KAPITEL 12

Es mußte wohl so sein, wie Bruder Tobias gesagt hatte - Schlaf war immer noch die beste Medizin. Sie dämmerte den ganzen Tag - und auch noch einen Gutteil des darauffolgenden - mehr oder weniger vor sich hin. Ein paarmal wachte sie auf, wenn Bruder Tobias sich zum Beispiel an dem Verband an ihrem Hals zu schaffen machte oder sie weckte, um ihr einen Schluck Wasser oder einen Löffel lauwarme Suppe einzuflößen, und jedesmal, wenn sie die Augen öffnete, blickte sie als erstes in Salims Gesicht. Später erfuhr sie, daß der junge Tuareg die ganze Zeit an ihrem Bett gesessen und Wache gehalten hatte. Er wurde auf diese Weise innerhalb eines einzigen Tages nicht nur zu einem Vertrauten, sondern beinahe zu so etwas wie einem lieben alten Freund, ganz einfach, weil sein bronzefarbenes Gesicht immer da war, wenn sie die Lider hob, und das erste, was sie sah, stets der besorgte Blick seiner braunen Augen war. Ohne daß es ihr bewußt wurde, begann Salim zu einem ruhenden Pol des Vertrauens und der Wärme für sie zu werden; vielleicht zu dem einzigen sicheren Fels in dem tobenden Ozean einander widerstrebender Empfindungen, in den sich ihr Leben verwandelt hatte.

Einmal erschien auch Bruder Abbé an ihrem Krankenlager, begleitet von einem weiteren, dunkelhaarigen Mann, den sie kannte und der die Rüstung eines Tempelritters trug; zweifellos einer der fünf, die sie zusammen mit Abbé unten auf dem Hof gesehen hatte. Abbé wirkte sehr besorgt und bestürmte sie mit Fragen, und sie gab sich auch redliche Mühe, sie zu beantworten - schon weil sie spürte, von welch großer Wichtigkeit sie für Abbé waren. Aber es fiel ihr sonderbar schwer, sich auf die Fragen zu konzentrieren. Müdigkeit stieg in Wogen in ihr empor, und manchmal hätte sie selbst nicht sagen können, ob sie nun zur Antwort schon ein- oder zweimal die Augen geschlossen hatte. Schließlich gab Abbé es auf und ging.

Erst um die Mittagsstunde des nächsten Tages wachte sie wirklich auf. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, und sie fühlte sich ausgeruht und frisch wie schon lange nicht mehr. Ihr Hals schmerzte, und sie hatte einen üblen Geschmack im Mund; den mittlerweile schon vertrauten Geschmack von Blut und Schleim, aber auch noch von etwas anderem, unbekanntem. Erst jetzt, im nachhinein, erinnerte sie sich, diesen Geschmack die ganze Zeit über gespürt zu haben. Sie nahm an, daß Tobias ihr irgend etwas eingeflößt hatte, was sie müde werden ließ, um ihren Heilschlaf zu fördern, und vielleicht auch ein bißchen, um sie vor Abbés allzu großer Neugier zu schützen.

Sie setzte sich auf - die Bewegung fiel ihr erstaunlich leicht angesichts dessen, was sie in den letzten Tagen gespürt hatte -, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und reckte sich ausgiebig. Das Gähnen, das in ihr emporstieg, unterdrückte sie im letzten Moment, denn vermutlich hätte es nur die Schmerzen in ihrem Hals weiter angestachelt.

»Ich muß gestehen, daß Bruder Tobias nicht übertrieben hat.«

Robin drehte vorsichtig den Kopf und blinzelte verwirrt. Salim saß neben ihrem Bett und grinste sie geradezu unverschämt an. Seine Anwesenheit war für sie schon so vertraut geworden, daß sie ihn einfach vergessen hatte.

