KAPITEL 11

Sie träumte, und diesmal war ihr sogar klar, daß es nur ein Traum war, der aus Fieber und Schwäche geboren wurde. Bruder Abbé spielte darin eine Rolle, und sie durchlebte die schrecklichen Geschehnisse zum Teil noch einmal, aber sie sah auch den Engel wieder, dessen Antlitz sie erblickt hatte, als sie fiebernd dalag und glaubte, im Fegefeuer gefangen zu sein.

Sie schlief sehr unruhig und wachte drei- oder viermal in der Nacht auf, weil sie sich im Schlaf herumwälzte. Mindestens einmal war sie sicher, eine schmale, kühle Hand zu fühlen, die sich an ihrem Hals zu schaffen machte und ihr den Schweiß von der Stirn tupfte, und jedesmal, wenn sie einschlief, kam der Alptraum zurück. Sie glaubte Bruder Abbés Stimme zu hören, die immer und immer wieder denselben Satz sagte, ohne daß sie ihn verstand.

Endlich erwachte sie, schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, aber endgültig. Ihr Hals tat weh, und sie hatte entsetzlichen Durst. Noch bevor sie die Augen öffnete, wurde ihr klar, daß früher Morgen sein mußte, denn durch das Fenster fiel nun warmer Sonnenschein, der ihr Gesicht streichelte.

Sie öffnete die Augen, und der Engel aus ihrem Traum saß an ihrem Bett und lächelte sie an.

Robin blinzelte, aber der Engel war immer noch da.

Sie schloß die Augen und preßte die Lider so fest zusammen, daß bunte Sterne auf ihren Netzhäuten tanzten, und zählte in Gedanken bis drei, und als sie die Lider wieder hob, da saß der Engel noch immer an ihrem Bett und lächelte sie jetzt fast verschmitzt an. Natürlich war es nicht wirklich ein Engel. Er hatte weder Flügel, noch trug er ein weißes Gewand. Er hatte einen dunkelblauen Mantel aus einem sehr schweren, groben Stoff an, der sich zu einer Art kompliziert gewickeltem Kopftuch fortsetzte, das auch einen Teil seines Gesichts bedeckte. Das, was sie dennoch davon sehen konnte, war von fremdländischem, aber edlem Schnitt und gehörte einem vielleicht siebzehn- oder achtzehnjährigen Jungen. Er hatte dunkle Haut. Noch nie hatte Robin einen so dunkelhäutigen Menschen gesehen.

Ihr Traum hatte sie auf schreckliche Weise betrogen. Sie saß keinem Engel gegenüber, sondern dem leibhaftigen Teufel!

Robin fuhr erschrocken hoch und prallte vor der Gestalt in dem blauen Mantel zurück. Ein scharfer Schmerz schoß durch ihren Kehlkopf, und die plötzliche Bewegung ließ sie schwindeln. Trotzdem rutschte sie hastig noch ein weiteres Stück von dem Fremden fort und wäre vielleicht sogar von dem schmalen Bett gefallen, hätten sich nicht in diesem Moment zwei starke Hände auf ihre Schultern gelegt und sie festgehalten.

»Beruhige dich, Kind«, sagte Tobias. »Es gibt keinen Grund, Angst vor Salim dem Sarazenen zu haben. Er stammt zwar aus einem fremden Land, aber er ist ein Freund.«

Robin hob verwirrt den Blick und sah ins Gesicht des alten Mönchs, aber sie sah keine Spur von Falschheit darin. Tobias war blaß, und er wirkte sehr müde, aber das war auch alles. Trotzdem preßte sie sich enger an ihn und warf dem Sarazenen hektische, angsterfüllte Blicke zu.

