KAPITEL 24

Wenn es etwas gab, was Robin im nachhinein noch mehr erschreckte als die Greuel jenes schrecklichen Tages und jener nicht minder furchtbaren Nacht, dann die Schnelligkeit, mit der das Leben in der Komturei wieder zu seinem normalen Rhythmus zurückfand. Es vergingen noch einige Tage, in denen sie hauptsächlich damit beschäftigt war, sich um die Verletzten zu kümmern, Verbände zu wechseln oder manchmal auch nur tröstend eine Hand zu halten, deren Besitzer im Fieber schwer daniederlag. Doch schon lange vor Ablauf einer Woche waren die meisten Verletzten - sofern sie nicht gestorben waren - so weit auf den Beinen, daß sie ihrer gewohnten Arbeit wieder nachgehen konnten, und bald waren auch die dringendsten Reparaturen abgeschlossen.

Der gewohnte Tagesablauf nahm Besitz von der Komturei und ihren Bewohnern. Abbé und die drei anderen Ritter verbrachten fast die Hälfte des Tages im Gebet. Schließlich rief Abbé sie zu sich, um ihr mitzuteilen, daß sie seiner Meinung nach weit genug genesen sei, um nicht mehr den ganzen Tag über im Bett liegen zu müssen, sondern sich nun nützlich machen könnte. Robin hatte sich ihrer Meinung nach in der vergangenen Woche mehr als nützlich gemacht - um nicht zu sagen, sie hatte bis zum Umfallen gearbeitet - aber da auch Jeromé und die anderen Ritter bei diesem Gespräch anwesend waren, und sie Salims Warnung nicht vergessen hatte, verstand sie Abbés Aufforderung ganz so, wie sie gemeint war: Nicht als die, mehr zu arbeiten, sondern als die, zu bleiben.

Sie mußte sich ohnehin nicht überanstrengen. Abbé trug ihr allerlei kleine Pflichten auf, die fast alle eines gemeinsam hatten: Sie sorgten dafür, daß sie sich oft in seiner Nähe aufhielt oder ihre Wege sich zumindest mehrmals am Tage kreuzten. Anfangs glaubte sie, es wäre nichts als reiner Zufall, danach - in Rückschau des Gespräches, das sie mit Salim geführt hatte -, daß Abbé sie auf diese Weise vor Jeromé und den anderen Rittern schützen wollte. Sie spürte eine zunehmende Unruhe in sich, obwohl sie nicht einmal genau hätte sagen können, warum. Gleichwohl: Das Gefühl war da, und es wurde allmählich stärker.

Vielleicht lag es an der Art, auf die Abbé sie manchmal ansah - meistens, wenn er glaubte, sie merke es nicht. Dann war etwas in seinen Augen, was ihr beinahe Angst machte.

Es waren zwei Wochen seit der Schlacht vergangen - mithin war es die dritte, die sie in der Komturei verbrachte -, und sie war mit ihrer Arbeit fertig und überlegte gerade, ob sie Bruder Tobias besuchen sollte. Bei allem Schlimmen hatte Gott doch ein kleines Wunder bewirkt und Tobias überleben lassen. Er befand sich bereits auf dem Wege der Besserung und entwickelte sich zu einer Plage für die, die ihn pflegten. Abbé hatte einmal die Bemerkung gemacht, daß Ärzte die schlimmsten Patienten seien, und seit Tobias sich kräftig genug fühlte, um aufzustehen - ohne es indes zu sein -, verstand sie auch, was er damit gemeint hatte.

Bevor sie jedoch zu einer Entscheidung gelangen konnte, kam Salim quer über den Hof auf sie zu und winkte. Sie blieb stehen, erwiderte seinen Gruß und sah ihm fragend entgegen. Seit zwei oder drei Tagen hatte sie Salim kaum gesehen. Er war mit wichtigen Dingen beschäftigt gewesen und hatte oft Stunden mit Abbé und den anderen Rittern im Gespräch verbracht. Robin hatte nicht gefragt, worum es dabei ging; nicht nur, weil sie ohnehin ahnte, daß sie keine Antwort bekommen würde, sondern auch, weil sie es gar nicht wissen wollte. Sicherlich ging es wieder um Politik, jenes Wort, dem bisher immer etwas Schlimmes vorausgegangen oder gefolgt war, wenn sie es gehört hatte.

