wänden hatten sich ein Dutzend schmaler Tapetentüren geöffnet, durch die Scharen von Angreifern in den Raum strömten, sich über die Gäste warfen und sie mit übermenschlicher Kraft niederrangen. Viele der Angreifer waren verkleidet, trugen Kostüme aus grünlicher Schuppenhaut, die sie ein wenig wie stämmige, aufrecht gehende Echsen aussehen ließen. Auf dem Kopf trugen sie an Krokodilschädel erinnernde Gummimasken, doch obwohl die bizarren Kostüme sie behindern mußten, kämpften sie mit der gleichen Geschmeidigkeit und ungeheuren Kraft wie die übrigen Angreifer. Auch wenn es sich nur um Kostüme handelte, schauderte Vivian. Die Gestalten sahen täuschend echt aus, fremdartige, furchteinflößende Bestien, die geradewegs einem Horrorfilm entsprungen sein könnten. Dennoch kamen sie Vivian seltsam vertraut vor, ohne daß sie sich in ihrer Panik bewußt wurde, woher dieses Gefühl stammte.

Vivian sah, daß ein paar beherzte Männer und Frauen einen Kreis gebildet hatten und versuchten, sich die Angreifer vom Leibe zu halten. Sie hatten sich mit Tisch- und Stuhlbeinen bewaffnet, aber gegen die scheinbar unverwundbaren Gestalten schien jeder Widerstand sinnlos zu sein. Immer wieder preschten zwei oder drei der Unheimlichen vor, rissen ein wehrloses Opfer aus dem Kreis heraus und schleiften es davon.

Vivian entdeckte Conelly, Cramer und Bender bei einer Gruppe von etwa zehn Männern, die im Hintergrund des Saales standen und dem Kampf offenbar unbeteiligt zusahen.

Irgend etwas krachte dicht neben ihr gegen die Wand und zerbarst. Vivian bemerkte es kaum. Das gräßliche Schauspiel hatte sie ganz in ihren Bann geschlagen. Der ganze Empfang war eine riesige Falle gewesen. Conelly, oder wer immer sonst hinter dem Ganzen stand, hatte mit einem einzigen Schlag praktisch die gesamte Führungsspitze der Stadt in seine Gewalt gebracht.

Conelly fuhr plötzlich herum. Seine Augen verengten sich, als er Vivian erkannte. Sie sah, daß er irgend etwas rief und hektisch mit den Armen fuchtelte. Vier, fünf der Angreifer in den Echsenkostümen ließen plötzlich von ihren Opfern ab und bewegten sich auf sie zu.

Vivian fuhr herum und sah sich gehetzt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Die breite, offene Freitreppe, die ins Untergeschoß führte, wurde von einer Doppelreihe finster dreinblickender Gestalten gesperrt, so daß Vivian nichts anderes übrig blieb, als den Flur in der gleichen Richtung entlangzurennen, aus der sie gerade gekommen war.

Aus einer Tür ein Stück vor ihr kamen weitere der maskierten Gestalten und versperrten ihr den Weg auch in dieser Richtung. Blindlings riß Vivian eine der von dem Gang abzweigenden Türen auf und stürmte in den Raum dahinter. Es handelte sich um eine Bibliothek, ähnlich der, in der sie bei den Mastertons die Seance abgehalten hatte. Einen weiteren Ausgang gab es nicht, nur eine Glastür, die auf einen kleinen Balkon hinausführte.

Vivian versuchte, die Tür hinter sich wieder zu schließen, doch einer der Angreifer warf sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Vivian wurde zurückgeschleudert und wäre beinahe gestürzt. Im letzten Moment konnte sie sich an einem Regal abstützen. Sie wich noch weiter zurück, als die Maskierten in den Raum eindrangen. Sie wußte nicht, was die alberne Kostümierung bedeuten sollte, aber nachdem sie die Gestalten nun aus der Nähe sah, war sie sich nicht einmal sicher, ob es sich wirklich nur um Kostüme handelte. Zumindest waren die Masken ungeheuer realistisch.

Aber das war jetzt nebensächlich. Die vordersten Gestalten hatten Vivian fast erreicht. Sie fuhr herum und rannte mit schnellen Schritten auf das Fenster zu. Hinter ihr klang wütendes Geschrei auf, als ihre Verfolger erkannten, was sie vorhatte. Vivian riß die Vorhänge beiseite und warf sich in panischer Angst gegen die Glastür. Der dünne Holzrahmen gab knirschend nach; Glas splitterte und fiel klirrend nach draußen, während Vivian auf den schmalen Balkon hinausstolperte. Zwei der Angreifer waren jetzt dicht hinter ihr. Sie prallte gegen das schmale Ziergitter, sah aus den Augenwinkeln eine huschende Bewegung und duckte sich instinktiv. Der Mann prallte gegen sie, verlor das Gleichgewicht und schien einen Moment lang mit wild rudernden Armen in der Luft zu hängen, ehe ihn sein eigener Schwung über das Balkongitter riß. Er verschwand lautlos in der Tiefe.

Auch Vivian warf kurz einen Blick nach unten und wandte den Blick schaudernd wieder ab, als sie spürte, wie sich sofort alles vor ihren Augen zu drehen begann.

Sie hatte sich durch ihren Fluchtweg selbst in die Enge manövriert. Der zweite Angreifer war unter der Tür stehengeblieben und musterte sie drohend; hinter ihm drängten sich drei, vier weitere Männer.

Sie hatte nur noch eine Wahl, auch wenn sich alles in ihr sträubte. Neben dem Balkon verlief ein schmaler Sims, der rings um das gesamte Gebäude zu führen schien. Vivian schwang die Beine über das Balkongitter und tastete nach Halt. Eng gegen die Wand gepreßt, ließ sie mit klopfendem Herzen das Balkongitter los und schob sich hastig weiter. Dabei bemühte sie sich, nicht in die Tiefe zu sehen. Eisiger Wind schlug nach ihr, fuhr schmerzhaft durch ihr dünnes Ballkleid und schien ihre Glieder zu lahmen.

»Das ist vollkommen sinnlos, Missis Taylor«, sagte eine Stimme. Vivian drehte sich vorsichtig zu dem Sprecher um. Es handelte sich um Conelly. »Wirklich«, fuhr er fort. »Es ist sinnlos. Der Sims führt lediglich von einem Balkon zum nächsten. Es wäre besser, wenn Sie aufgeben würden.« Er lehnte fast gemütlich am Balkongitter und streckte auffordernd die Hand aus. Seine Fingerspitzen waren nur wenige Zentimeter von Vivians Schultern entfernt. »Kommen Sie zurück. Es ist sinnlos.«

Vivian spürte, wie ihre Kraft nachließ. Der Kampf hatte sie fast vollkommen erschöpft, und die Angst und die eisige Kälte schienen ihre Muskeln zu lahmen. Sie sah vorsichtig in die Tiefe. Der Boden befand sich vielleicht zehn Meter unter ihr - gepflegter, kurzgeschnittener Rasen, in dem Blumenbeete ein lustiges Muster zu bilden schienen. Ihr schwindelte, und sofort schloß sie wieder die Augen. Ihr Puls raste.

»Versuchen Sie es lieber nicht«, warnte Conelly. »Es sind fast zehn Meter. Selbst wenn Sie den Sturz überleben, würden meine Leute Sie unten erwarten. Sie würden sich nur unnötig Schmerzen bereiten.« Er winkte ungeduldig. »Also kommen Sie endlich.«

Vivian dachte nicht daran, sondern wich unwillkürlich noch weiter zurück. Sie überlegte krampfhaft, was sie tun könnte. Sie hatte etwa die Hälfte der Strecke zum nächsten Balkon zurückgelegt, aber bis sie ihn erreicht hätte, würden Conellys Leute längst dort sein. Dennoch mußte sie es versuchen.

Vorsichtig tastete sie sich weiter. Der Sims unter ihren Füßen war schmal und glitschig, und ihre hochhackigen Schuhe waren denkbar ungeeignet für Kletterpartien, doch sie konnte sich unmöglich bücken, um sie auszuziehen. Ihre Finger krallten sich in winzigen Vor Sprüngen und Rissen im Mauerwerk fest, während sie sich weitertastete. Ihr Blick glitt verzweifelt über die glatte Fassade. Eine der alten, knorrigen Eichen, mit denen der Park um die Villa bepflanzt war, schien ihr verlockend nahe zu sein. Seine Äste reichten bis auf wenige Meter an das Haus heran. Aber Vivian erkannte auch, daß sie viel zu dünn waren, um ihr Gewicht zu tragen, und wenngleich zwei oder drei Meter keine große Distanz darstellten, waren sie für einen Sprung aus dem Stand heraus zuviel.

