KAPITEL 6

Schon am nächsten Tag kehrte sie zu der alten Kapelle zurück. Niemand im Dorf hatte auch nur ein einziges Wort über den Zwischenfall verloren, und das Leben war scheinbar wieder zu seinem gewohnten Ablauf zurückgekehrt.

Für alle - außer für Robin.

Sie hatte noch zweimal versucht, mit ihrer Mutter zu reden, sich aber jedes Mal eine Abfuhr eingehandelt - das zweite Mal in so scharfem Ton, daß sie keine Lust mehr auf einen dritten Versuch verspürte.

Immerhin hatte sie eines begriffen: Niemand im Dorf war an der Wahrheit interessiert. Möglicherweise war sie die einzige hier, die wußte, was in jener Nacht wirklich passiert war. Aber keiner wollte es wissen. Die durchsichtige Lüge, die Bruder Abbé ihnen aufgetischt hatte, war alles, was sie interessierte. Robin glaubte sogar zu verstehen, warum - aber was war mit dem, was ihre Mutter ihr immer und immer wieder über die Wahrheit erzählt hatte? War sie plötzlich nicht mehr das höchste Gut - das einzige, was selbst die Reichen und Mächtigen armen Leuten wie ihnen nicht nehmen konnten?

Vielleicht war sie auch nur deshalb hierher gekommen. Diesmal hatte sie ihre Mutter um Erlaubnis gefragt - und sie zu ihrer Überraschung auch bekommen. Sie hatte gesagt, daß sie frische Blumen auf Helles Grab legen wollte, und ihre Mutter hatte so getan, als ob sie ihr diese Version glaubte, aber sie wußten beide, daß es nicht die Wahrheit war.

Dabei wußte sie nicht einmal selbst genau, warum sie hierhergekommen war. Vielleicht einfach, um allein zu sein.

Carlas Worte - so lächerlich sie ihr im ersten Augenblick vorgekommen waren, gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn.

Hast du ihn geliebt?

Noch vor zwei Tagen hätte sie diese Frage empört zurückgewiesen, aber nun hätte die ehrliche Antwort gelautet: Ich weiß es nicht. War dieser dumpfe Schmerz, der sie jedes Mal überkam, wenn sie an Jan dachte, wirklich nur Trauer oder vielleicht doch mehr? Sie versuchte, sich zu erinnern, was sie in Jans Gegenwart empfunden hatte, mußte sich aber zu ihrem Erschrecken eingestehen, daß sie es nicht konnte.

Liebe...

Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, dann mußte sie gestehen, daß sie gar nicht genau wußte, was dieses Wort bedeutete. Natürlich liebte sie ihre Mutter - aber das war nicht dasselbe. Konnte es denn sein, daß es... verschiedene Arten der Liebe gab? Und wenn es so war - was war dann an dieser anderen Art der Liebe so erstrebenswert, wenn es sich doch um ein Gefühl handelte, dessen man sich erst dann bewußt wurde, wenn man es im Grunde bereits verloren hatte?

Fragen über Fragen, und so wenige Antworten. Sie wußte eigentlich nur eines mit absoluter Sicherheit: daß ihr Leben nicht wieder dasselbe sein würde wie vor dem Tag, an dem sie Jan kennengelernt hatte.

Sie tauschte die Blumen, die sie auf Helles Grab gelegt hatte, gegen frische aus und machte sich auf den Rückweg ins Dorf, um noch vor dem Sonnenuntergang wieder zu Hause zu sein, wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte.

Aber schon am Abend danach kehrte sie zur Kapelle zurück und ebenfalls am folgenden und auch am darauffolgenden. Sie blieb nie lange, einige Minuten nur, gerade lange genug, um einen frischen Blumenstrauß auf das Grab zu legen und einige Augenblicke lang in sich hineinzulauschen. Aber der Schmerz war immer noch da; und ein Sehnen nach etwas, von dem sie nicht einmal wußte, was es war.

Als sie sich von Helles Grab abwandte, sah sie sich ihrer Mutter gegenüber. Sie erschrak. Sie hatte nicht einmal gemerkt, daß ihre Mutter ihr gefolgt war, und sie fragte sich, warum.