»Du mußt wirklich keine Angst vor ihm haben«, versicherte Tobias. »Wahrscheinlich hat man dir schlimme Geschichten über die Muselmanen erzählt, und es hat wohl keinen Zweck zu leugnen, daß Salim ein Araber ist. Aber die meisten dieser Geschichten sind übertrieben. Die Leute reden sehr viel. Salim ist ein Freund, glaub mir. Er hat dir das Leben gerettet.«

Er? Robin blickte Tobias und Salim abwechselnd und zutiefst verwirrt an. Der junge Araber hatte aufgehört zu lächeln und sah sie jetzt ernst und fast ein bißchen traurig an, aber Tobias nickte nur noch heftiger und sagte: »Er hat dich gefunden. Wenn er dich nicht rechtzeitig zu mir gebracht hätte, dann wärst du verblutet.«

Hatte sie sein Gesicht vielleicht deshalb im Traum gesehen? Alles war so verwirrend. Sie wußte einfach nicht mehr, was sie noch glauben, geschweige denn, wem sie noch trauen konnte. Sie wußte nicht einmal, was sie noch denken sollte!

»Glaub ihm kein Wort«, sagte Salim. »Er ist ein Christ, und jedermann weiß, daß Christen lügen, wenn sie den Mund aufmachen.«

»Salim!« sagte Tobias streng.

»Ich bin ein Tuareg«, fuhr Salim fort und bemühte sich, ein möglichst finsteres Gesicht zu machen. »Wir sind die Herren der Wüste. Wir töten christliche Krieger, wo immer wir sie sehen, und ihre Frauen braten wir lebendig und fressen sie dann!«

Robin fand, daß er zwar ein guter Schauspieler war, aber maßlos überzog. Wenn sie es gekonnt hätte, hätte sie wahrscheinlich laut gelacht. Tobias aber sagte:

»Salim! Das reicht jetzt aber wirklich! Bitte erschreck unseren Gast nicht! Sie ist noch schwach und darf sich nicht aufregen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn unsere Schwerter euch nicht vernichten werden, dann werdet ihr euch zweifellos selbst irgendwann einmal um Kopf und Kragen reden. Ein so sonderbarer Humor wie der deine kann tödlich sein, weißt du das?«

Robin spürte plötzlich wieder, wie durstig sie war. Sie hob die Hand an ihre Lippen, und Tobias verstand sofort. Er wandte sich um und kam nach nur einem Augenblick mit einem Becher zurück, den er Robin an die Lippen setzte.

»Trink«, sagte er. »Aber sei vorsichtig. Verschluck dich nicht.«

Natürlich trank sie den ersten Schluck trotz Tobias Warnung viel zu schnell und voller Gier, und natürlich verschluckte sie sich prompt. Es tat sehr weh. Bitterer Schleim drang in ihre Kehle. Sie mußte husten, und das tat noch sehr viel mehr weh. Sie krümmte sich, ließ den Becher fallen und schlug beide Hände gegen den dicken Verband, der um ihren Hals lag.

Tobias runzelte die Stirn, sagte aber nichts, sondern wartete geduldig, bis der Hustenanfall vorüber war, und reichte ihr dann einen neuen Becher. Robin nahm ihn mit zitternden Fingern entgegen und trank, diesmal mit kleinen, vorsichtigen Schlucken. Trotzdem tat es so weh, daß ihr die Tränen in die Augen schössen.

»Das tut weh, ich weiß.« In Tobias Stimme klang echtes Mitleid, im wahrsten Sinne des Wortes: Er fühlte ihren Schmerz und spürte ihn in diesem Moment wahrscheinlich tatsächlich selbst. »Aber es muß sein. Du hast viel Blut verloren und mußt viel Flüssigkeit zu dir nehmen. Nachher werden wir es mit einer Schale heißer Suppe versuchen. Du mußt wieder zu Kräften kommen.«

Robin reichte ihm den Becher zurück. Sie war noch immer durstig, aber der schlimmste Durst war gestillt, und es war ihr einfach zu unangenehm, weiterzutrinken. Das Wasser löste Blut und bittere Galle in ihrem Hals und gab ihr das Gefühl zu ersticken.