Conelly runzelte unwillig die Stirn und sagte etwas zu seinen Begleitern, die hinter ihm standen. »Also schön, Sie haben es nicht anders gewollt«, rief er. »Letztlich ist es egal, wie Sie sterben. Ich hatte gehofft, vor Ihrem Tod noch etwas über Ihre Fähigkeiten zu erfahren, aber wahrscheinlich hätte ich es ohnehin nicht geschafft, Sie wieder in Melissa zu verwandeln. Vielleicht ist es am besten, wenn wir es gleich hier zu Ende bringen, statt noch ein Risiko einzugehen.«

Vivian beachtete ihn nicht. Zentimeter um Zentimeter schob sie sich weiter voran und blieb erst stehen, als auch auf dem Balkon vor ihr zwei der maskierten Gestalten auftauchten. Sie machten keinerlei Anstalten, sie zu erreichen, sondern blieben ruhig stehen und warteten auf sie.

Vivian wußte, daß sie sich nicht mehr lange würde halten können. Bislang hatte die Furcht vor Conelly und seinen unheimlichen Begleitern alle ihre anderen Gefühle überdeckt, aber je länger sie auf dem schmalen Sims stand und den Wind spürte, der wie mit unsichtbaren Händen an ihr zerrte, desto mehr machte ihr die Höhenangst zu schaffen. Sie brauchte gar nicht erst in die Tiefe zu sehen, das bloße Wissen um den Abgrund direkt vor ihren Füßen reichte bereits aus, alles in ihr erstarren zu lassen. Übelkeit stieg in an- und abschwellenden Wellen in ihr auf, und das Schwindelgefühl wurde immer stärker.

Gehetzt warf Vivian einen Blick zu dem Baum hinüber. Sie hatte das Gefühl, die Äste würden ihr höhnisch zuwinken. Möglicherweise würde es ihr doch gelingen, sie zu erreichen, und wenn die Zweige auch nicht kräftig genug waren, ihr Gewicht zu tragen, würden sie doch ihren Sturz ein wenig abfedern. Höchstwahrscheinlich machte sie sich selbst nur etwas vor, aber vielleicht hatte sie doch noch eine kleine Chance.

Vivian war fast entschlossen, den Sprung zu wagen, als auf dem Balkon vor ihr plötzlich Tumult entstand. Einige Männer, unter ihnen Jeremy Cramer, waren dort erschienen und lieferten sich mit den Maskierten ein Handgemenge. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Gestalten in den Echsenkostümen über die Brüstung in die Tiefe stürzten. Conelly brüllte zornig auf.

»Kommen Sie, Missis Taylor!« rief Cramer ihr zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Schnell!«

Vivian zögerte kurz. Sie begriff nicht, was diese neue Wendung der Geschehnisse zu bedeuten hatte, aber in ihrer Situation konnte sie nicht besonders wählerisch sein. Vielleicht war alles nur ein weiterer Trick, dieses Risiko mußte sie eingehen. So schnell sie konnte, schob sie sich auf dem Sims weiter.

Zu schnell.

Ein lockerer Stein auf dem Sims brachte sie ins Straucheln. Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwo festzuhalten, doch die Wand vor ihr war zu glatt. Wild mit den Armen rudernd verlor sie vollends das Gleichgewicht und kippte nach hinten.

Das letzte, was sie spürte, waren kräftige Finger, die sich wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk schlossen und sie vorwärts rissen, dann tauchte plötzlich direkt vor ihr die Brüstung des Balkons auf, und direkt darauf löschte ein wuchtiger Schlag auf den Kopf ihr Bewußtsein aus.


Vivians Ohnmacht dauerte nicht besonders lange, doch als sie erwachte, befand sie sich nicht mehr in Conellys Haus, sondern im Fond einer großen Limousine. Zwei hünenhafte, breitschultrige Männer in eleganten Straßenanzügen saßen wie steinerne Statuen rechts und links neben ihr. Auch ihre Gesichter schienen aus Stein gemeißelt zu sein. Sie reagierten in keiner Form auf Vivians Aufwachen, verzogen nicht einmal eine Miene.

Der Wagen wurde von einem uniformierten Chauffeur gefahren. Neben ihm saß Cramer auf dem Beifahrer sitz. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte aus halb zusammengekniffenen Augen auf den vorüberfließenden nächtlichen Verkehr.

»Was ... haben Sie mit mir vor?« fragte Vivian. In ihrem Mund war ein bitterer Geschmack, und das Sprechen fiel ihr schwer. Eine ganze Kompanie boshafter Zwerge hatte offenbar ihren Kopf mit einem Bergwerk verwechselt und schien voller sadistischer Freude darin herumzuhämmern. Vorsichtig tastete Vivian über ihr Gesicht. Sie spürte eine dicke Beule, bei deren Berührung sofort eine neue Schmerzwelle durch ihren Körper fuhr. »Wo bringen Sie mich hin?«

Niemand antwortete ihr. Noch ein paarmal versuchte Vivian, ein Gespräch mit Cramer oder einem ihrer Bewacher zu beginnen, aber auch weiterhin bekam sie keine Antwort. Von Zeit zu Zeit warf Cramer ihr einen nachdenklichen Blick zu, doch er schwieg ebenfalls beharrlich auf ihre Fragen. Nach einer Weile gab Vivian auf und lehnte sich resignierend in die Polster zurück.

Der Wagen hatte die belegte City verlassen und fuhr jetzt auf einer Seitenstraße am Meer entlang. Dann und wann huschte der Umriß eines jener großen, auf hölzernen Plattformen erbauten Strandhäuser vorbei, wie sie für diesen Teil der amerikanischen Ostküste typisch waren, aber die Anzeichen von Leben schienen mit jeder Meile, die sie zurücklegten, geringer zu werden, dabei befanden sie sich noch innerhalb der Stadtgrenze New Yorks. Aber die Riesenstadt war auch mit kaum einer anderen Metropole der Welt zu vergleichen. New York war groß, unglaublich groß sogar. Das, was man sich normalerweise unter dem Begriff New York vorstellte, die Halbinsel Manhattan mit ihren himmelstürmenden Wolkenkratzern, stellte in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil der Stadt dar. Cramers Ziel mußte irgendwo im Süden der Stadt liegen, in einem der allmählich absterbenden Viertel um den Yachthafen herum, die ihre Blütezeit schon vor dem Zweiten Weltkrieg überschritten hatten. Vivian konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Zwar kannte sie sich nicht besonders gut aus in New York, und sie wußte auch nicht, wohin Cramer mit ihr wollte, aber je länger sie ihre Route verfolgte, desto sicherer wurde sie, daß er eine Menge Umwege fahren ließ, statt sein Ziel direkt anzusteuern.

Schließlich verließen sie die Straße und rumpelten eine Weile über einen kaum befestigten, mit Schlaglöchern übersäten Sandweg.

Einige Männer tauchten vor ihnen auf der Straße auf. Cramer machte ihnen ein kurzes Zeichen, worauf die Männer den Weg freigaben. Angestrengt starrte Vivian durch die Scheiben nach draußen. Ein Kassenhäuschen huschte an ihnen vorbei, dann tauchten sie in ein Labyrinth dunkler, drohender Umrisse ein. Erst jetzt erkannte Vivian, wo sie sich befanden: Auf Coney Island. Vor einigen Jahrzehnten hatte dieser riesige Jahrmarkt Millionen Besucher aus aller Welt angelockt. Der Vergnügungspark war schon vor langer Zeit aufgegeben worden, aber er existierte immer noch. Eine moderne Geisterstadt, in der sich fast nur noch Ungeziefer und gelegentlich auch zwielichtiges Gesindel herumtrieben. Eine Zeitlang hatten heruntergekommene, ältere Prostituierte versucht, die Gegend um den ehemaligen Freizeitpark mit Beschlag zu belegen, aber auch sie waren inzwischen wieder verschwunden.

Die aufgeblendeten Scheinwerfer des Wagens rissen blitzartige, huschende Bruchstücke aus der Dunkelheit: Ein grellfarbiges Plakat, zerrissen und fleckig vom Alter; die durchlöcherten Planen eines Bierzeltes, die lose im Wind hin- und herschwangen, vernagelte Bretter und Türen, heruntergelassene Gitter, hinter denen vierzig Jahre alte Teddybären darauf warteten, aus ihrem staubigen Grab befreit zu werden. Das Geräusch des Wagens schien zwischen den vielen kleinen Buden tausendfach gebrochen und verzerrt zu werden.

Die Fahrt endete vor einer niedrigen Wellblechhütte. Bevor der Fahrer den Motor abstellte und die Scheinwerfer erloschen, konnte Vivian einen flüchtigen Eindruck des Gebäudes auffangen; ein rechteckiger, nicht allzu großer Bau, lieblos aus Blechteilen zusammengefügt und mit regenbogenfarbigem, abblätterndem Lack verunziert.

Ihre Bewacher stiegen aus und bedeuteten ihr schweigend, zu dem Gebäude hinüberzugehen. Vivian gehorchte zögernd.

»Treten Sie ruhig ein, meine Liebe«, sagte eine Stimme.

Vivian zuckte zusammen. In der fleckigen Blech wand hatte sich eine Tür geöffnet. Ein alter, schmalbrüstiger Mann trat ihr entgegen.

»Es freut mich, daß Sie doch noch gekommen sind, Missis Taylor«, sagte der Alte.