»Du solltest damit aufhören, Kind«, sagte ihre Mutter.

Robin wußte sehr genau, was sie meinte. Trotzdem legte sie den Kopf auf die Seite und fragte: »Womit?«

»Dich zu quälen.«

»Ich quäle mich nicht«, behauptete Robin. »Ich bin nur hier, um Helles Grab zu pflegen. Ich habe frische Blumen gebracht.«

Ihre Mutter bedachte das Grab mit einem langen, nachdenklichen Blick. Robin hatte im Laufe der vergangenen vier Tage genug Blumen darauf gehäuft, daß die nähere Umgebung der Kapelle leergepflückt sein mußte.

»Du lügst«, sagte sie ruhig. Sie klang nicht zornig, aber sehr traurig.

»Aber ich...«

»Und das Schlimme ist, du weißt es nicht einmal«, fuhr ihre Mutter leise fort. Sie schüttelte den Kopf, sah sich anscheinend nach einem Platz um, an den sie sich setzen konnte, und beließ es dann bei einem Achselzucken. »Wir müssen miteinander reden, Robin.«

»Warum?«

Ihre Mutter lächelte traurig. Sie antwortete jedoch nicht gleich, sondern drehte sich halb herum und sah erst auf das linke, dann auf das rechte der beiden Gräber hinab, die das Helles flankierten.

»Welches der beiden ist das von Jan?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Robin wahrheitsgemäß. Bei diesen Worten fühlte sie einen dünnen, aber tiefgehenden Stich.

»Das ist schlimm«, sagte ihre Mutter leise. »Arn Grab eines geliebten Menschen zu stehen und nicht zu wissen, ob vielleicht er darin liegt oder der, der für seinen Tod verantwortlich ist...«

»Geliebt? Ich habe ihn ...«

»Natürlich warst du in ihn verliebt«, unterbrach sie ihre Mutter. »Du hast es vielleicht selbst nicht gemerkt, aber du warst es. Und wie könntest du auch nicht? Du bist ein einfaches Mädchen, das noch nie aus seinem Dorf herausgekommen ist, und er war ein Ritter. Ein Mann, der die Welt gesehen hat und der spannende und aufregende Geschichten zu erzählen wußte. Natürlich bist du ihm erlegen.«

»Das bin ich nicht«, antwortete Robin scharf - schärfer, als sie selbst beabsichtigt hatte. Sie dämpfte ihren Ton, fuhr aber trotzdem fort: »Er hat mich nicht angerührt!«

»Das habe ich auch nicht gemeint«, sagte ihre Mutter. »Es wäre schlimm genug, hätte er es getan - aber er hat etwas viel Schlimmeres getan.«

Robin war kurz davor, sich einfach herumzudrehen und ihre Mutter stehenzulassen - ein Gedanke, der so ungeheuerlich war, daß ihr bei der bloßen Vorstellung der Atem stockte.

Und als hätte ihre Mutter ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Ich sehe, du weißt, was ich meine.«

»Nein«, antwortete Robin feindselig. »Ich weiß nur, daß wir dieses Gespräch schon einmal geführt haben.«

»Und daß du da offenbar genausowenig verstanden hast wie jetzt, was ich meine.« Ihre Mutter seufzte. Sie zwang sich zu einem Lächeln und streckte die Hand aus, aber Robin rührte sich nicht von der Stelle. Nach einem Moment ließ sie den Arm enttäuscht wieder sinken.

»Oh, Robin«, seufzte sie. »Glaubst du denn wirklich, daß ich nicht genau wüßte, was du fühlst? Ich weiß es.« Sie zögerte einen winzigen Moment. »Ich weiß es, weil ich dasselbe durchgemacht habe.«

»Du?« fragte Robin erstaunt.

»Ich hatte gehofft, dir dies niemals erzählen zu müssen«, sagte ihre Mutter leise. »Manchmal ist es leichter, Dinge nicht zu wissen, glaube mir. Aber vielleicht stimmt das auch nicht. Vielleicht habe ich nur dasselbe getan wie du und mich selbst belogen.«

»Was ist passiert?« fragte Robin.