»Hast du Zeit?« begann Salim übergangslos.

Robin antwortete nicht gleich. Normalerweise stellte Salim solche Fragen nicht, sondern sagte ihr, was sie zu tun hatte.

»Bruder Abbé ... wollte noch etwas von mir«, antwortete sie. Das Sprechen fiel ihr jetzt leichter, bereitete ihr aber trotzdem noch Mühe und manchmal auch Schmerzen, so daß sie sich angewöhnt hatte, langsam und nicht allzu laut zu reden.

»Bruder Abbé und die anderen haben gerade ihr Gebet begonnen«, sagte Salim. »Sie sind mindestens eine Stunde beschäftigt - falls ihnen nicht noch ein paar zusätzliche Vaterunser oder Ave Maria über die Lippen kommen.« Er verzog abfällig das Gesicht. »Komm mit.«

So selbstverständlich, wie er dies sagte, so selbstverständlich folgte Robin ihm auch. Sie war Gehorsam gewohnt, und sie nahm ihm diesen befehlenden Ton nicht übel. Es war eben seine Art. Eine recht sonderbare Art für einen Sklaven - aber daß er das war, daran glaubte Robin sowieso schon lange nicht mehr. Und Salim gab sich im Grunde auch gar keine Mühe mehr, diese Lüge aufrechtzuerhalten.

Sie begaben sich zum Torhaus, und Salim führte sie zu der schmalen Stiege, die hinauf zum Dachboden führte, auf dem sie den ersten Angriff von Gunthars Männern erwartet hatten. Robin zögerte, hinter ihm durch die hölzerne Tür zu treten. Was wollten sie dort oben? Der Dachboden wurde mittlerweile wieder zum Heutrocknen genutzt, stand ansonsten aber leer, weshalb sich normalerweise kein Mensch hierhin verirrte.

»Nun komm schon«, sagte Salim. Er klang ein wenig ungeduldig. Sein Blick irrte unstet über den Hof, fast als hätte er Angst, daß sie jemand beobachten könnte. »Keine Angst - ich habe nicht vor, dir etwas anzutun.«

Seine Worte trugen nicht gerade zu Robins Beruhigung bei. Sie selbst war bisher noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß er ihr gefährlich werden könnte - warum also sagte er so etwas?

Sie verscheuchte das ungute Gefühl, trat hinter ihm durch die Tür und beeilte sich, die schmale Stiege zum Dachboden hinaufzusteigen. Salim schien im Halbdunkel vor ihr zuerst zu einem Schatten zu verschmelzen und dann ganz zu verschwinden. Selbst das Geräusch seiner Schritte und das Rascheln seines Mantels waren kaum noch zu hören. So ungefähr, dachte sie, mußte es auch gewesen sein, als er sich in Gunthars Lager geschlichen hatte: ein Schatten, der mit der Nacht verschmolz und so gut wie unsichtbar wurde. Sie hatte ihn nicht gefragt, wie es ihm gelungen war, Gernot praktisch aus der Mitte seiner Armee heraus zu entführen und in den Turm zu bringen, aber sie hatte auch das Gefühl, daß sie es gar nicht wirklich wissen wollte; vielleicht, weil die Antwort sie erschreckt hätte.

Auf dem Dachboden war es heller, als sie es in Erinnerung hatte. Vor den Fenstern lagen jetzt keine Läden mehr, und goldenes Sonnenlicht strömte in breiten, staubflirrenden Bahnen herein. Die Luft roch seltsam, aber nicht unangenehm: Eine Mischung aus Staub und dem Geruch des Heus, das im hinteren Drittel des Raumes zum Trocknen ausgebreitet war. Es war so warm, daß ihr fast sofort der Schweiß ausbrach.

»Heute morgen kam ein Bote von Burg Elmstatt«, sagte Salim. »Otto ist entflohen.«

Robin fuhr erschrocken herum. »Wie?«

Salim hob die Schultern. »Wie es aussieht, hatte er Hilfe ... du darfst dreimal raten, von wem.«

»Gernot«, sagte Robin düster.