»Wer ... sind Sie?«

»Mein Name ist Ulthar«, antwortete ihr Gegenüber. »Sie werden ihn sicher nicht kennen - noch nicht. Aber kommen Sie doch herein. Es ist kalt draußen.« Cramer untermalte die Aufforderung des Alten mit einem kräftigen Stoß in Vivians Rücken, der sie haltlos vorwärts taumeln ließ, was ihm einen finsteren Blick Ulthars einhandelte. »Nicht doch, Cramer. Vergessen Sie nicht, daß die Dame unser Gast ist.«

Vergeblich suchte Vivian nach einer Spur von Spott in seiner Stimme. Ulthar schien seine Worte zu meinen, wie er sie gesagt hatte. Das änderte jedoch nichts daran, daß er ihr unheimlich war.

Die Tür fiel mit einem seltsamen, dumpfen Laut hinter ihr ins Schloß. Vivian hatte plötzlich das Gefühl, in einer riesigen Gruft gefangen zu sein. Sie sah sich ängstlich um. Der Raum war bis auf einen riesigen Kunststofftisch und einen dreibeinigen Hocker vollkommen leer. Cramer und die anderen Männer waren draußen geblieben; sie war allein mit Ulthar.

»Also«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Was wollen Sie?«

Ulthar musterte sie einige Sekunden lang, dann sagte er mit ernster Stimme: »Sie!«

»Mich?« Vivian lächelte, lehnte sich gegen die Türkante und maß Ulthar mit einem spöttischen Blick. Zumindest versuchte sie spöttisch zu blicken, aber sie fürchtete, daß ihre Angst diesen Versuch kläglich scheitern ließ. »Ziemlich viel Aufhebens, nur um mich zu fangen, nicht?« fragte sie.

»Um Sie zu retten«, verbesserte Ulthar, ohne eine Miene zu verziehen. »Sie wären jetzt bereits tot, wenn meine Leute nicht eingegriffen hätten. Conelly will unter allen Umständen Ihren Tod.«

»Aber ... warum? Ich verstehe das alles nicht. Warum gerade ich? Was wollen Sie von mir, und warum will Conelly, daß ich sterbe? Was waren das für Leute auf der Party? Sie waren im Spiegel nicht zu sehen, und sie sind plötzlich wie Glas ...«

»Das sind eine Menge Fragen auf einmal«, unterbrach Ulthar sie. »Und ich fürchte, keine davon ist einfach zu beantworten. Sehen Sie - ich habe mit Conelly ein Abkommen getroffen. Er hat mir fast die gesamte Führungsspitze der Stadt in die Hände gespielt. Als Gegenleistung verlangte er Ihren Tod.«

»Ein ziemlich guter Handel für Sie«, erwiderte Vivian sarkastisch, doch hinter dem Zynismus versuchte sie nur ihre immer größer werdende Angst und Hilflosigkeit zu verbergen. »Trotzdem haben Sie ihn hintergangen. Was ist ausgerechnet an mir so Besonderes?«

»Das wissen Sie doch selbst, Missis Taylor. Sie besitzen außergewöhnliche Fähigkeiten.«

»Nur weil ich ein gutes Medium bin? Ich kann ein wenig wahrsagen und die Karten legen, aber ...«

»Sie können mehr als das, Missis Taylor«, fiel ihr Ulthar wiederum ins Wort. »Auch wenn Sie es vermutlich selbst noch nicht wissen - oder nicht mehr. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß Ihre medialen Fähigkeiten weit über die anderer Menschen hinausgehen, selbst über die der meisten sogenannten Medien. Einige wenige Menschen auf der Welt entwickeln diese Kräfte. Aus Gründen, die ich selbst nicht kenne, sind bei Ihnen bestimmte Teile des Gehirns aktiv, die gewöhnlich brachliegen. Sie sind so ein Mensch, ich ebenfalls und Conelly auch. In früheren Zeiten hat man Menschen wie uns als Hexen oder Magier gejagt und zu töten versucht. In der heutigen Zeit glaubt man nicht mehr daran, daß es übersinnliche Kräfte gibt, und die meisten von uns haben keinerlei Interesse daran, das zu ändern.«

»Im Gegensatz zu mir, meinen Sie wohl? Ist das der Grund, warum Sie mich töten wollen? Geht es Ihnen nur darum, zu verhindern, daß durch mich die Existenz übernatürlicher Kräfte bewiesen wird?«

Ulthar schüttelte den Kopf. »Aber nicht doch, meine Liebe. Außerdem hat nur Conelly vor, Sie zu töten. Ich will Ihnen ganz im Gegenteil helfen, Ihr wahres Ich wiederzuentdecken. Aber am besten werde ich Ihnen alles der Reihe nach erzählen. Es wird alles erleichtern, wenn Sie die ganze Geschichte kennen. Vielleicht werden Sie sich an einiges sogar von allein erinnern.«

»Ich habe kein Interesse an Ihren verrückten Geschichten«, sagte Vivian scharf und trat einen Schritt auf ihn zu. »Was Sie hier tun ist Freiheitsberaubung. Ich werde die Polizei benachrichtigen, wenn Sie mich nicht auf der Stelle gehen lassen!«

Ulthar lächelte amüsiert. »Nur zu. Glücklicherweise befindet sich Polizeichef Bender gerade hier in meinem Kabinett. Soll ich ihn rufen? Oder wäre es Ihnen lieber, direkt mit FBI-Direktor Cramer zu sprechen?«

Niedergeschlagen senkte Vivian den Kopf. Sie sah ein, daß Sie auf Hilfe von offizieller Seite nicht bauen durfte. Irgendwie hatte es Ulthar geschafft, sämtliche einflußreichen Leute New Yorks so zu beeinflussen, daß sie nur noch ihm gehorchten. Sie war auf sich allein gestellt. »Was ist mit Mark geschehen?« fragte sie. »Ich verspreche Ihnen, daß ich mir alles anhören werde, was Sie zu sagen haben, wenn ich vorher mit Mark sprechen kann und weiß, daß ihm nichts passiert ist.«

»Er lebt, und es geht ihm gut«, versicherte Ulthar. »Er befindet sich ebenfalls hier. Sie werden später mit ihm sprechen können.«

»Ich will ihn sehen«, beharrte Vivian. »Jetzt sofort.«

»Ich sagte später«, erwiderte Ulthar in einem Tonfall, der deutlich machte, daß er keinen weiteren Widerspruch mehr duldete. »Ich werde Ihnen zunächst etwas über mich erzählen.« Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Haß, und als er weitersprach, zitterte seine Stimme. »Ich war nicht immer so wie jetzt, Missis Taylor«, sagte er. »Ich weiß, daß ich häßlich bin. Alt, häßlich - ein Krüppel, über den die Leute lachen und mit dem sie höchstens Mitleid haben. Früher, als ich jung war, war ich ein angesehener Mann. Die Menschen schätzten und ehrten mich, und ich tat alles, was in meiner Macht stand, um diese Welt besser zu machen. Ja, Missis Taylor, besser. Ich wollte sie zu dem machen, was sich die Menschen gewünscht haben. Zu einem Paradies, in dem es jedem gutging, in dem Friede und Glück herrschte. Das waren keine leeren Hirngespinste; ich hatte die Macht dazu. Meine Spiegel gaben sie mir.«

»Ihre Spiegel?«

Ulthar nickte. »Ja. Spiegel! Nicht nur das, was die meisten Menschen darin sehen. Wenn man ihre Sprache versteht, ihr Geheimnis kennt, vermögen sie beinahe alles. Die Menschen haben schon seit jeher gewußt, daß es ein Geheimnis um jeden Spiegel gibt. Die Legende von den verzauberten Ländern hinter den Spiegeln, von der Macht, die einem verliehen wird, wenn man ein Abbild des anderen hat, sind nicht so frei aus der Luft gegriffen, wie die meisten glauben. Ein Spiegel zeigt nicht nur das äußere Abbild eines Menschen, Missis Taylor. Er zeigt den ganzen Menschen. Ich habe damals das Geheimnis der Spiegel erkannt, und ich habe entdeckt, daß man alle Schlechtigkeit, alles Böse und Verwerfliche aus dieser Welt vertreiben kann. Ich habe den Menschen ...«

»Ihre Spiegelbilder gestohlen«, sagte Vivian entsetzt.

Ulthar nickte. »Ihre negativen Spiegelbilder«, sagte er betont. »In jedem Menschen lebt ein schlechter Teil, ebenso wie ein guter. Man braucht nur das Schlechte zu entfernen, um diese Welt in ein Paradies zu verwandeln.«

»In eine Welt voller Roboter, meinen Sie«, stieß Vivian hervor. Mit einemmal wurde ihr vieles klar. Die Männer, die wie Glas zerbrochen waren und kein Spiegelbild geworfen hatten - sie waren selbst nur Abbilder gewesen, die durch einen unheilvollen Zauber zu eigenem Scheinleben erwacht waren; seelenlose Geschöpfe, die Ulthars Befehlen blind gehorchten. »Ich habe Ihre Kreaturen gesehen, Ulthar. Sollen das die Bewohner Ihres Paradieses sein? Sie sind nichts weiter als willenlose Befehlsempfänger, Wesen ohne Willen und ohne Seele.«

»Aber sie sind glücklich«, sagte Ulthar ernsthaft. »Und die Spiegelbilder von heute sind nicht die von damals. Damals fing ich die bösen Seiten der Menschen ein. Die, die mein Kabinett verließen, waren Heilige, Engel, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnten.« Plötzlich schrie er. »Aber die Menschen haben mir nicht geglaubt. Sie haben mich ausgelacht, mich einen Verrückten genannt, schließlich einen Verbrecher. Sie haben alles zerstört, haben mein Lebenswerk vernichtet und mich ins Gefängnis geworfen. Mich! Ulthar, der den Garten Eden Wahrheit hätte werden lassen!«

Vivian schauderte. Sie erkannte plötzlich, wen sie wirklich vor sich hatte: einen verrückten, alten Mann, der mehr als gefährlich war.