»Dasselbe, was dir passiert ist«, antwortete ihre Mutter. »Ich habe einen Mann kennengelernt. Deinen Vater.«

»Den Soldaten?«

»Ja.«

»Aber du hast doch erzählt, daß ihr glücklich miteinander wart!«

»Das waren wir auch«, antwortete ihre Mutter. »Oh ja, ich war glücklich. Es waren die glücklichsten sechs Monate in meinem Leben, glaub mir. Ich möchte sie um nichts auf der Welt missen. Aber ich habe einen sehr hohen Preis dafür bezahlt... vielleicht einen zu hohen. Ich möchte nicht, daß es dir eines Tages genauso ergeht wie mir. Alles, was ich will, ist, dir den gleichen Schmerz zu ersparen, mit dem ich seit fünfzehn Jahren leben muß.«

»Seit fünfzehn Jahren...« wiederholte Robin leise. »Seit dem Tag meiner Geburt, meinst du.«

»Was für ein Unsinn«, antwortete ihre Mutter. »Ganz im Gegenteil - ich weiß nicht, wie ich all diese Jahre ohne dich durchgestanden hätte. Ich weiß, was man sich im Dorf erzählt - daß er mich sitzengelassen hat, nachdem er dich gezeugt hat. Und ich nehme an, du hast das auch gehört.«

Robin reagierte nicht. Niemand hatte es jemals in ihrer Gegenwart so deutlich ausgesprochen, aber natürlich hatte ihre Mutter recht.

»Es ist nicht wahr«, fuhr ihre Mutter fort. »Er hat mich nicht im Stich gelassen. Ich wußte von Anfang an, daß die Männer nur bis zum Frühstück bleiben würden und daß der Soldat mit ihnen gehen würde. Deshalb wurdest du geboren.«

Nun war Robin regelrecht schockiert. Sie starrte ihre Mutter aus aufgerissenen Augen an.

»Es ist die Wahrheit«, bestätigte ihre Mutter. »Alle im Dorf glauben, daß du...« Sie lächelte flüchtig. »... eine Art Unfall warst. Daß ich nicht aufgepaßt habe. Aber es war Absicht. Ich hätte nicht gewußt, wie ich weiterleben sollte, nachdem er fortgegangen war.«

»Warum?«

»Weil er mir dasselbe angetan hat, was du dir im Moment selbst antust, Robin«, antwortete ihre Mutter. »Nicht aus böser Absicht. Der Soldat hätte mir niemals bewußt geschadet. Ich weiß nicht, ob er mich geliebt hat, aber ich weiß, daß er ein sehr sanftmütiger Mann war - obwohl er ein Krieger war. Es war allein mein Fehler.«

»Aber was denn nur?« fragte Robin verstört. Da war etwas wie... wie Zorn in ihr. Aber sie verstand einfach nicht, warum.

»Erinnere dich an Jan«, sagte ihre Mutter, anstatt direkt zu antworten. »Ich weiß, es tut weh, aber versuch es. Erinnere dich an das, was du gefühlt hast, als er dir seine Geschichten erzählt hat.«

»Aber die waren doch... alle nicht wahr«, sagte Robin stockend. Sie versuchte zu lachen, aber es blieb bei dem Versuch. »Er hat sich doch alles nur ausgedacht.«

»Das spielt keine Rolle«, behauptete ihre Mutter. »Trotzdem wolltest du diese Welt kennenlernen. Du hättest alles darum gegeben, sie nur ein einziges Mal zu sehen. Und du willst es immer noch. Dieser Junge hat deine Seele vergiftet, Robin. So wie der Soldat die meine. Es war keine böse Absicht. Ich bin sicher, daß Jan ein guter Mensch war, der dir nicht schaden wollte. Aber er hat es getan.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Es ist auch nicht zu verstehen«, sagte ihre Mutter traurig. »Du haderst mit deinem Schicksal, Kind. Ich hatte gehofft, daß dieser Moment nie kommt, aber vielleicht war diese Hoffnung naiv. Du bist jetzt kein Kind mehr, Robin. Bisher warst du mit dem Leben zufrieden, das du führst - das wir alle führen. Es ist ein einfaches Leben, aber du hast nie etwas anderes kennengelernt, und deshalb warst du zufrieden damit. Jan hat dir gezeigt, daß es noch mehr gibt, und es ist nur natürlich, daß du dich zu fragen beginnst, warum du nicht dieses andere Leben führen kannst.«

»Was ist so schlimm daran?« fragte Robin. Das Gespräch begann ihr immer unangenehmer zu werden. Sie wußte im Grunde längst, worüber ihre Mutter sprach.