»Du wirst noch eine Menge Schmerzen erleiden, armes Kind«, sagte Tobias mitfühlend. »Aber du wirst wieder gesund - wenn du dich schonst und tust, was ich sage. Du wärst um ein Haar gestorben, ist dir das klar? Hätte das Messer auch nur um die Dicke eines Fingernagels tiefer geschnitten, dann wärst du jetzt tot.«

Und vielleicht wäre das sogar besser so, dachte Robin. Sie wußte nicht, ob Gott ihr wirklich eine Gnade erwiesen hatte, als er sie leben ließ. Sie spürte selbst, daß sie weiterleben würde - und vermutlich nicht einmal so schwer verletzt war, wie Tobias gestern noch behauptet hatte - aber wozu eigentlich? Sie hatte nichts mehr. Alle Menschen, die sie geliebt oder die ihr auch nur etwas bedeutet hatten, waren tot. All ihre weltliche Habe - so gering sie auch gewesen sein mochte - war zerstört. Ihre Welt war buchstäblich in Flammen aufgegangen. Es gab keinen Platz mehr, an den sie gehörte. Keinen Menschen mehr, dem sie wirklich noch trauen konnte. Gerne hätte sie zum Beispiel Bruder Abbé getraut - aber sie hatte nicht vergessen, was der Tempelritter auf dem Rückweg ins Dorf zu ihr gesagt hatte.

Und selbst, wenn sie lebendig hier herauskam - sobald die Männer, die schon einmal versucht hatten, sie zu töten, herausfanden, daß sie nicht erfolgreich gewesen waren, war ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert.

Bruder Tobias las in ihrem Gesicht, schien den Ausdruck darauf aber vollkommen falsch zu deuten. »Du mußt keine Angst haben«, sagte er. »Ich habe gestern ganz absichtlich ein wenig übertrieben, als ich mit Bruder Abbé gesprochen habe. Deine Verletzung ist nicht so schwer, wie du vielleicht glaubst. Ein übler Schnitt, aber mehr auch nicht. Du wirst bald wieder gesund sein. Und du wirst auch wieder reden können - selbst wenn es eine Weile dauert.« Er lächelte beruhigend und machte eine entsprechende Geste. »Leg dich hin. Es wird Zeit, deinen Verband zu wechseln. Salim, geh hinaus.«

Salim erhob sich gehorsam und verließ den Raum, und Robin ließ sich bereitwillig zurücksinken. Tobias kam mit einer Schale Wasser und sauberem Verbandszeug an ihr Bett und schlug die Decke zurück. Darunter war sie nackt, was ihr bisher noch gar nicht aufgefallen war.

»Das wird jetzt ein bißchen weh tun«, sagte Tobias. »Beiß die Zähne zusammen.«

Er hatte nicht übertrieben. Obwohl er sehr behutsam zu Werke ging, liefen Robin die Tränen über die Wangen, als er den Verband gelöst und die Wunde an ihrem Hals mit Wasser und einem sauberen Tuch gereinigt hatte.

»So«, sagte er. »Das Schlimmste hast du überstanden. Die Wunde sieht gut aus. Ich glaube nicht, daß sie sich entzündet. Du scheinst gutes Heilfleisch zu haben.« Er lächelte aufmunternd. »Wenn du dich nicht überanstrengst, dann bist du schon in wenigen Tagen wieder auf den Beinen.«

Er trug eine wohlriechende Salbe auf Robins Hals auf, die nicht nur angenehm kühl war, sondern den Schmerz nach einem Moment auch zu einem fast angenehmen Prickeln werden ließ. Anschließend legte er einen sauberen Verband an, stand danach jedoch nicht gleich auf, um seine Schale wegzubringen, sondern sah stirnrunzelnd auf Robins Brust hinab. Robins Blick folgte dem seinen.

Sie erschrak. Ihre linke Brust war angeschwollen, und man konnte deutlich den blau angelaufenen Abdruck einer riesigen Hand erkennen.

»Gütiger Gott«, flüsterte Tobias. »War das derselbe, der versucht hat, dich zu töten?«

Robin nickte. Ja. Ein Mann in Rüstung und Wappenrock eines Tempelritters. Ein Mann wie Bruder Abbé.