»Bei dem Prozeß wurde ich freigesprochen«, sprach Ulthar mit haßverzerrtem Gesicht weiter. »Niemand glaubte, daß wirklich meine Spiegel für die Veränderungen verantwortlich waren. Man glaubte eher an eine Art von Hypnose. Dadurch war es nicht schwer, die Geschworenen in meine Gewalt zu bringen. Aber der Freispruch änderte nichts an der erlittenen Schmach. Damals habe ich geschworen, mich zu rächen. Die Menschen wollten die guten Seiten meiner Entdeckung nicht, also sollten sie die andere Seite kennenlernen. Sie haben meine Spiegel zerstört, aber ich habe mein Kabinett wieder aufgebaut. Ich kann jedem meinen Willen aufzwingen, jedem, und damit werde ich nun in großem Maßstab beginnen. Ich werde diese verdammte Stadt und ihre verdammten Menschen unter meinen Befehl zwingen. Sie sollen tausendfach für alles bezahlen, was sie mir angetan haben. Millionenfach.«

»Sie ... Sie sind ja wahnsinnig«, flüsterte Vivian.

Ulthar erbleichte. Seine Lippen zitterten, und in seinen Augen trat ein heimtückisches, gefährliches Funkeln. »Wahnsinnig«, wisperte er. »Ja. Sie haben mich einen Wahnsinnigen genannt, damals. Einen gefährlichen Irren. Vielleicht stimmt es sogar. Vielleicht bin ich verrückt gewesen, weil ich geglaubt habe, den Menschen etwas Gutes antun zu können. Aber ich habe erkannt, daß das falsch war und seither nur noch für meinen eigenen Vorteil gearbeitet. Damals lernte ich jemanden kennen. Eine wunderschöne Frau, die ebenfalls übernatürliche Fähigkeiten besaß, eine Hexe. Melissa.«

»Melissa«, echote Vivian. Ein vager Verdacht, worauf Ulthar hinauswollte, keimte in ihr auf, aber der Gedanke war absurd. Andererseits war diesem Wahnsinnigen alles zuzutrauen.

»Wie ich sehe, ist Ihnen der Name nicht ganz unbekannt«, fuhr Ulthar fort. »Spätestens seit der Seance bei den Mastertons dürften Sie ihn kennen.«

»Sie wissen davon?«

»Ich habe Sie seit heute mittag beobachtet, nachdem ich Sie endlich gefunden hatte.« Ulthar lächelte, doch es sah schmerzlich aus. »Aber dazu komme ich später. Melissa und ich - wir verliebten uns damals ineinander. Und wir verbündeten uns. Gemeinsam wären wir unschlagbar gewesen, nichts hätte uns aufhalten können. Aber Melissa - sie ... sie starb unter niemals ganz geklärten Umständen. Sie wurde ermordet. Sie stürzte aus dem zwanzigsten Stock eines Hochhauses.«

Vivian wurde blaß. Sie hatte geglaubt, daß nichts von dem, was Ulthar ihr erzählte, sie noch schockieren könnte, nach dem was sie auf der Party erlebt und über die Opfer der Spiegel erfahren hatte, aber nun mußte sie erkennen, daß es zu jedem Schrecken noch eine Steigerung gab. Es mußte sich um einen Trick handeln. Irgendwie mußte Ulthar von ihrem Alptraum erfahren haben und nutzte dieses Wissen jetzt aus, um auch den letzten Rest ihres Widerstandes zu brechen und sie sich gefügig zu machen. Es war nur ein weiterer schmutziger Trick.

Aber irgend etwas tief in ihr sagte ihr, daß es nicht so war.

»Sie ... Sie sagten, Melissa hätte ungeheure Kräfte besessen«, hakte sie stockend nach. Ihre augenblickliche Situation war für Vivian unwichtig geworden, auch was mit ihr geschehen würde. Sie mußte Klarheit bekommen, dieses Geheimnis endlich entschleiern, das sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete. »Wenn sie so mächtig war, wie konnte sie dann ermordet werden?«

Ulthar schwieg. Er hatte die Augen geschlossen und schien so in seine Erinnerungen versunken zu sein, daß sie schon glaubte, er hätte ihre Anwesenheit vergessen. Als sie ihre Frage gerade wiederholen wollte, hob er den Kopf. »Sie war mächtig«, sagte er schleppend. »Sie hatte viel Zeit, ihre Kräfte zu erproben und auszubauen. Melissa kannte das Geheimnis des ewigen Lebens.«

»Aber ...«

Ulthar schnitt ihr mit einer barschen Handbewegung das Wort ab. »Sie war nicht unsterblich im herkömmlichen Sinne. Sie alterte sogar rund fünfmal so schnell wie ein normaler Mensch. Aber sie beherrschte die Seelenwanderung. Durch eine komplizierte Beschwörung konnte sie unter bestimmten Umständen ihren Geist in den Körper einer anderen versetzen, die sie zuvor tötete, um keinerlei Probleme mit deren Bewußtsein zu bekommen. Nicht einmal ich weiß, wie alt Melissa wirklich ist.«

»Das ist ... Blödsinn!« stieß Vivian hervor. »Sie phantasieren sich etwas zusammen!«

»O nein, Missis Taylor.« Ulthar schüttelte den Kopf. »Was ich sage, ist wahr. Melissa hatte gerade mit der Beschwörung begonnen, als sie ermordet wurde, deshalb besaß sie nicht mehr genug Kraft, um sich zu wehren, und sie konnte auch den Körpertausch nicht mehr durchführen. Aber sie war mit der Beschwörung bereits so weit gekommen, daß sie nicht starb, als sie von dem Balkon stürzte. Im Augenblick ihres Todes wurde ihr Geist in den Körper eines Babys geschleudert, das genau in diesem Augenblick geboren wurde. Das ist jetzt ein Vierteljahrhundert her. Während dieser ganzen Zeit habe ich nicht aufgehört, nach Melissa zu suchen, habe alle Kraft darauf verwendet. Und heute endlich habe ich die Frau gefunden, zu der das Baby von damals inzwischen herangewachsen ist. Sie sind diese Frau!«

»Sie ... Sie lügen«, stammelte Vivian, obwohl sie tief in ihrem Inneren wußte, daß Ulthar die Wahrheit sagte. Der Alptraum, die Höhenangst, ihre übersinnlichen Fähigkeiten, die fremde Macht in ihr selbst, die während der Seance die Macht über sie übernommen hatte - alles paßte plötzlich zusammen.

Dennoch weigerte sie sich, die Wahrheit anzuerkennen.

»Ich weiß, wer ich bin!« stieß sie hervor. »Ich bin nicht Melissa. Ich bin Vivian Taylor! Ich weiß, wer ich bin!«

»Sicher sind Sie Vivian Taylor«, stimmte Ulthar zu. »Der Körpertausch fand unter völlig anderen Vorzeichen als all die anderen Male zuvor statt. Er wurde nicht gezielt herbeigeführt. Melissas Bewußtsein verschmolz mit dem Ihren. Sie wurden eins, und da sie ein Fremdkörper war, setzte sich Ihr eigenes Bewußtsein, Ihr Charakter durch. Melissa verlor ihre Erinnerungen und sank in eine Art Dämmerschlaf. Aber sie war immer ein Teil von Ihnen, so wie auch in einem normalen Menschen Gut und Böse ständig um die Oberhand ringen. Ich allein habe mit meinen Spiegeln die Macht, Melissas Bewußtsein aufzuwecken und von Ihrem zu trennen, und anders als die anderen Spiegelbilder, die Sie gesehen haben, wird sie nicht nur ein Sklave ohne Individualität sein, sondern ein eigenständiger Mensch mit einem vollständigen Bewußtsein.«

»Sie ... lügen«, preßte Vivian noch einmal hervor. Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Wimmern.

»Es ist völlig unerheblich, ob Sie sich gegen die Wahrheit sträuben.« Die anfängliche Überheblichkeit klang nun wieder in Ulthars Stimme mit. »Leider gibt es nur eine Möglichkeit, Melissa die Freiheit wiederzugeben. Sie können sich sicher denken, welche.«

»Ich werde niemals ...«

»Ein ganz ähnliches Gespräch habe ich erst vor wenigen Minuten mit jemandem geführt«, fiel Ulthar ihr erneut ins Wort. »Wollen Sie wissen, mit wem?« Er bewegte die Hand. Die Tür hinter seinem Rücken öffnete sich wie von Geisterhänden bewegt. Dahinter lag ein langer, strahlender hell erleuchteter Korridor. »Sie wollten doch Ihren Mann sehen.«

Vivian schrie auf. »Mark!« Ohne Ulthar weiter zu beachten, stürzte sie vor und rannte auf Mark zu. Erst einen Sekundenbruchteil zu spät bemerkte sie die Falle. Plötzlich erfüllte dröhnendes Gelächter den Gang, und die Tür wurde krachend hinter ihr zugeschlagen. Marks Gestalt löste sich auf und gab den Blick auf einen riesigen, ovalen Spiegel frei.