»Gernot«, antwortete Salim, »hat sich zwanzig Männer genommen, um ihn zu jagen. Ich verwette meine linke Hand, daß er ihn nicht findet.« Er seufzte. »Aber wir sind nicht hier, um über Otto zu reden. Fang!«

Robin griff automatisch zu, als er ausholte, ein Schwert unter dem Mantel hervorzog und es in ihre Richtung warf. Die Bewegung erfolgte fast ohne ihr Zutun, rein instinktiv, und sie fing die Waffe sogar richtig herum auf. Sie bekam sie am Griff zu fassen, statt in die Klinge zu greifen und sich womöglich ein paar Finger abzuschneiden, wie es sich in einer kurzen, aber sehr lebhaften Vision vor ihrem inneren Auge abspielte.

Um ein Haar hätte sie trotzdem das Gleichgewicht verloren. Sie hatte eine schwere Waffe erwartet, wie die Abbés, und ihre Muskeln entsprechend angespannt, aber das Schwert wog so gut wie nichts. Es war aus Holz geschnitzt. Nur ein Kinderspielzeug. Noch während sie verwirrt auf das Holzschwert in ihren Händen herabsah, sagte Salim:

»Deine Reflexe sind gut. Noch besser, als ich erwartet hatte. Und jetzt - wehr dichl«

Wie hingezaubert erschien plötzlich ein zweites, hölzernes Schwert in seiner Hand, und von einem Moment auf den anderen schien er sich tatsächlich in einen Schatten zu verwandeln, der einfach verschwand und im gleichen Augenblick unmittelbar vor ihr wieder auftauchte. Sein Holzschwert traf das Spielzeug, das sie in der Hand hielt, und prellte es ihr aus den Fingern. Robin wich mit einem überraschten Sprung zurück - wie es aussah, gerade noch rechtzeitig, denn Salims Holzschwert zuckte in ihre Richtung und hätte sie zweifellos getroffen, wäre sie stehengeblieben.

Salim ließ seine Waffe sinken und trat wieder zwei Schritte zurück. »Das war wirklich gut«, sagte er. »Du überraschst mich.«

»Gut?« wiederholte Robin verständnislos. »Ich verstehe nicht...«

»Du hast das Schwert aufgefangen«, sagte Salim. »Die wenigsten an deiner Stelle hätten es auch nur versucht. Aber du hast es nicht nur getan, du hast dich sogar gewehrt.«

»Was habe ich?«

»Du hast es wahrscheinlich selbst nicht einmal gemerkt, aber du hast es versucht. Ich hatte recht. Du bist eine geborene Kriegerin.«

»Unsinn«, widersprach sie. Sie eine Kriegerin? Am Anfang hatte sie vielleicht geglaubt, daß sie das Kriegshandwerk faszinierte. Wenn sie Abbé und den anderen bei ihren Waffenübungen zugesehen hatte, dann hatte sie eine gewisse Bewunderung verspürt, für die sie sich tief in ihrem Innern geschämt hatte, bis ihr klar wurde, daß es nicht die Gewalt war, die sie faszinierte, sondern vielmehr die Eleganz ihrer Bewegung, die Schnelligkeit und das Geschick, mit dem die Ritter ihre Waffen führten, und ihre Kraft. Die Schlacht um die Komturei hatte das alles geändert, denn sie hatte das andere, wahre Gesicht des Kriegers kennengelernt. Beinahe angewidert schüttelte sie den Kopf.

»Ich erkenne eine verwandte Seele, wenn ich sie treffe«, sagte Salim. »Du bist eine Kriegerin. Und wenn nicht, dann mußt du zu einer werden - wenn du weiterleben willst.«

»Aber das will ich nicht!« protestierte Robin.

»Weiterleben?«

»Das Kämpfen lernen!«

»Aber das kannst du doch längst«, behauptete Salim. »Du konntest es vom Tag deiner Geburt an. Wäre es nicht so, dann hätte der Wahnsinnige dich an jenem Abend in der Kapelle schon umgebracht. Und wenn nicht er, dann spätestens Otto, als er in die Komturei eindrang.«

»Ich hatte Glück«, antwortete Robin. Sie fühlte sich hilflos, und sie wollte, daß Salim damit aufhörte. Vielleicht, weil sie tief in sich spürte, daß seine Worte mehr Wahrheit enthielten, als sie zugeben mochte.