»Du bist wirklich ein hübsches Mädchen.« Salims Grinsen wurde noch breiter, während sein Blick ganz unverhohlen an ihrem Körper hinabglitt. Auch Robin senkte den Kopf und fuhr dann erschrocken zusammen. Als sie sich aufgesetzt hatte, war die Decke von ihren Schultern gerutscht, und darunter trug sie immer noch nichts. Hastig verhüllte sie sich wieder und warf Salim einen gespielt ärgerlichen Blick zu.

Salims Grinsen wurde nun eindeutig unverschämt. Seine Zähne, die von einem so strahlenden Weiß waren, wie Robin es noch nie zuvor gesehen hatte, blitzten regelrecht. Er legte die flachen Hände überkreuz auf die Brust und neigte in einer demütigen Geste das Haupt so tief, daß seine Stirn die Bettkante berührte. »Bitte verzeiht mir, Herrin«, sagte er spöttisch. »Ich bin nur ein dummer, unwissender Heidenjunge, der nichts von den Sitten und Gebräuchen der Christen weiß. Ich bin einfach der Verlockung eines schönen Weibes erlegen. Bitte laßt mich nicht auspeitschen - wenigstens nicht so heftig.«

Ob Robin wollte oder nicht - sie mußte einfach lachen. Es war keine besonders gute Idee - ihr Hals schien zerreißen zu wollen, und aus dem Lachen wurde ein qualvoller Hustenanfall.

Salim lächelte noch immer, aber in seinen Augen stand auch ein deutlicher Ausdruck von Sorge, als sie endlich wieder halbwegs zu Atem gekommen war. »Versuche nicht zu sprechen«, sagte er. »Bruder Tobias hat recht, weißt du? Deine Heilung macht so gute Fortschritte, daß es ihm schon fast unheimlich ist. Aber übertreibe es nicht.«

Er stand auf, kramte einen kurzen Moment in einer Truhe herum und kam mit einem Hemd aus grobem hellgrauem Stoff zurück, das er ihr reichte.

»Zieh das an«, sagte er. »Bruder Abbé wird gleich kommen, um mit dir zu reden.«

Robin griff zögernd nach dem Hemd. Der Stoff fühlte sich so rauh und grob an, wie er aussah. Es mußte sehr unangenehm sein, es zu tragen. Salirn wiederholte seine Aufforderung jedoch mit einem bekräftigenden Nicken, wandte sich dann um und trat ans Fenster, um auf den Hof hinunterzublicken. Er blieb reglos so stehen, bis Robin aufgestanden war und das graue Büßergewand überstreifte. Kaum hatte sie es getan, da drehte er sich auch schon wieder herum und maß sie mit einem langen, kritischen Blick. Dann grinste er wieder.

»Vorher hast du mir besser gefallen.«

Robin schnitt eine Grimasse, und Salim lachte kurz, aber sehr herzhaft und fuhr dann mit einem Kopfschütteln fort: »Nein, nein, ich meine es nicht so, wie du glaubst. Aber ich verstehe euch Christen einfach nicht. Ihr werft uns vor, ungebildete Wilde zu sein, aber wir kleiden unsere Frauen in feinste Stoffe. Wir schenken ihnen kostbare Kleider und behängen sie mit Schmuck und den wertvollsten Edelsteinen. Wir stecken sie nicht in Säcke!«

Glaubte er etwa, daß sie dieses... Ding gerne trug? Robin blickte stirnrunzelnd an sich herab und konnte Salims harsches Urteil nur bestätigen. Das Gewand war so schwer und kratzig auf der Haut, wie sie befürchtet hatte, und es sah tatsächlich aus wie ein Sack, an den jemand mit wenig Geschick eine Kapuze und viel zu breite Ärmel genäht hatte. Sie nahm sich vor, Tobias nach dem Verbleib ihres eigenen Gewands zu fragen, sobald sie wieder sprechen konnte.