Vivian warf sich gedankenschnell herum. Ihr Blick hatte das schimmernde Kristallglas nur für den Bruchteil einer Sekunde gestreift. Trotzdem spürte sie die ungeheure hypnotische Ausstrahlung, die davon ausging. Sie stöhnte. Eine eisige Hand schien sich in ihr Gehirn gekrallt zu haben, ein quälendes, drängendes Zerren und Schieben, das sie zwang, den Kopf zu drehen und den magischen Spiegel anzusehen. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, wanderte ihr Blick über den Fußboden auf den Spiegel zu.

Sie wehrte sich, aber die Kräfte des Spiegels waren stärker als sie. Vivian drehte sich um und ging mit steifen, mechanischen Schritten auf den Spiegel zu. Ein fremdes, bösartiges Ebenbild starrte ihr daraus entgegen. Sie schrie auf, schlug die Hände vors Gesicht und versuchte zurückzuweichen, aber die ungeheuren Kräfte, die sie gefangenhielten, ließen ihren Widerstand auch diesmal zerbrechen. Langsam, aber unaufhaltsam wurde sie auf den Spiegel zugezogen.

Vivian wußte, daß sie verloren war, sobald sie ihn berührte. Unter Aufbietung aller Kraft blieb sie stehen und zwang sich, dem Blick ihres negativen Spiegelbildes standzuhalten.

Irgend etwas geschah ...

Die Luft in ihrer Umgebung schien zu knistern. Ein greller, blauweißer Blitz zuckte aus der Decke, leckte nach ihren Kleidern und dem goldgefaßten Rahmen des Spiegels. Sie sah, wie sich das Glas wellte, schwarz wie brennendes Pergament wurde und Risse bekam. Ein wütender Schrei zerriß die Luft. Das Abbild im Spiegel bäumte sich auf.

Vivian verdoppelte ihre Anstrengung, schleuderte dem Spiegel alles an Haß und Gegenwehr entgegen, was sie aufbringen konnte. Sie sah, wie ihre Doppelgängerin zurücktaumelte. Ihre Konturen wurden unwirklich, verschwommen. Die unsichtbaren Fesseln zerrissen. Vivian wirbelte blitzschnell herum und stürzte zum Ausgang.

Er war nicht mehr da.

An der Stelle, an der die Tür gewesen war, befand sich ein weiterer schimmernder, rechteckiger Spiegel. Das Gesicht ihrer Doppelgängerin schien sie höhnisch daraus anzugrinsen.

Vivian prallte zurück und schlug die Hände vor die Augen. Sie mußte hier heraus, bevor die höllischen Spiegel sie vollends in ihren Bann schlugen oder sie den Verstand verlor. Erneut fuhr sie herum, hetzte wie von Furien gejagt los und stürzte blindlings um die Biegung des Ganges. Auch hier hingen Spiegel; kleine, viereckige, runde - Spiegel in allen denkbaren Größen und Formen. Dunkle, drohende Schatten schienen unter ihren Oberflächen zu brodeln. Vivian taumelte weiter, prallte gegen ein unsichtbares Hindernis und fing den Sturz ungeschickt mit den Händen auf.

Die Spiegel an den Wänden veränderten sich auf grauenhafte Weise. Vivian hatte plötzlich den Eindruck, von einer Armee schrecklicher Alptraumgestalten umgeben zu sein. Es waren immer noch ihre eigenen Spiegelbilder, doch waren sie auf so gräßliche, groteske Weise verformt, daß sie kaum noch zu erkennen waren.

Vivian schrie.

Das Geräusch hallte zwischen den engen, schimmernden Wänden wider, wurde zurückgeworfen, verzerrt und verstärkt und rollte wie apokalyptischer Donner durch den Gang; ein ungeheures, auf- und abschwellendes Dröhnen, als drehe irgendwo ein wahnsinniger Toningenieur an einem auf höchste Lautstärke geschalteten Mischpult. Vivian wälzte sich herum, versuchte aufzustehen und sank mit einem kraftlosen Keuchen zurück. Der Boden unter ihr schien sich zu bewegen und wie ein großes, metallisch schimmerndes Tier unter ihr davonzukriechen. Die Geometrie des Raumes wirkte mit einemmal irgendwie verzerrt, fremd und furchteinflößend. Direkt vor ihr klaffte plötzlich ein hoher, dreieckiger Spalt in der Wand. Vivian erhob sich mühsam auf Händen und Knien und kroch darauf zu. Der Boden bäumte sich unter ihr auf wie ein Boot auf sturmgepeitschter See, kippte plötzlich in seltsam bizarren Winkeln ab und ließ sie meterweit zurückrutschen.

Dennoch kämpfte sie verbissen weiter. Ihre Hände rutschten immer wieder auf dem fugenlosen, glatten Material des Bodens weg, aber sie kam dem Ausgang Zentimeter um Zentimeter näher. Dann schien der ganze Raum umzukippen, sich einmal um seine Achse zu drehen und in einem unmöglichen Winkel zur Ruhe zu kommen. Vivian fand sich plötzlich in der Ecke zwischen Fußboden und Wand wieder. Vor ihren Augen tanzten bunte Kreise. Schmerzen krochen wie flüssige Lava durch ihren Körper, und die Erschöpfung nagte wie ein Heer großer, unsichtbarer Ratten an ihren Kräften.

Allmählich begann Panik in ihr aufzusteigen. Sie fühlte sich schwach, hilflos und ausgeliefert, eine willenlose Marionette, mit der Ulthar nach Belieben spielen konnte. Sie stemmte sich hoch, tastete sich an den seltsam schrägstehenden Wänden weiter und kroch mit zusammengebissenen Zähnen auf den Ausgang zu. Der Weg schien endlos zu sein. Als sie den Ausgang endlich erreicht hatte, hatte sie das Gefühl, stundenlang durch diesen überdimensionalen, stählernen Sarg gekrochen zu sein.

Vor ihr lag ein weiterer, schmaler Gang. Auch hier waren Wände, Decken und selbst der Fußboden mit unzähligen Spiegeln verkleidet. In unregelmäßigen Abständen zweigten Türen von dem Gang ab; halbgeschlossene Schiebetüren, runde, an Rattenlöcher erinnernde Stollen oder einfach gezackte Öffnungen, die wie mit roher Gewalt in die schimmernden Wände gebrochen zu sein schienen. Vivian taumelte vorwärts, öffnete wahllos eine Tür und stolperte hindurch. Auch hier waren Spiegel: blinkende, schimmernde, spiegelnde Flächen in allen nur denkbaren Größen und Formen, tausendfacher Irrsinn, aus dem ihr eigenes, angstverzerrtes Gesicht sie anstarrte.

Sie hämmerte in blinder Verzweiflung gegen die Wand, schlug sich die Knöchel blutig und taumelte weiter. Die Gänge schienen endlos zu sein. Immer wieder taten sich neue Abzweigungen auf, prallte sie gegen unsichtbare Hindernisse oder spiegelnde Flächen, die aus dem Nichts zu materialisieren schienen.

Illusion, hämmerten Vivians Gedanken. Es war nichts als Illusion, die den Zweck hatte, ihren Verstand zu verwirren und ihre Widerstandskraft zu brechen. Aber das Wissen half ihr nichts. Sie war schon zu sehr geschwächt, um noch gegen den Wahnsinn anzukämpfen, der in diesen blinkenden, polierten Wänden lauerte.

Wieder schlug sie gegen einen der Spiegel, doch diesmal setzte er ihr keinen Widerstand entgegen. Vivians Fäuste glitten ins Leere. Sie war zu überrascht, um sofort zu reagieren. Von ihrem eigenen Schwung wurde sie vorwärtsgerissen, verlor das Gleichgewicht und stürzte vorwärts. Mit knapper Not konnte sie ihren Sturz mit den Händen abfangen und schaute sich um. Sie befand sich in einem kleinen, runden Raum, dessen Wände und Decke in mildem Licht strahlten.

Direkt vor ihr hing ein riesiger, vom Boden bis zur Decke reichender Spiegel.

Vivian sah sich selbst darin, wie sie in der Mitte des Raumes auf dem Boden lag. Sie plagte sich auf, verharrte dann und schaute sich noch einmal um.

Nicht so ihr Spiegelbild.

Vivian wußte, daß Ulthar ihr die Wahrheit gesagt hatte, und doch war es ein Schock für sie, mitanzusehen, wie ihr eigenes Spiegelbild sich selbsttätig bewegte. Es richtete sich vollends auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte spöttisch auf sie herunter.