»Du quälst dich nur selbst, Robin«, sagte ihre Mutter. »Die Wahrheit tut manchmal weh. Das hier ist unsere Welt, Robin. Unser Dorf, dieses Land... es ist der Platz, den Gott uns zugewiesen hat, und es steht uns nicht zu, seinen Willen in Frage zu stellen. Du wirst nur Schmerz und Leid finden, wenn du versuchst, dich ihm zu widersetzen. Ich habe es versucht, und ich habe mehr Schmerz gefunden, als ich dir jemals erzählt habe. Das möchte ich dir ersparen.«

Diese Worte entsprachen der Wahrheit, das spürte Robin genau. Aber genauso sicher spürte sie, daß es bereits zu spät war. Wenn Jan wirklich ihre Seele vergiftet hatte, wie ihre Mutter behauptete, dann tat dieses Gift bereits seine Wirkung.

Aber das wollte sie nicht glauben. Ihre Mutter sagte zweifellos die Wahrheit von ihrem Standpunkt aus. Aber es war gerade dieser Standpunkt, den Robin weder akzeptieren konnte noch wollte. Ihrer Mutter war weh getan worden, sehr weh, und vielleicht konnte sie gar nicht mehr anders, als sich verbittert zurückzuziehen.

Was Jan ihr gezeigt hatte, war jedoch etwas vollkommen anderes. Ihre Mutter glaubte, daß sie mit dem Schicksal haderte, aber das stimmte nicht. Nicht so, wie sie selbst es seit fünfzehn Jahren tat. Ihre Mutter war unzufrieden mit ihrem Leben. Sie hatte Jahrzehnte der Gleichförmigkeit hinter sich, Jahre und Jahre und Jahre, in denen die einzige Abwechslung der Wandel der Jahreszeiten war und in denen es einen einzigen, flüchtigen Höhepunkt gegeben hatte, das Liebesabenteuer mit dem englischen Soldaten.

Aber sie fühlte sich anders. Sie haderte nicht mit dem Schicksal, wie ihre Mutter es ausgedrückt hatte - sie glaubte einfach nicht, daß es eine übergeordnete Macht im Universum gab, die jedem Menschen seinen festen Platz im Leben zugewiesen hatte. Sie war nicht bereit, sich damit abzufinden, und das war ein Unterschied.

»Je eher du verstehst, daß es sinnlos ist, sich gegen das Unvermeidliche aufzulehnen, desto leichter wird es für dich, glaub mir«, sagte ihre Mutter sanft. »Was du jetzt spürst, ist ganz normal. Du hast einen geliebten Menschen verloren, und du trauerst um ihn, aber du bist auch zornig. Der Schmerz wird vergehen, und es wird nicht das letzte Mal sein, daß du ihn spürst.«

Und plötzlich war der Zorn verflogen. Robin sah ihre Mutter an, und alles, was sie noch fühlte, war Mitleid. Es war nicht gerecht von ihr gewesen, zornig auf ihre Mutter zu sein, und sie schämte sich ihrer eigenen Gedanken.

»Ich möchte nicht, daß du weiter hierherkommst«, fuhr ihre Mutter nach einer Weile fort. »Ich verbiete es dir nicht. Du bist zu alt, als daß ich das könnte. Aber es... wäre besser, wenn du es nicht mehr tätest. Willst du mir das versprechen?«

Robin zögerte lange, ehe sie nickte, aber schließlich tat sie es. Sie wußte nicht einmal, ob sie dieses Versprechen wirklich halten würde, aber sie spürte, wieviel es ihrer Mutter in diesem Moment bedeutete.

»Darf ich noch... ein wenig bleiben?« fragte sie stockend.