»Es ist zu schade, daß du nicht reden kannst«, sagte Salim. »Ich hätte zu gerne gewußt, was in jener Nacht dort draußen wirklich geschehen ist... und Bruder Abbé übrigens auch. Er ist in großer Sorge, weißt du? Niemand sagt mir etwas, denn schließlich bin ich nur ein Sklave, der sich nicht in die Angelegenheiten seines Herrn zu mischen hat, aber ich müßte schon blind sein, um nicht zu sehen, wie besorgt er seit dem Besuch des Freiherrn ist.« Er schüttelte den Kopf. »Würde ich ihn nicht besser kennen, würde ich sagen, daß er Angst hat.«

»Und damit kämst du der Wahrheit ziemlich nahe, du verlogener, doppelzüngiger Sohn eines Kameltreibers!« Bruder Abbé kam herein und maß Salim mit einem Gesichtsausdruck, der Robin vor Schrecken hätte erstarren lassen, hätte er ihr gegolten - und wäre da nicht ein spöttisches Glitzern in seinen zornig zusammengezogenen Augen gewesen.

»Glaub ihm kein Wort«, fuhr er fort. »Die Muselmanen sind dafür bekannt zu lügen. Dieser nichtsnutzige Abkömmling eines Wüstenskorpions ist kein Sklave. Wir halten keine Sklaven, sondern nehmen allenfalls Gefangene, denen wir die unendliche Gnade zuteil werden lassen, sie mit in unsere Heimat zu nehmen, wo sie die christlichen Tugenden und die Segnungen abendländischer Zivilisation kennenlernen dürfen.«

Robin sah Abbé stirnrunzelnd an. Sie konnte einfach nicht sagen, ob diese Tirade ernst gemeint oder vielleicht nur Teil eines komplizierten Spieles zwischen ihm und dem Tuareg war. Salims Gesichtsausdruck jedenfalls konnte ebensogut tiefsten Schrecken wie ein nur noch mühsam unterdrücktes Lachen bedeuten.

»Nun zu dir, mein Kind.« Abbé machte eine entsprechende Geste. »Bitte nimm Platz. Wir haben einiges miteinander zu besprechen, und ich habe wenig Lust, mir wieder endlose Vorhaltungen unseres übereifrigen Bruder Tobias anhören zu müssen, daß ich dich überanstrengt hätte.«

Robin setzte sich gehorsam auf die Bettkante und stellte erst jetzt fest, daß Abbé nicht allein gekommen war. In seiner Begleitung befand sich der zweite, dunkelhaarige Tempelritter, den sie schon am Tag zuvor gesehen hatte. Wie auch Abbé selbst trug er keine Mönchskutte, sondern Kettenhemd, Wappenrock und Mantel. Tobias hatte sich neben der Tür gegen die Wand gelehnt und die Hände vor dem Bauchnabel gefaltet. Er lächelte zwar beruhigend, aber irgendwie spürte Robin, daß sie diesmal keine Unterstützung von ihm zu erwarten hatte. Trotz seines durchaus humorvollen Auftretens strahlte Abbé einen spürbaren Ernst aus.

»Das ist Bruder Jeromé.« Abbé deutete auf den zweiten Tempelritter. »Du kennst ihn ja bereits... erinnerst du dich?«

Robin nickte.

»Das ist gut.« Abbé nickte zufrieden. Er gab sich zwar Mühe, es zu überspielen, aber Robin spürte genau, wie nervös er war. »Dann kommen wir zur Sache. Salim hier hat mir erzählt, daß du uns gestern beobachtet hast, draußen auf dem Hof. Weißt du, wer die Männer waren, die uns gestern... sagen wir, besucht haben?«

Robin nickte erneut. Sie warf Salim einen fast hilfesuchenden Blick zu, aber der Tuareg schien plötzlich geradewegs durch sie hindurch zu sehen.

»Und du weißt auch, was sie hier wollten?«

Diesmal zögerte Robin einen kurzen Moment, aber dann schüttelte sie den Kopf.