Die Frau glich Vivian so exakt, wie ein Spiegelbild dem Original nur gleichen konnte. Ihr Gesicht, die Figur, die dunklen, losen herabfallenden Haare - wie oft schon hatte sie dieses Bild im Spiegel betrachtet? Der einzige äußerlich sichtbare Unterschied war der Blick ihrer Doppelgängerin, das triumphierende Funkeln in ihren Augen.

Und doch war die Frau eine Fremde.

Vivian spürte es. Ein ähnliches Gefühl hatte sie empfunden, als sie gegen die Spiegelgeschöpfe auf Conellys Party gekämpft hatte, und doch war es anders. Bei den übrigen Spiegelwesen hatte sie die Bösartigkeit gespürt, die Ulthar aus den Originalen herausgefiltert hatte, aber auch die seelenlose Unvollkommenheit der Geschöpfe. Die Frau hier im Spiegel war nicht einfach nur ein negatives Abbild der echten Vivian Taylor, sondern eine vollkommen eigenständige Person.

Melissa.

Kalt lächelte sie auf Vivian herunter, hob dann die Hand und winkte ihr auffordernd zu. Vivian kam gegen den fremden Einfluß nicht an. Sie stand auf und ging mit steifen, ungelenken Schritten auf den Spiegel zu. Hinter ihrer Stirn tobte ein Chaos. Was bislang in diesem Labyrinth geschehen war, hatte nur dem Zweck gedient, sie zu schwächen. Sie war blindlings in Ulthars Falle getappt, hatte ihre Kraft vergeudet und sich verausgabt. Jetzt war sie bereits zu schwach, um sich noch wirkungsvoll zu wehren.

Ihre Finger berührten das Glas. Es fühlte sich warm und anschmiegsam an, fast wie ein lebendiges, atmendes Wesen. Vivian spürte, wie etwas nach ihr griff, mit unsichtbaren Fingern nach ihrem Geist tastete, während sie in den Spiegel hineingezogen wurde, und ihr Ebenbild sich anschickte, ihren Platz einzunehmen. Für einen winzigen Sekundenbruchteil wurden sie eins, vereinigten sich ihre Körper und wurden zu einem flammenden, gleißenden Ball gegensätzlicher Energie, und diesen Augenblick nutzte Vivian aus. Sie war um einen Winzigkeit schneller als ihr Ebenbild, griff auf ihre gemeinsame paranormale Kraft zu und schlug mit aller geistiger Macht zu.

Sie hörte Melissas gellenden Schrei direkt in ihrem Geist, und im gleichen Moment schien eine sengende, sonnenhelle Lohe ihren Verstand zu verbrennen. Sie taumelte zurück, schlug in irrsinniger Qual die Hände gegen die Schläfen und fiel zu Boden. Sekunden, bevor sie das Bewußtsein verlor, sah sie noch, wie ihr Spiegelbild von einem unsichtbaren Wirbel erfaßt und in sein gläsernes Gefängnis zurückgerissen wurde.

Dann versank die Welt um sie herum in gnädiger Dunkelheit.


Brandgeruch hing noch in der Luft, als sie erwachte, und verriet Vivian, daß sie nicht lange bewußtlos gewesen sein konnte. Sie blinzelte, öffnete die Augen und sah sich verwirrt um. Der Raum hatte sich völlig verändert. Die ehemals makellosen Wände waren fleckig und geschwärzt; in der Decke gähnte ein fast metergroßes Loch, durch das bleiches Morgenlicht hereinsickerte. Ihr Blick wanderte weiter und tastete fast ängstlich nach dem Spiegel.

Er war zerbrochen.

Der dünne, kostbare Rahmen war wie von einer ungeheuren Gewalt zerfetzt worden, und die Trümmer des Glases waren über den ganzen Raum verteilt, als wäre er von einer fürchterlichen Explosion zerrissen worden.

Von ihrer Doppelgängerin war keine Spur mehr zu entdecken.

Vivian stand mit schleppenden Bewegungen auf. Sie fühlte sich immer noch müde und ausgelaugt. Blut aus unzähligen winzigen Schnittwunden lief über ihr Gesicht und ihre Hände, und in ihrem Kopf saß ein dumpfer Schmerz, der jeden Schritt zur Qual werden ließ.

Aber sie wußte jetzt, daß Ulthar nicht unbesiegbar war. Selbst den Fähigkeiten seiner magischen Spiegel waren Grenzen gesetzt, und das bedeutete, daß sie noch eine Chance hatte. Sie durfte nicht aufgeben.

Vivian sah sich vergeblich nach einem Ausgang um und schaute stirnrunzelnd zu dem Loch in der Decke hinauf. Der Raum war niedrig - ihre ausgestreckten Fingerspitzen berührten fast die gezackten Ränder des Loches. Sie ging in die Knie, federte zwei-, dreimal und stieß sich dann mit aller Kraft ab.

Die Sonne stand als grelleuchtender Punkt am Horizont und überzog den Himmel mit einem flammenden Feuerwerk aus Rot und Gold, als sie ins Freie kletterte und auf den Boden hinuntersprang. Nachdem sie ein paar Schritte gelaufen war, blieb sie stehen und schaute sich noch ein letztes Mal kurz nach dem Gebäude um.

Es wirkte schäbig; ein heruntergekommener Schuppen, an dem der Zahn der Zeit bereits ebenso genagt hatte wie an den umliegenden Häusern und Buden.

Aber die Gefahr war noch längst nicht vorbei. Eine Tür in der Seitenwand des Gebäudes wurde geöffnet. Ein junger Mann trat heraus, eine von Ulthars Spiegelkreaturen, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht und schaute sich suchend um, bevor er vollends ins Freie trat. Weitere folgten ihm.

Vivian begann zu rennen, tauchte in eine schmale Gasse ein und hetzte sie entlang. Sie entdeckte eine Lücke in einem morschen Bretterzaun und zwängte sich durch eine Lücke in den halbvermoderten Brettern. Vor ihr erstreckte sich ein Hof. Noch bevor sie ihn ganz überwunden hatte, tauchte einer ihrer Verfolger bereits im Zaun auf. Blindlings rannte sie in eine weitere Gasse, wechselte mehrmals die Richtung, bis sie schließlich die halbgeöffnete Tür eines Schuppens erreichte und ohne zu zögern in das Gebäude hineinstürmte.

Die Schritte waren jetzt ganz nah; das Knirschen von Kies unter harten Schuhsohlen, das Rascheln von Kleidung, dazwischen die hektischen, stoßweisen Atemzüge ihres Verfolgers.

Vivian schmiegte sich eng an die dünne Bretterwand. Der Kistenstapel neben ihr warf einen scharf abgegrenzten Schlagschatten, aber sie wußte, daß er nicht ausreichen würde, sie zu verbergen. Ihre Hände zitterten unmerklich, und ihr Herz hämmerte so laut, daß sie für einen Moment befürchtete, der Mann draußen müsse es hören. Ihr Blick saugte sich für einen Moment wie hypnotisiert am hellen Rechteck der Türöffnung fest, dann sah sie sich verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit oder wenigstens einem besseren Versteck um. Der Raum war winzig; vielleicht zwei mal drei Meter groß und mit ausrangiertem Mobiliar, Kisten und Kartons vollgestopft. Eine fingerdicke Staubschicht hatte sich wie eine graue, flockige Decke über den Boden und die Ansammlung ausrangierter und vergessener Gegenstände ausgebreitet. Die Luft schmeckte bitter - nach Moder, Verfall und Vergessen. Mühsam mußte Vivian einen Hustenreiz unterdrücken.

Sie war eine verdammte Närrin gewesen, sich im Ernst einzubilden, entkommen zu können. Wahrscheinlich hatte Ulthar selbst sogar ihre Flucht geplant. Gegen seinen Willen hätte sie das Spiegelkabinett erst gar nicht verlassen können. Es hätte ihr spätestens in dem Moment klar sein müssen, als seine Häscher genau im richtigen Moment aufgetaucht waren, dachte sie bitter. Nicht so früh, daß eine Flucht aussichtslos erschien, aber früh genug, um ihr keine Chance zu lassen, wirklich davonzukommen. Der wahnsinnige Magier trieb nur ein böses Spiel mit ihr. Vermutlich amüsierte er sich köstlich über ihre Bemühungen. Aber die Erkenntnis kam zu spät, und noch war sie nicht bereit, einfach aufzugeben.

Vor ihrem geistigen Auge stand immer noch das Bild des scheinbar endlosen Labyrinths, in dem Hunderte, vielleicht Tausende der Kreaturen auf die Befehle ihres Herrn warteten. Jedes dieser Wesen war einmal ein Mensch gewesen, doch ein Blick in Ulthars magische Spiegel hatte sie zu dem werden lassen, was sie jetzt waren: Ungeheuer. Negative Duplikate ihrer früheren Persönlichkeiten. Spiegelbilder, in denen jede positive Eigenschaft, jedes bißchen Menschlichkeit und Liebe ins Gegenteil verkehrt worden waren und die Ulthar sklavisch ergeben dienten.

So wie Mark.