»Gott wird ihn dafür strafen«, sagte Tobias. »Und wenn nicht er, dann wir. Bruder Abbé ist sehr zornig, mußt du wissen. Er ist entschlossen, die feigen Mörder zu finden. Und er pflegt normalerweise immer zu erreichen, was er sich vornimmt, auch wenn man es vielleicht nicht glauben mag, wenn man ihn so sieht.« Er stand auf. »Es wird Zeit für das Gebet. Kann ich dich so alleine lassen?«

Robin nickte matt. Obwohl sie praktisch gerade erst aufgewacht war, war sie schon wieder müde. Sie signalisierte Bruder Tobias mit Blicken, daß er ruhig gehen könne, und zog die Decke wieder hoch. Tobias trug seine Schale zum Tisch und verließ das Zimmer. Robin schloß erschöpft die Augen.

Wahrscheinlich wäre sie schon in der nächsten Minute eingeschlafen, hätte sich nicht mit einem Male eine sonderbare Unruhe in ihr breit gemacht. Ihr Herz begann zu klopfen, und sie hatte das Gefühl, daß sich etwas wie ein unsichtbarer, kalter Schatten über das Zimmer gelegt hatte.

Es war ihre Gabe, die sich wieder meldete. Etwas Schlimmes geschah oder würde gleich geschehen.

Sie öffnete die Augen, sah zum Fenster und richtete sich nach kurzem Zögern auf. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie zögerte noch einmal, dann schwang sie die Beine aus dem Bett, schlang die Decke um die Schultern und ging zum Fenster.

Im ersten Moment konnte sie kaum etwas sehen. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, und ihre fast waagerecht einfallenden Strahlen stachen schmerzhaft in ihre Augen und ließen sie blinzeln. Aber das Gefühl einer unsichtbaren Bedrohung wurde immer stärker.

Sie blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und wartete voller Ungeduld darauf, daß sie sich an das grelle Sonnenlicht gewöhnten. Immerhin sah sie jetzt, daß die Kammer, in der sie aufgewacht war, sich in einem sehr hohen Gebäude befinden mußte; vielleicht in einem Turm. Unter ihr lag ein grob rechteckig geformter Hof, der von einer Ansammlung unterschiedlich großer, mit Holzschindeln gedeckter Gebäude eingerahmt war. In gerader Linie vor dem Fenster, an dem sie stand, befand sich ein wuchtiges Torhaus. Das unheimliche Gefühl von Bedrohung und Gefahr kam von dort. Und es wurde mit jedem Moment stärker. Eine Bewegung auf der anderen Seite des Hofes zog ihren Blick an. Sie beugte sich vor, sah genauer hin - und fuhr erschrocken zusammen. Die Gestalten wirkten über die große Entfernung winzig, aber Robin hätte sie wohl auch erkannt, wenn sie noch viel weiter fort gewesen wären. Sie trugen mattes Silber, Weiß oder Rot... Tempelritter! Das waren Tempelritter!

Plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, war alles wieder da. Die Nacht, in der ihr Dorf gebrannt hatte. Die schrecklichen Minuten unter der alten Ulme. Die riesenhafte Gestalt des Tempelritters, die sie gegen den Baum preßte ... Robin begann am ganzen Leib zu zittern. Sie war verloren! Ihr Alptraum war kein Alptraum gewesen. Sie war im Fegefeuer, und die Dämonen der Hölle machten sich dort unten bereit, um ihre Seele zu holen und...

Robin kämpfte die aufkommende Panik mit aller Gewalt nieder. Ihr Innerstes war in Aufruhr. Sie ballte die Hände so fest zu Fäusten, daß es weh tat, klammerte sich mit aller Macht an den dünnen, stechenden Schmerz, als wäre er das einzige, was ihren Geist noch davor bewahren konnte, endgültig in die Abgründe des Wahnsinns abzugleiten.