»Nun, sie kamen mit einer geradezu ungeheuerlichen Geschichte hierher. Du weißt, wer Freiherr von Elmstatt ist? Euer Lehnsherr, und der zahlreicher anderer Ortschaften und Ländereien hier - und im Grunde ein sehr vernünftiger Mann. Jedenfalls schien er mir das bis gestern zu sein. Aber nun scheint er mir entweder den Verstand verloren zu haben - oder es geht etwas vor, dessen ganzes Ausmaß noch keiner von uns versteht. So oder so: Ich muß jetzt wissen, was in jener Nacht in eurem Dorf wirklich passiert ist. Es geht möglicherweise um unser aller Leben. Vielleicht sogar um noch viel mehr. Ist es wahr, daß dein Dorf überfallen worden ist?«

Robin nickte.

»Und ist es weiter wahr, daß es Männer wie wir waren? Tempelritter?«

Robin nickte erneut und schüttelte praktisch in der gleichen Bewegung den Kopf. Sie überlegte verzweifelt, wie sie Abbé klar machen konnte, was geschehen war - was wirklich geschehen war. Aber wie sollte man etwas erklären, das man selbst kaum verstand, wenn man nicht einmal in der Lage war zu sprechen?

Sie drehte sich zu Salim um und gestikulierte einen Moment hilflos. Dann machte sie wieder die Bewegung, mit der sie die Narbe im Gesicht des angeblichen Tempelritters beschrieb.

»Ich verstehe immer noch nicht, was du mir sagen willst«, sagte Salim bedauernd.

»Einen Moment!« mischte sich Jeromé ein. »Aber ich vielleicht. Hat sie das schon einmal gemacht?«

»Gestern, als der Freiherr hier war.«

Jeromé wandte sich direkt an Robin. »Eine Narbe«, murmelte er. »Du meinst, einer der Männer hatte eine Narbe im Gesicht, habe ich recht? Eine Narbe, die von seiner Stirn bis zum Kinn reicht?«

Robin nickte aufgeregt. Endlich jemand, der sie verstand.

»Ein sehr großer, brutaler Kerl?«

»Das klingt, als ob du den Mann kennst«, sagte Abbé stirnrunzelnd.

Jeromé schnaubte. »Es wundert mich, daß du ihn nicht kennst, Bruder. Otto. Er ist Gunthar von Elmstatts Waffenmeister. Ein brutaler Kerl. Jeder, der ihn kennt, haßt ihn, oder hat Angst vor ihm. Meistens beides.« Er sah wieder Robin an. »Er war also dabei?«

Robin nickte, sah Abbé, Jeromé und Salim nacheinander und sehr ernst an und machte dann mit dem Daumen eine eindeutige Geste ihre Kehle entlang.

Jeromé sog überrascht die Luft zwischen den Zähnen ein. »Hat er dir das angetan?« fragte er ungläubig. »Otto? Er hat versucht, dir die Kehle durchzuschneiden?«

Robin nickte, aber Bruder Abbé wiegte zweifelnd den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn«, sagte er. »Warum sollte Otto sie töten wollen? Gernot von Elmstatt hat sein Leben riskiert, um die Menschen aus ihrem Dorf zu schützen. Er wurde schwer verletzt, und sein Bruder Gundolf fand sogar den Tod! Warum sollten sie dieses Mädchen umbringen wollen?«

»Das weiß ich nicht.« Jeromé seufzte tief. »Gütiger Gott, wenn sie doch nur reden könnte!«

Robin versuchte es. Sie wußte, daß sie mit Schmerzen dafür würde bezahlen müssen, dennoch bemühte sie sich mit aller Kraft, wenigstens ein einziges Wort hervorzuwürgen - aber das einzige Ergebnis war auch diesmal wieder ein qualvoller Hustenanfall, unter dem sie sich krümmte. Sie sah aus den Augenwinkeln, daß Bruder Tobias auf sie zueilen wollte, von Jeromé jedoch mit einer raschen Bewegung daran gehindert wurde.