»Aber natürlich«, erwiderte ihre Mutter mit einem warmen Lächeln. »Bleib ruhig, solange du willst, und nimm Abschied von deinen Freunden. Ich werde mit dem Essen auf dich warten.«

Und damit wandte sie sich um und ging mit raschen Schritten in Richtung Dorf davon. Robin sah ihr verwirrt nach. Daß die letzten Worte ihrer Mutter etwas so Gewöhnlichem wie dem Abendessen gegolten hatten, erschien ihr unangemessen, aber dann wurde ihr klar, warum sie das getan hatte: Es war die Rückkehr zur Normalität, zu ihrem täglichen, genau festgelegten Tagesablauf, in dem kein Platz für fremde Ritter, exotische Länder und ausgedachte Abenteuer war, und auch nicht für englische Soldaten.

Vielleicht wäre es das beste, wenn sie ihrer Mutter jetzt sofort folgte. Robin war klar, daß sie insgeheim darauf wartete. Statt dessen blieb sie einfach stehen und sah zu, wie die Gestalt ihrer Mutter allmählich kleiner wurde und dann mit dem grünen Schatten des Hains auf halber Strecke verschmolz.

Es war das letzte Mal, daß sie ihre Mutter sehen sollte. Hätte sie es in diesem Moment geahnt, dann wäre sie ihr nachgelaufen. So aber wartete sie einfach ab, wandte sich dann um und ging nach kurzem Zögern zur Kapelle hinüber. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, nicht mehr hierherzukommen, und auch wenn sie ahnte, daß sie dieses Versprechen auf die Dauer nicht halten würde, so würde sie zumindest für lange Zeit nicht hierher zurückkehren, Wochen, wenn nicht Monate - eine Ewigkeit, wenn man fünfzehn war und gerade angefangen hatte, das Leben zu entdecken. Doch nun wollte sie noch einmal die Kapelle sehen, um die kostbaren Erinnerungen, so grausam sie auch gewesen sein mochten, für alle Zeiten in sich einzuschließen.

In der Kapelle schien die Nacht bereits hereingebrochen zu sein. Es war spürbar kälter als draußen, und durch die schmalen, noch dazu zum Teil mit Brettern vernagelten Fenster drang nur wenig Sommerlicht in schrägen Bahnen herein, in denen der Staub tanzte wie eine Armee winziger Elfen und Feen. Robin wußte natürlich, daß es hier drinnen immer dunkler war als draußen, sogar an einem heißen Sommertag, aber heute erschien ihr diese Düsternis - die von den Erbauern dieses Gebäudes zweifellos beabsichtigt gewesen war - wie ein böses Omen, ein Vorbote aufkommendes, noch größeres Unheil als das, das diesen Ort bereits heimgesucht hatte.

Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. Im Gegenteil - der Versuch schien es nur schlimmer zu machen, als hätte sie unabsichtlich an etwas tief in sich gerührt, das nun erwacht war und mit jedem Moment an Stärke zunahm.

Was war das? dachte sie verwirrt. Spürte sie nun die Gewalt und den Tod, die diesen Ort heimgesucht hatten, oder fühlte sie tatsächlich eine drohende, neue Gefahr, die sich über ihr zusammenballte?

Es wäre nicht das erste Mal.

Vor zwei Jahren, als sich Malte selbst mit dem Beil ins Bein gehackt hatte, da hatte sie es vorher gespürt; nicht genau was, aber daß etwas passieren würde, etwas Schlimmes, das mit Schmerzen und Blut und großer Aufregung zu tun hatte. Und im darauffolgenden Herbst, als Geros Scheune abbrannte, war sie eine Stunde zuvor mit klopfendem Herzen und schweißgebadet aufgewacht, ohne zu wissen, warum. Sie hatte sogar gewußt, daß das Feuer nicht auf den Rest des Dorfes übergreifen würde, wie eine Zeitlang alle befürchteten. Und sie hatte davor und danach eine Anzahl anderer, kleinerer Unglücksfälle vorausgeahnt - ein- oder zweimal sogar früh genug, um sie verhindern zu können. Jedenfalls nahm sie das an. Da ja nichts passiert war, hatte sie keinen Beweis dafür, daß etwas passiert wäre. Tatsache aber war, daß sie offenbar - wenn auch nur in begrenztem Maße - über die Gabe verfügte, kommendes Unheil vorauszusehen. Es geschah nicht oft, was zu einem Gutteil daran liegen mochte, daß das Dorf in seiner isolierten Lage von all den größeren und kleineren Katastrophen weitestgehend verschont blieb, die die Welt draußen heimsuchen mochten, aber es geschah.