Es gab keinen Grund, in Panik zu geraten, hämmerte sie sich selbst ein. Sie hatte schließlich gewußt, wo sie sich befand. Bruder Abbé war der erste gewesen, den sie nach ihrem Erwachen gesehen hatte. Sie hatte gewußt, daß er ein Tempelritter war - und wo einer von ihnen war, da konnten schließlich auch noch mehr sein, oder? Es gab nicht den mindesten Grund, beim Anblick der Templer zu erschrecken!

Aber es war eine Sache, etwas zu wissen, und eine ganz andere, es mit eigenen Augen zu sehen ...

Robin zwang sich, tief einzuatmen - es tat weh, aber dieser neuerliche Schmerz half ihr im Moment, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren -, schloß für die Dauer eines Atemzuges die Augen und öffnete die verkrampften Fäuste. Es half. Als sie wieder auf den Hof hinabsah, hatten die gepanzerten Gestalten einen Großteil ihres Schreckens eingebüßt.

Sie erkannte jetzt, daß es sich bei einer von ihnen um Bruder Abbé handelte. Der kahlköpfige Tempelherr war selbst über die große Entfernung hinweg nicht zu verwechseln. Er war ein gutes Stück kleiner als seine Begleiter, schlug jeden einzelnen von ihnen dafür aber mit Leichtigkeit, was den Leibesumfang anging. Hätte Robin nicht mit eigenen Augen gesehen, wie sich dieser kleine, kurzbeinige Mann im Kampf zu bewegen vermochte, so wäre er ihr schlichtweg lächerlich vorgekommen, vor allem zwischen den anderen, ausnahmslos hochgewachsenen Kreuzrittern.

Die Tempelritter bewegten sich in einer geraden Linie und ohne Hast über den Hof und auf das Tor zu. Als sie es fast erreicht hatten, tauchten vier Reiter darunter auf. Alle waren schwer bewaffnet und trugen Lanzen und Schild, auf denen ein Robin nur zu vertrautes Symbol prangte: Ein zweiköpfiges Fabeltier. Einer von ihnen trug den linken Arm in einer Schlinge. Robins Atem stockte. Schließlich wußte sie genau, wen sie vor sich hatte.

Die Reiter kamen nicht etwa gemächlich auf den Hof geritten, sondern sprengten in vollem Galopp herein und hielten auf Abbé und die anderen Tempelritter zu, so schnell, daß Robin kaum noch überrascht gewesen wäre, hätten sie ihre Lanzen angelegt, um die Männer in Weiß und Rot einfach über den Haufen zu reiten. Erst im buchstäblich allerletzten Moment rissen sie ihre Pferde zurück. Es hätte beeindruckend ausgesehen, hätte nicht eines der Tiere gescheut und wäre ausgebrochen, und ein zweites mit einem protestierenden Wiehern auf die Hinterläufe gestiegen, so daß sein Reiter plötzlich alle Mühe hatte, nicht aus dem Sattel zu rutschen. Die wild ausschlagenden Vorderhufe schnitten kaum eine Handbreit vor Bruder Abbés Gesicht durch die Luft, aber der Tempelritter wich nicht um einen Schritt zurück. Diese Runde, dachte Robin mit einer Mischung aus Schadenfreude und widerwilliger Bewunderung, ging eindeutig an Bruder Abbé.

Es vergingen noch einige Augenblicke, bis die Reiter ihre Tiere wieder vollends in der Gewalt hatten, was den mit Sicherheit geplanten dramatischen Auftritt nun vollends zunichte machte. Die Reiter nahmen in einer geraden Reihe vor den Templern Aufstellung, und eigentlich hätten sie beeindruckend wirken müssen, hoch zu Roß und mit aufgereckten Lanzen, deren Wimpel im Wind flatterten.

Das genaue Gegenteil war der Fall. Gegen die reglos dastehende Reihe der Tempelritter wirkten die Reiter geradezu erbärmlich; wie Kinder, die versuchten, Erwachsene nachzuäffen.