»Du willst uns etwas sagen, nicht wahr? Etwas, das wichtig für dich ist.«

Robin nickte, aber sie war nicht ganz sicher, daß Jeromé die Bewegung wirklich als das erkannte, was sie war, denn sie wurde noch immer von einem heftigen Hustenkrampf geschüttelt. Allmählich bekam sie es mit der Angst zu tun. Der Husten wollte nicht aufhören, und irgend etwas in ihrer Kehle schien wieder aufgerissen zu sein, denn sie schmeckte frisches Blut.

»Ich denke, daß das jetzt genug ist«, mischte sich Tobias ein. »Seht ihr nicht, wie schlecht es ihr geht?«

Jeromé wollte abermals auffahren, aber diesmal kam Robin ihm zuvor. Mühsam stemmte sie sich hoch, kämpfte den Hustenanfall mit aller Kraft nieder und streckte die Hand in Jeromés Richtung aus. Der Tempelritter machte zwar ein fragendes Gesicht, hob aber dann die Schultern und kam gehorsam näher. Robin griff mit der rechten Hand nach seinem Rock, zupfte zweimal daran und deutete gleichzeitig wieder auf ihren Hals. Sie schüttelte heftig den Kopf und riß und zerrte weiter an Jeromés Rock.

»Was... was soll das?« fragte Jeromé verwirrt, aber auch in leicht ärgerlichem Ton. Er griff nach ihrer Hand, um sie zur Seite zu schieben, aber Robin riß sich los und fuhr fort, immer hektischere, pantomimische Gesten zu machen.

»Was ist in dich gefahren?« fragte Jeromé. Er klang nun wirklich zornig. Geduld gehörte offenbar nicht zu seinen großen Stärken. »Hast du den Verstand verloren?«

»Warte, Jeromé.« Abbé hob besänftigend die Hand und trat zugleich mit einem raschen Schritt zwischen sie; wohl, um den direkten Blickkontakt zwischen ihnen zu unterbrechen. »Ich glaube fast, ich ... ich weiß, was sie uns sagen will.« Er schüttelte ein paarmal den Kopf. »Aber es fällt mir schwer, zu glauben.«

»Was?« fragte Jeromé scharf.

Abbé ignorierte ihn. »Dieser Mann mit der Narbe im Gesicht«, sagte er. Seine Stimme wurde leiser, aber zugleich auch eindringlicher. Etwas in seinen Augen ... flackerte. »Es war der, der versucht hat, dich zu töten, nicht wahr?«

Robin nickte.

»Aber du willst uns sagen, daß er nicht... zu Gernots Leuten gehörte.« Das winzige Stocken in seiner Stimme war kein Zufall. Abbé blieb äußerlich ruhig, aber Robin spürte, daß es hinter dieser Maske vollkommen anders aussah. Abbé hatte längst begriffen, was sie ihnen sagen wollte - aber er weigerte sich anscheinend mit aller Macht, es sich selbst einzugestehen.

»Was soll das heißen: Nicht zu Gernots Leuten?« fragte Jeromé. »Er ist der Waffenmeister auf Burg Elmstatt!«

»Aber in dieser Nacht war er es nicht«, antwortete Abbé düster. »In der Nacht, in der Robins Dorf überfallen wurde, trug er die gleiche Kleidung wie wir. Die Kleidung eines Tempelritters. Das ist es doch, was du uns sagen willst, oder?«

Robin nickte.

»Das ... das ist unmöglich«, sagte Jeromé. »Sie muß sich irren. Das - oder sie lügt.«

»Welchen Grund sollte sie haben?« Abbé schüttelte müde den Kopf. »Ich fürchte, sie sagt die Wahrheit.«

»Unsinn!« widersprach Jeromé. Er begann heftig zu gestikulieren; vielleicht ein wenig zu heftig. Seine Stimme war zu laut. »Dann phantasiert sie! Sie war dem Tode näher als jeder von uns! Vielleicht hat das Fieber ihren Verstand verwirrt, oder sie hat Angst!«

»Vielleicht sagt sie aber auch die Wahrheit«, sagte Abbé.