»Glück?« Salim schnaubte. »So etwas gibt es nicht. Man hat dir die Kehle durchgeschnitten, Robin! Soll ich dir sagen, warum du es überlebt hast? Nicht weil du Glück hattest! Weil du eine Löwin bist! Du hast um dein Leben gekämpft. Du wolltest nicht sterben, und du hast dem Tod ins Gesicht gelacht und ihn besiegt! Das Kämpfen muß ich dir nicht beibringen - nur noch, wie man ein Schwert führt und auf einem Pferd reitet.«

»Und wenn ich das nicht ich will?« fragte Robin.

Salim zog es auf die für ihn typische Art vor, ihren Einwand zu überhören. »Ich habe noch einmal mit Abbé über alles geredet«, sagte er. »Er ist nicht begeistert von der Idee, aber er ist genau wie ich der Meinung, daß dein Leben in Gefahr ist, sobald du diese Mauern verläßt - vor allem jetzt, wo Otto entkommen ist und sich vielleicht irgendwo in der Gegend herumtreibt. Deshalb ist er damit einverstanden, daß ich dir zeige, wie du dich deiner Haut wehren kannst. Wir werden hier üben. Hier sind wir ungestört, und es ist besser, wenn die anderen nicht wissen, was wir tun... vor allem Jeromé und die beiden anderen Tempelherren.«

Er ging an Robin vorbei, hob das Schwert auf und reichte es ihr. Sie griff danach, nicht nur, ohne es wirklich zu wollen, sondern beinahe schon gegen ihren Willen, und drehte es hilflos in den Händen.

»Ich ... möchte das nicht«, sagte sie leise. »Es gehört sich nicht. Ich bin kein Mann.«

»Sag das Otto, wenn er das nächste Mal mit einem Messer in der Hand vor dir steht«, antwortete Salim. »Was für ein Unsinn! Wo steht geschrieben, daß du dich nicht deiner Haut wehren darfst, nur weil du kein Mann bist?«

»Aber ich... ich hasse Waffen!« Sie warf das Spielzeugschwert zu Boden. »Ich habe gesehen, was sie anrichten!«

»Dann solltest du besser dafür sorgen, daß du es nicht irgendwann am eigenen Leib erfährst«, antwortete Salim hart. Dann tat er etwas, was Robin nicht verstand, was sie aber zutiefst erschreckte: Er versetzte ihr einen so derben Stoß, daß sie drei oder vier Schritte weit zurücktaumelte und nur mit Mühe ihr Gleichgewicht zurückgewann. Für einen winzigen Moment. Dann setzte Salim ihr nach und stieß sie noch einmal, diesmal so hart, daß sie endgültig die Balance verlor und fiel. Salim setzte ihr abermals nach und streckte die Hand aus, als wolle er nach ihrem Haar greifen und sie daran in die Höhe zerren. Jetzt wälzte sich Robin rasch zur Seite, sprang in die Höhe und holte aus, um nach ihm zu schlagen.

Salim fing ihren Hieb ohne Mühe ab, hielt ihr Handgelenk fest und grinste. »Warum hast du das getan?« fragte er.

»Warum hast du das getan?« gab Robin aufgebracht zurück. »Wieso schlägst du mich?«

»Ich wollte sehen, was du tust«, antwortete Salim. Er hielt ihr Handgelenk immer noch so fest, daß es weh tat, was ihm keineswegs entgehen konnte. Aber er machte immer noch keine Anstalten, sie loszulassen. »Du hast mich nicht enttäuscht. Du hast dich gewehrt. Du hast nicht etwa die Hände vors Gesicht gehoben und angefangen zu wimmern und zu klagen. Du hast dich gewehrt.«

»Und?« Robin versuchte, ihre Hand loszureißen. Salim ließ ihren Arm schließlich auch los, aber erst, als er es wollte.