Hinter ihr erklang das Geräusch der Tür, aber Robin drehte sich nicht herum; sicherlich war es nur Bruder Tobias, der sein Gebet beendet hatte und zurückkam, um nach dem Rechten zu sehen. Robin konzentrierte sich ganz auf das Geschehen im Hof. Sie hätte ihre rechte Hand dafür gegeben, zu hören, was dort unten besprochen wurde. Aber sie war viel zu weit entfernt, um auch nur die Stimmen zu hören, geschweige denn die Worte.

Das war aber auch nicht notwendig, um zu erkennen, daß dort unten auf dem Hof ein heftiger Streit im Gange war. Die Reiter gestikulierten immer heftiger, und ein- oder zweimal senkte einer von ihnen auch die Hand auf das Schwert. Der Ausbruch von Gewalttätigkeiten stand unmittelbar bevor.

»Er spielt mit seinem Leben, dieser Narr«, sagte eine Stimme neben ihr.

Robin wandte nun doch den Blick und fuhr leicht zusammen, als sie sah, daß sie sich getäuscht hatte - es war nicht Bruder Tobias, der hereingekommen war, sondern Salim.

»Verzeih«, sagte der junge Tuareg. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber du solltest dich wieder hinlegen. Tobias trifft der Schlag, wenn er hereinkommt und dich hier stehen sieht.«

Robin machte eine wegwerfende Geste und deutete fast gleichzeitig auf den Hof hinab. Salim verstand. »Ich verstehe auch nicht genau, was dort passiert«, sagte er stirnrunzelnd. »Ich weiß nur, daß dieser Dummkopf mit seinem Leben spielt - oder zumindest mit seiner Gesundheit. Abbé ist kein Mann, der sich bedrohen läßt. Er ist nicht so geduldig, wie viele glauben.«

Robin gestikulierte weiter auf den Hof hinab, dann drehte sie sich ganz zu Salim um, machte ein fragendes Gesicht und fuhr mit dem Zeigefinger von der Stirn abwärts über Auge und Wange hinab.

Salim runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht...«

Robin wiederholte ihre Bewegung, schneller und hektischer diesmal, dann deutete sie wieder auf den Hof hinunter.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Salim hilflos. Er blickte an ihr vorbei auf den Hof hinunter, hob seufzend die Schultern und nickte dann. »Ich werde hinuntergehen und nachsehen«, sagte er. »Auch wenn ich immer noch nicht weiß, wonach überhaupt.«

Er ging. Robin sah ihm nach, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und ihr fiel auf, wie elegant und schnell sich der Tuareg bewegte. Er schien kaum wirklich zu gehen, sondern rasch und fast lautlos zu gleiten, als wäre er nicht mehr als ein Schatten, dem der Blick kaum zu folgen vermochte. Der Anblick löste etwas in ihr aus, das sie nicht verstand, das aber keineswegs unangenehm war.

Sie verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen auf dem Hof. Die Debatte schien sich ihrem Ende zuzuneigen. Zwei der vier Reiter hatten ihre Pferde bereits gewendet, während die beiden anderen noch hitzig mit Bruder Abbé stritten. Salirn würde zu spät kommen, aber Robin wußte nicht einmal, ob sie das bedauern sollte oder nicht. Manchmal war die Ungewißheit viel leichter zu ertragen als die Wahrheit.

Sie wartete, bis sich auch die beiden anderen Reiter herumgedreht hatten und der ganze Trupp den Hof verließ, dann wandte auch sie sich mühsam um und ging auf etwas wackeligen Beinen zum Bett zurück. Sie spürte plötzlich wieder, wie müde sie war. Die Anstrengung, am Fenster zu stehen, und vor allem wohl auch die Aufregung und die Furcht hatten sie zusätzlich erschöpft. Beinahe mit letzter Kraft erreichte sie das Bett und ließ sich darauf fallen. Als Bruder Tobias wenige Minuten später die Kammer betrat, war sie bereits in einen tiefen und diesmal traumlosen Schlaf gesunken.

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