Vivian spürte einen dumpfen, quälenden Schmerz, als sie an ihn zurückdachte. Ihr war es gelungen, Melissas Erweckung zu verhindern und Ulthar wenigstens für den Augenblick zu entkommen, aber Mark ... Sie hatte ihn seit der verhängnisvollen Party bei Bürgermeister Conelly nicht mehr gesehen, aber sie zweifelte nicht daran, daß Ulthar auch ihn in seine Gewalt gebracht hatte. Wahrscheinlich existierten in diesem Augenblick bereits zwei Marks: einen, der in der zweidimensionalen Hölle eines Spiegels gefangen war, und den zweiten, negativen, der seine Stelle in der realen Welt eingenommen hatte.

Wenn es überhaupt eine Hoffnung für ihn gab, dann nur durch sie. Schon seinetwegen durfte sie nicht aufgeben.

Die Schritte verstummten, als der Mann vor dem Schuppen stehenblieb.

Vivians Herz machte einen spürbaren Satz. Der Raum hatte keinen zweiten Ausgang. Wenn die Kreatur auf den Gedanken kam, auch nur einen flüchtigen Blick durch die Tür zu werfen, war sie verloren. Sie hatte sich selbst in eine perfekte Falle hineinmanövriert. Lautlos richtete sie sich auf und versuchte, durch die Ritzen in der papierdünnen Bretterwand einen Blick nach draußen zu werfen.

Es war früher Morgen, aber hier auf Coney Island war das Leben noch nicht erwacht. Es würde nie mehr erwachen. Der Vergnügungspark war vor vierzig Jahren in einen Dornröschenschlaf versunken, aus dem ihn kein verzauberter Prinz wieder wachküssen würde. Alles, was hier noch lebte, waren Ratten, Ungeziefer und ein paar streunende Hunde und Katzen - und Ulthars Kreaturen. Auf Hilfe durfte sie nicht hoffen.

Vivian atmete innerlich auf, als der Verfolger sich umdrehte und mit langsamen Schritten davonging. Bei einer offenen Konfrontation hätte sie keine Chance gehabt.

Sie drehte sich um, schlich zur Tür und spähte vorsichtig hinaus. Keiner der Verfolger war in Sicht. Mit etwas Glück konnte sie diese Mausefalle verlassen und irgendwo im Labyrinth des verlassenen Vergnügungsparks untertauchen. Sie atmete tief ein und spurtete los. Das Geräusch ihrer Schritte schien überlaut zwischen den leerstehenden Gebäuden widerzuhallen, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, von einer Million unsichtbarer Augenpaare angestarrt zu werden. Aber sie erreichte die Gasse unbehelligt. Für eine halbe Sekunde blieb sie schweratmend stehen, sah sich gehetzt um und rüttelte prüfend an einer fleckigen Feuerschutztür. Sie war verschlossen, aber das rostzerfressene Schloß zerbrach unter ihren Händen. Sie öffnete die Tür und schlüpfte in das Gebäude.

Das Innere war überraschend kühl und hell. Das Dach existierte praktisch nicht mehr. Die Stützbalken waren eingebrochen und unter der Last der Dachschindeln wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten zusammengefallen. Sie schloß die Tür hinter sich und ging mit schnellen Schritten durch den Raum. Es gab einen zweiten Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite und eine weitere, verzogene Tür, die in einen stockfinsteren Raum führte. Eine Ratte schoß mit einem schrillen Schrei über Vivians Füße und verschwand in dem Trümmerhaufen, als sie die Tür öffnete.

Vivian schlug die Hand vor den Mund und unterdrückte im letzten Augenblick einen erschrockenen Aufschrei. Sie mußte vorsichtig sein. Sie wußte nicht, ob die Spiegelwesen über schärfere Sinne als ein normaler Mensch verfügten, aber in jedem Fall mußte auf dem fast totenstillen Gelände jeder Laut deutlich zu hören sein.

Sie ging zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite und spähte auf den Hof hinaus. Hinter dem Gebäude lag ein runder, vielleicht zehn Meter durchmessender Platz, der von den Resten einer ehemals rotweiß gestrichenen Barriere eingerahmt wurde. Vielleicht waren hier früher einmal Kinder für ein paar Cents im Kreis herumgeritten, oder Elefanten und Bären hatten ihre Kunststücke vorgeführt. Jetzt war es nichts als eine runde, schlammige Fläche, auf der es absolut keine Deckung gab.

Sie trat in das Gebäude zurück, sah sich suchend um und stieg schließlich mit entschlossenen Bewegungen auf den Trümmerberg, der von den Resten der zusammengestürzten Dachkonstruktion und der Einrichtung gebildet wurde. Der ausgezackte Rand des Loches war nur wenige Zentimeter von ihren Fingerspitzen entfernt, als sie die Arme ausstreckte. Sie federte hoch, bekam ein Stück rostiges Blech zu fassen und zog sich vorsichtig auf das sanft geneigte Dach hinauf. Irgend etwas schnitt heiß und schmerzhaft in ihre Handfläche, aber sie ignorierte den Schmerz. Gespannt spähte sie in die Runde. Von hier aus hatte sie einen besseren Überblick als vom Boden. Dieser Teil Coney Islands glich auf bedrückende Weise jenen Bildern von ausgebombten Städten, die man manchmal in alten Magazinen oder Filmen sieht. Es war, als läge ein dunkler, drohender Schatten über der Halbinsel. Vivian schüttelte sich. Selbst im hellen Tageslicht war es ein unheimlicher Anblick.

Vivian biß sich nachdenklich auf die Lippen. Sie saß in der Falle. Zwei von Ulthars Spiegelkreaturen bewegten sich rechts von ihr zwischen den Gebäuden, der Rest war nicht zu sehen. Wahrscheinlich, überlegte Vivian, hatten sie sich in mehrere Gruppen aufgeteilt; eine, die das Gelände durchkämmte, und ein oder zwei andere, die alle möglichen Fluchtwege besetzt hielten. Ulthar hatte genügend Leute, um sämtliche Verbindungen der Halbinsel zum Festland überwachen zu lassen, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß eine oder mehrere von seinen Kreaturen sie dort erwarten würden, wenn sie wirklich so dumm wäre, Coney Island auf diesem Weg verlassen zu wollen.

Ein schriller, krächzender Schrei ließ Vivian zusammenzucken. Sie legte den Kopf in den Nacken, blinzelte und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Himmel ab. Vor wenigen Augenblicken war ein Möwenschwarm kreischend und zeternd über die Halbinsel hinweggezogen, aber jetzt war der Himmel über dem verlassenen Areal leer bis auf einen winzigen schwarzen Punkt, der mit trägen Flügelschlägen über dem Meer kreiste.

Vivians Blick löste sich von dem winzigen Fleck und tastete auf die blaue, spiegelnde Fläche des Ozeans hinaus. Bis zum Festland hinüber war es nicht besonders weit - für eine geübte Schwimmerin eine Kleinigkeit. Wenn es ihr gelang, unbemerkt zum Ufer und ins Wasser hinein zu gelangen, dann hatte sie eine gute Chance.

Sie sah sich blitzschnell nach rechts und links um und huschte los, wobei sie geschickt jede Deckung ausnutzte und freie Flächen nach Möglichkeit mied. Ihre einzige Chance bestand darin, unentdeckt zu bleiben. Ein Wettrennen mit den Spiegelwesen würde sie verlieren.

Erneut zerschnitt der gellende Schrei die Luft. Vivian warf im Laufen den Kopf in den Nacken und sah empor. Der dunkle Punkt hatte seine Kreise unterbrochen und schien für einen Augenblick reglos in der Luft zu hängen. Irgend etwas an seinem Aussehen irritierte sie. Er war noch zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können, aber seine Konturen wirkten falsch; verzerrt, so, als hätte jemand mit ein paar lieblosen Strichen die aberwitzige Karikatur eines Vogels gezeichnet und ihr Leben eingehaucht.

Im Schutz eines windschiefen Gebäudes blieb sie einen Augenblick stehen und rang keuchend nach Atem. Ihr Herz hämmerte qualvoll. Die Anstrengungen der letzten Nacht forderten ihren Tribut. Vivian war durchaus sportlich, aber der irrsinnige Kampf in Ulthars Kabinett hatte ihre Kraftreserven vollkommen aufgebraucht. Allmählich kamen ihr Zweifel, ob sie die Strecke bis zum Ufer wirklich schaffen würde.

Zum dritten Mal durchschnitt der spitze, kehlige Schrei die Luft. Vivian schaute hoch und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken, als sie sah, was da über ihr kreiste.

Das Wesen war schwer zu beschreiben. Sein Körper glich dem einer Fledermaus - ein langer, dunkler, mit drahtigem Fell besetzter Leib, der irgendwie plump, wie falsch zusammengesetzt wirkte. Die Flügel waren ledrig, grob strukturierte Schwingen aus einem zähen, dunkelbraunem Material, das sich über einem nahezu lächerlich dünnen Knochengerüst spannte. Sie schätzte die Spannweite der Flügel auf mindestens sechs Meter. Das schrecklichste aber war der Kopf. Kleine, boshafte Augen musterten Vivian über einem schrecklichen Krokodilsschnabel, in dem eine Doppelreihe mörderischer Reißzähne funkelte. Der kleine, runde Schädel endete in einem messerscharfen, axtähnlichen Fortsatz, der der alptraumhaften Erscheinung etwas Urzeitliches verlieh.