»Warum wehrst du dich so gegen die Wahrheit?« fragte Salim. »Was ist so schlimm daran? Ich helfe dir!«

»Aber das will ich nicht!« Robin hätte geschrien, wenn sie es gekonnt hätte. »Begreifst du das denn nicht?«

Salim ergriff sie bei den Schultern. »Begreifst du denn nicht, daß du keine Wahl hast?«

»Nein!« Robin versuchte, seinen Arm beiseite zu schlagen, aber ihre Kraft reichte nicht. Salim hielt sie nicht nur weiter fest, sondern begann sie zu allem Überfluß auch noch zu schütteln.

»Wach auf!« sagte er. »Die Frage ist ganz einfach: Willst du weiterleben oder nicht?«

»Laß mich los!« keuchte Robin. Sie geriet in Panik. Sie wußte nicht, was mit ihr geschah. Sie wußte nicht, was Salim mit ihr tat, geschweige denn, warum er es tat. Sie versuchte noch einmal vergeblich, seine Arme abzuschütteln, dann hob sie die Hände und begann mit beiden Fäusten auf seine Brust einzuschlagen.

Und plötzlich brach alles aus ihr heraus. Tränen liefen in einem heißen Strom über ihr Gesicht, und in ihrem Hals war ein bitterer, harter Kloß und ein neuer Schmerz, der ihr fast den Atem nahm. Sie trommelte mit beiden Fäusten auf seine Brust und stammelte dabei unartikulierte, wimmernde Laute. Salim ließ es geschehen. Erst als sie versuchte, auch nach seinem Gesicht zu schlagen, drehte er den Kopf zur Seite, wehrte sich aber immer noch nicht, sondern zog sie nur näher an sich heran, so daß ihr kein Platz mehr blieb, um auszuholen, sondern sie nur noch schwächlich mit den Fäusten gegen seine Brust boxen konnte.

»Laß mich los!« wimmerte sie. »Laß los! Ich... ich will das nicht! Ich will eure Schwerter und Keulen nicht! Ich will eure Waffen nicht, und eure ... eure Mildtätigkeit. Ich will auch nicht hier sein! Ich will zurück nach Hause!«

Und endlich war es heraus. Ihre Kräfte erlahmten, und statt weiter auf ihn einzuschlagen, sank sie unter noch heftigerem Weinen plötzlich gegen Salims Brust. All der Schmerz, den sie in den vergangenen drei Wochen in sich hineingefressen hatte, aller Kummer und das ganze Leid, die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die bisher einfach nicht hatten kommen wollen, waren mit einem Male da, jäher und hundertmal schlimmer, als sie es sich auch nur hätte vorstellen können. Der Schmerz schien ihre Brust zerreißen zu wollen.

»Allah sei Dank«, murmelte Salim. Er drückte sie noch fester an sich, löste die Rechte von ihrer Schulter und strich zärtlich mit den Fingern über ihr Haar, fast ohne sie dabei wirklich zu berühren. »Ich hatte schon Angst, daß es niemals kommt. Es gibt nichts Schlimmeres als Schmerz, den man nicht herausläßt. Er frißt einen von innen auf.«

»Ich will weg«, schluchzte Robin. »Bring mich fort, Salim! Bitte! Ich möchte nach Hause!«

»Du hast kein Zuhause mehr, Robin«, antwortete Salim leise. »Es existiert nicht mehr. Du kannst nicht dorthin zurück. Sowenig wie ich.« Seine Hand hörte auf, über ihr Haar zu streichen, und berührte beinahe noch sanfter ihre Wange. »Ich weiß, das tut weh. Auch ich kenne diesen Schmerz. Ich weiß, wie schlimm er ist und wie tiefer geht. Und manchmal glaube ich, daß er niemals ganz vergeht. Aber man gewöhnt sich daran. Und irgendwann spürt man ihn kaum noch.«

Robin löste sich mit sanfter Gewalt aus seiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Und wie paßt das zu deiner geborenen Kriegerin?« fragte sie leise. »Gehört das auch zu den Talenten, die man haben muß?«

»Weinen?« Salim lächelte. »Auch ich weine manchmal.«

»Du?« Es fiel ihr schwer, das zu glauben.