»Welchen Sinn sollte das ergeben?« gab Jeromé heftig zurück. »Niemand würde es wagen, sich für einen der unseren auszugeben...«

»...und in der Maske eines Tempelritters ein Gemetzel unter unschuldigen Bauern und Fischern anzurichten?« unterbrach ihn Abbé. »Das stimmt. Niemand, der nicht verrückt ist - oder dem nicht sehr viel daran gelegen ist, uns zu diskreditieren.«

»Aber warum sollte Gunthar von Elmstatt das wollen?« protestierte Jeromé. »Burg Elmstatt und unsere Komturei sind seit langen Jahren in Freundschaft verbunden! Du selbst hast seinem ältesten Sohn die Weihen erteilt, als er in den Orden aufgenommen wurde! Das ergibt... überhaupt keinen Sinn!« Er wies anklagend auf Robin. »Du willst doch Freiherr Gunthar nicht mit einer so ... so ungeheuerlichen Anschuldigung konfrontieren, nur auf das Wort eines Bauernmädchens hin, das niemand von uns kennt!«

»Und das vor zwei Tagen mit durchgeschnittener Kehle praktisch vor unserer Haustür gefunden wurde«, fugte Abbé hinzu, schüttelte aber sofort beruhigend den Kopf, als Jeromé abermals auffahren wollte.

»Natürlich hast du recht«, sagte er rasch. »Es wäre... nicht besonders klug, Gunthar vor den Kopf zu stoßen. Er ist im Moment zornig genug. Trotzdem dürfen wir nicht einfach so tun, als hätten wir Robins Geschichte nicht gehört.« Er überlegte einen Moment. »Gunthar von Elmstatt hat seinen Besuch für heute nachmittag angekündigt, zusammen mit seinem Sohn und einem Zeugen, der den Überfall auf das Dorf überlebt hat. Ich möchte, daß Robin dabei ist.«

»Unmöglich!« sagte Tobias.

»Das ist lächerlich!« sagte Jeromé.

»Natürlich ohne sein Wissen«, fuhr Abbé fort. »In diesem Punkt gebe ich dir recht, Jeromé. Es wäre nicht klug. Selbst wenn sie sprechen könnte - es wäre nur das Wort eines Bauernmädchens gegen das eines Ritters.«

Jeromé schwieg einen Moment, währenddessen er Robin und Abbé finster anstarrte. Aber Robin spürte auch, daß sein Zorn - der keineswegs gespielt war - in Wirklichkeit gar nicht ihr galt und auch nicht Bruder Abbé. Genau wie er hatte Jeromé tief in sich längst begriffen, daß sie die Wahrheit sagte.

»Und was genau hast du vor?« fragte er schließlich.

»Das liegt ganz bei Robin«, antwortete Abbé, nicht nur zu Robins Überraschung. Sie sah ihn fragend an.

»Gunthar von Elmstatt wird heute nach dem Mittagsgebet hierherkommen«, fuhr Abbé fort, nun wieder direkt an sie gewandt. »Fühlst du dich kräftig genug, bei diesem Treffen dabei zu sein? Ich weiß, was ich von dir verlange, aber es ist wichtig. Du mußt keine Angst haben. Er wird dich nicht sehen. Ich möchte auch nicht, daß du irgend etwas tust oder sagst. Du mußt einfach nur zuhören.«

Sowohl Jeromé als auch Tobias spießten ihn mit Blicken regelrecht auf, zwar aus vollkommen unterschiedlichen Gründen, aber beide mit der gleichen Intensität, und auch Robin sträubten sich die Haare allein bei dem Gedanken, dem Mann gegenüberzutreten, der nicht nur versucht hatte sie umzubringen, sondern auch für den Tod ihrer Mutter und noch so vieler anderer verantwortlich war.

Aber schließlich nickte sie.

Загрузка...