Entsetzt starrte Vivian die Kreatur an. Nach allem, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte, hatte sie nicht geglaubt, daß irgend etwas sie noch schockieren könnte, doch das war ein Irrtum gewesen. Sie hatte ein solches Wesen noch nie zuvor gesehen, doch sie war sich sicher, daß es keinen natürlichen Ursprung hatte, sondern eine magische Schöpfung war, und das bedeutete, daß nur Ulthar es heraufbeschworen haben konnte. Anscheinend beschränkte sich die Macht des Magiers nicht nur auf seine Spiegel und die Fähigkeit, durch diese perfekte Ebenbilder von Menschen zu erschaffen, sondern seine Kräfte waren weit größer, als sie bislang angenommen hatte.

Wie, um alles in der Welt, konnte sie unter diesen Umständen noch hoffen, ihn zu besiegen?

Rückwärts gehend wich Vivian in den Schatten eines Gebäudes zurück, jederzeit darauf gefaßt, das Ungeheuer herunterstoßen und angreifen zu sehen. Aber es schien nichts dergleichen vorzuhaben, sondern begnügte sich damit, seine Kreise über Vivian zu ziehen und lautstark und mißtönend zu kreischen, um ihren übrigen Verfolgern auf diese Art zu verraten, wo sie sich versteckte.

Nur Sekunden später erschien einer der Männer am unteren Ende der Gasse. Ein häßliches, zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht, als er Vivian sah. Dann setzte er sich in Bewegung und rannte mit weitausgreifenden Schritten auf sein vermeintlich wehrloses Opfer zu.

Vivian wich einen halben Schritt zurück, als das Spiegelwesen heranstürmte. Aus den Augenwinkeln hatte sie bemerkt, daß die Tür des Gebäudes rechts neben ihr lose in den Angeln hing. Sie wartete mit erstaunlicher Kaltblütigkeit, bis der Mann auf wenige Schritte herangekommen war, ehe sie blitzschnell zur Wand zurückwich und gleichzeitig die Tür mit aller Kraft auf stieß.

Ihr Verfolger bemerkte die Gefahr eine halbe Sekunde zu spät. Er versuchte noch auszuweichen und die Arme schützend vors Gesicht zu reißen, aber die aufschwingende Metalltür schnitt ihm in einem sauberen Halbkreis den Weg ab. Das rostige Metall dröhnte unter dem Aufprall des schweren Körpers. Der Mann taumelte zurück, verdrehte die Augen und brach mit seltsam verrenkten Gliedern zusammen.

Vivian vergeudete keine Sekunde damit, sich über ihren Sieg zu freuen. Aus unangenehmer Erfahrung wußte sie, daß sie die lebenden Spiegelbilder auf diese Weise vielleicht aufhalten, aber nicht besiegen konnte. Sie fuhr herum und rannte in die Richtung, aus der der Mann gekommen war. Hinter ihr zerschnitten die wütenden Schreie der Flugbestie die Luft.

Sie überquerte einen weiten, leeren Platz, wandte sich nach rechts und stürzte ziellos in eine Gasse. Ihr Herz hämmerte laut und schmerzhaft; sie hatte Seitenstiche und bekam kaum noch Luft, und in ihrem Kopf machte sich allmählich ein dumpfer Schmerz bemerkbar, der einen qualvollen Gegentakt zum Rhythmus ihrer Schritte zu schlagen schien. Lange würde sie diese sinnlose Flucht nicht mehr durchhalten. Sie mußte zum Strand hinaus, irgendwie.

Eine knapp mannshohe Mauer tauchte vor ihr auf. Vivian packte die Mauerkrone, schwang sich hinauf und sprang auf der anderen Seite wieder zu Boden. Unter dem überhängenden Dach einer Verkaufsbude blieb sie schweratmend stehen.

Auf der anderen Seite des Zauns wurden wütende Stimmen laut, dann das Trappeln zahlreicher Füße, untermalt von den krächzenden Schreien des fliegenden Ungeheuers. Es schien sie ebenfalls aus dem Blickfeld verloren zu haben, doch Vivian wußte, daß ihr Versteck nur eine höchst zweifelhafte Sicherheit bot. Die fliegende Bestie brauchte nur eine Runde über der Insel zu drehen, um sie wieder aufzustöbern. Es war sinnlos, weiter zu fliehen. Sie mußte sich ein Versteck suchen, in dem sie sich bis zum Einbruch der Nacht verbergen konnte. In der Dunkelheit hatte sie vielleicht eine Chance, den Häschern zu entkommen.

Vor ihr strebte die zerfressene Flanke eines mächtigen Betonsockels in die Höhe. Sie legte den Kopf in den Nacken, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht und musterte zweifelnd das rostige Eisenskelett, das vor ihr in den Himmel ragte. Das Riesenrad. Sie mußte sich unmittelbar im Zentrum des Parks befinden. Ihre Flucht hatte sie fast zu Ulthars Kabinett zurückgeführt.

Mit einer entschlossenen Bewegung stieß sie sich vom Zaun ab und lief an der Mauerkante entlang, bis sie eine altersschwache Eisenleiter erreichte. Ohne zu zögern, griff sie nach den Sprossen und schwang sich empor. Die Leiter ächzte vernehmlich unter ihrem Gewicht, aber sie hielt.

Vivian stürmte weiter, ohne sich umzusehen. Eine der Gondeln war heruntergestürzt und lag als Trümmerhaufen direkt vor ihr. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich darin zu verbergen, verwarf ihn aber sofort wieder. Ulthars Spiegelgeschöpfe würden jeden Quadratmeter des Platzes absuchen, wenn sie sie nicht fanden.

Sie lief um den Trümmerhaufen herum, tauchte unter der Absperrkette hindurch und griff nach einem Stahlträger. Das stählerne Rund des Riesenrades ragte scheinbar endlos über ihr empor. Schon als sie nur hinaufschaute, wurde ihr bereits schwindelig, und unter normalen Umständen hätte ihre Höhenangst sie einen weiten Bogen um das Gebilde schlagen lassen. Bereits bei dem bloßen Gedanken, sich in einer der Gondeln zu einer Runde in die Höhe tragen zu lassen, wie manche Menschen es auf Rummelplätzen taten und dabei offenbar auch noch Vergnügen empfanden, rebellierte ihr Magen. Aber schließlich hatte sie nichts dergleichen vor, sondern suchte nur nach einem Platz, wo sie sich für ein paar Stunden vor ihren Verfolgern verbergen konnte.

Vorsichtig begann sie der Rundung des Riesenrades zu folgen, wobei sie sich bemühte, nicht nach unten zu schauen. Das Eisen war rostig und alt; ihre Füße fanden ausreichenden Halt. Die nächste Gondel hing etwa zwei Meter über dem Boden; ein runder, mit abblätterndem Lack bedeckter Metalltrog, der von einer Art eisernem Baldachin überdeckt wurde und so auch nach oben Sichtschutz bot.

Ein perfektes Versteck. Natürlich bestand die Gefahr, daß Ulthars Leute auch hier nach ihr suchen würden, aber dieses Risiko mußte sie eingehen. Sie stieg mit klopfendem Herzen höher. Wenn einer der Männer auch nur einen zufälligen Blick nach oben warf, war sie verloren.

Aber sie hatte Glück. Unbehelligt erreichte sie die Gondel, zog sich mit einem entschlossenen Ruck über die Brüstung und ließ sich schweratmend ins Innere fallen. Es gab ein paar alte, fleckige Holzbänke, die der Zahn der Zeit noch nicht bis zur Gänze zernagt hatte, und auf dem Boden lag eine zusammengeknüllte, fleckige Zeltplane.

Vivian kroch seufzend unter eine Bank, zog sicherheitshalber noch die Zeltplane über sich und schloß für einen Moment die Augen. Müdigkeit und Erschöpfung schlugen wie eine warme, verlockende Welle über ihr zusammen. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft sie war. Ihre Glieder begannen zu zittern.

Einige Minuten lang genoß sie es, nur dazuliegen, sich zu entspannen und zu spüren, wie ihre Kräfte langsam zurückkehrten. Dann lief plötzlich ein sanftes, kaum merkliches Beben durch die Gondel, gefolgt von einem hohen, kreischenden Ton, als würde irgendwo eine uralte, längst verrostete Maschine in Gang gesetzt.

Vivian schrak auf, schleuderte die Zeltplane beiseite und lugte vorsichtig über den Rand der Gondel.

Ein eisiger Windstoß traf die Gondel, drehte sie langsam um ihre Achse und ließ sie urplötzlich zurückschnappen. Das metallische Kreischen wiederholte sich. Der Boden sackte wie in Zeitlupe unter ihr weg. Die Gebäude, das Meer und der Horizont befanden sich in schaukelnder Bewegung.

Langsam, ganz langsam nur, begriff Vivian, was geschehen war.

Das Riesenrad hatte sich in Bewegung gesetzt.

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