»Ich habe berühmte Helden aus der Schlacht kommen sehen, und sie haben wie kleine Kinder geweint«, sagte Salim. Dann hob er die Schultern, und das vertraute jungenhafte Grinsen breitete sich wieder auf seinem Gesicht aus. »Ein richtiger Krieger achtet nur darauf, daß die anderen es nicht sehen.«

Ob Robin wollte oder nicht, sie mußte lachen - auch, wenn ihr dabei noch immer die Tränen übers Gesicht liefen.

»Besser?« fragte Salim.

Sie blieb ihm die Antwort auf diese Frage schuldig. Sie wußte sie nicht. Der Schmerz in ihrer Brust war noch immer da, aber er war schon jetzt von anderer Art, die leichter zu ertragen war; als hätte ein Messer eine schwärende Wunde aufgeschnitten, so daß Eiter und üble Säfte endlich abfließen könnten und nicht länger ihr Blut vergifteten. Es würde noch lange dauern, bis sie vernarbt war, aber nun konnte die Wunde zu heilen beginnen.

Salim schien ihr Schweigen als Antwort zu genügen, denn er bückte sich, hob das Holzschwert auf und drückte es ihr in die Hand. »Was meinst du - wollen wir es noch einmal versuchen?«

Robin sah das Spielzeugschwert in ihrer Hand noch einen Moment lang nachdenklich an - und rammte es Salim dann mit voller Wucht in den Leib. Der Tuareg ächzte, taumelte zwei Schritte zurück und krümmte sich.

»War das so richtig?« fragte Robin.

Salim sank auf ein Knie herab und rang japsend nach Luft, so daß Robin im ersten Moment schon befürchtete, ihn ernsthaft verletzt zu haben. An der Spitze des Holzschwertes war aber zumindest kein Blut.

»Oh, du verfluchtes Weibsstück!« keuchte Salim. »Warte, dafür wirst du mir bezahlen!«

Er sprang sie an, so schnell, daß ihr kaum genug Zeit blieb, um zu erschrecken, prallte mit ausgebreiteten Armen gegen sie und riß sie von den Füßen. Aneinandergeklammert rollten sie über den staubigen Boden, bis er schließlich über ihr zum Liegen kam und sie mit seinem Körpergewicht auf die Dielen drückte.

»Du nichtsnutziges Weibsstück!« kreischte er in schon fast komisch übertriebenem Zorn. »Weißt du, was man in meiner Heimat mit heimtückischen Schlangen wie dir macht?«

Robin wußte es nicht, und sie hätte die Frage auch gar nicht beantworten können, denn Salim lag so schwer auf ihr, daß sie kaum noch Luft bekam. Sie versuchte ihn von sich herunterzustoßen, aber Salim ignorierte ihre Anstrengungen einfach. Erst, als ihm auffiel, wie mühsam sie um Atem rang, stützte er sein eigenes Gewicht mit Knien und Ellbogen ein wenig ab; weit genug, daß sie nicht mehr zu ersticken drohte, aber nicht mehr.

»Lektion Nummer eins«, sagte er. »Wenn du einen Feind niederstichst, dann verlaß dich nicht darauf, daß er dir nichts mehr tun kann. Lauf weg, oder bringe es zu Ende.«

»Aha«, machte Robin. »Und was... macht man in deinem Land nun mit jemandem wie mir?«

Salim sah sie aus seinen dunklen, unergründlichen Augen an, dann beugte er sich herab und küßte ihr die Tränen von der rechten Wange. »Das«, flüsterte er. »Und das.« Seine Lippen berührten ihre andere Wange und glitten dann sanft hinab zu ihrem Mundwinkel. »Und das.«

Robin erschauerte am ganzen Leib. Sie war wehrlos. Es war der unpassendste aller nur denkbaren Momente, aber sie spürte auch, daß sie tief in sich genau diese Berührung herbeigewünscht hatte, seit dem ersten Augenblick, in dem ihr Salims Gesicht im Traum erschienen war. Ganz gleich, was er jetzt mit ihr tun würde, sie würde sich nicht sträuben.

Doch das einzige, was Salim mit ihr tat, war, sie noch einmal zu küssen und dann mit einer beinahe hastigen Bewegung aufzustehen.

»Es wird Zeit, daß wir mit der ersten Unterrichtsstunde beginnen«, sagte er.

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