Robin hatte niemals mit irgend jemandem über diese Gabe gesprochen, nicht einmal mit ihrer Mutter. Zum einen, weil es für sie gar nichts Besonderes war und sie anfangs glaubte, daß es jedem Menschen so erginge, zum größeren Teil aber wohl, weil ihr schon sehr früh klargeworden war, daß die Menschen Furcht vor allem empfanden, was fremd war, und je weniger sie es verstanden, um so größer war die Furcht. So hatte sie zum Beispiel einmal ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und einigen anderen belauscht, bei dem es um eine Frau aus dem Nachbardorf ging, die angeblich das zweite Gesicht haben sollte. Robin hatte damals nicht einmal gewußt, was das bedeutete, aber ihr war sehr wohl aufgefallen, daß ihre Mutter und die anderen zwar gelacht und ihre Scherze gemacht hatten, sich aber auch ein sachter Unterton vor Furcht in ihre Stimmen geschlichen hatte. Auch das Wort Hexe - so glaubte sie sich zu erinnern - war ein paarmal gefallen. Das mußte nicht unbedingt etwas bedeuten; niemand mochte die Leute aus dem Nachbardorf, und es gab für den Tratsch im Ort nichts Schöneres, als schlecht über sie zu sprechen. Trotzdem hatte Robin ihre Lehre aus diesem Gespräch gezogen. Es war besser, wenn niemand von ihrer Gabe erfuhr. Das Zweite Gesicht - mittlerweile wußte sie, was damit gemeint war - mochte ja ganz praktisch sein, aber wer würde schon jemanden mögen, der stets nur Unheil voraussagte? Außerdem meldete sich ihr sechster Sinn in letzter Zeit immer seltener. Und an jenem schrecklichen Abend, an dem Jan gestorben war, hatte er sie sogar ganz im Stich gelassen, so daß sie schon fast angefangen hatte, ihn zu vergessen.

Nun aber war er wieder da; so intensiv, als stünde jemand hinter ihr und flüstere ihr unverständliche, aber düstere Worte ins Ohr.

Etwas würde geschehen.

Etwas Schreckliches.

Bald.

Robin rieb sich fröstelnd die nackten Oberarme. Durch das dicke Mauerwerk und die kleinen Fenster war es hier drinnen nicht nur stets dunkler, sondern auch kühler als draußen, aber plötzlich schien es regelrecht kalt zu sein, als hätte sich in den Schatten jenseits des schräg einfallenden Sonnenlichts eine unsichtbare Tür in den Winter geöffnet, durch die nun ein eisiger Luftzug zu ihr herüberwehte. Sie versuchte, diese Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, um sich selbst davon zu überzeugen, wie absurd diese Vorstellung war, aber es gelang ihr nicht.

Vorsichtig bewegte sie sich weiter in die Kapelle hinein. Als sie am Fenster vorbeiging, spürte sie tatsächlich die Wärme des Sonnenlichtes auf dem Gesicht, was ihr die zuvor empfundene Kälte noch bewußter machte. Unter ihren Füßen klapperte zerbrochenes Holz, dann stieß sie gegen etwas aus Metall, das mit einem leisen Klimpern davonrollte. Sie versuchte, ihm mit Blicken zu folgen, ließ sich in die Hocke sinken und sah ein flüchtiges, goldfarbenes Aufblitzen unter den Überresten einer zerbrochenen Bank. Sie tastete danach, zog die Hand wieder hervor und hielt eine kleine, goldene Münze in den Fingern. Vermutlich hatte Bruder Abbé sie verloren, als er in aller Hast seine Sachen zusammengerafft hatte.

Robin richtete sich wieder auf und drehte sich zum Fenster um, und als sie durch die schmalen Lücken zwischen den Brettern nach draußen sah, da wußte sie, daß ihr Gefühl sie diesmal nicht getrogen hatte.

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