KAPITEL 3

Ihre Annäherung blieb nicht unbemerkt. Obwohl die meisten Dorfbewohner kurz nach der Abenddämmerung zu Bett gingen, kam ihnen eine kleine Abordnung der Bewohner entgegen, als sie sich den ersten Häusern näherten - unter ihnen auch Robins Mutter, die ob der Verspätung ihrer Tochter offenbar schon in großer Sorge gewesen war. Außer ihr gehörten noch ein gutes halbes Dutzend weiterer Männer und Frauen zu der kleinen Abordnung, die Robin und Abbé fünfzig Schritte vor den ersten Häusern erwartete. Die meisten hielten brennende Fackeln in den Händen. In ihrem hell flackernden Licht erkannte Robin nicht nur besorgte Gesichter, sondern auch mindestens zwei bewaffnete Männer, eine Tatsache, die auch Bruder Abbé keineswegs entgehen konnte: Gero, Geses Mann, hatte einen armlangen Knüppel dabei, durch dessen oberes Ende er eine Anzahl langer Nägel getrieben hatte, und der Bauer Hark hatte sich passender Weise mit einem Dreschflegel bewaffnet.

Sie warf einen raschen Blick zu Bruder Abbé hinüber. Der Tempelritter schien völlig gleichmütig, aber er konnte nicht vollkommen verhindern, daß sich ein dünnes, verächtliches Lächeln auf seine Lippen stahl. Sie mußte daran denken, wie mühelos er Olof getötet hatte, nachdem er erst einmal wieder im Besitz seines Schwertes gewesen war, und sie war plötzlich sicher, daß er selbst jetzt, verletzt wie er war, ganz allein das halbe Dutzend Männer und Frauen erschlagen könnte.

Leider fürchtete sie auch, daß ihm der Tod einiger einfacher Bauern nicht besonders nahegehen würde ...

Als sie dicht genug heran waren, um ins Licht der Fackeln zu reiten, machte sich Unruhe unter den Dorfbewohnern breit. Robin sah, wie ihre Mutter erschrocken zusammenfuhr, die Hand vor dem Mund schlug und unverzüglich auf sie losrennen wollte, aber von Hark daran gehindert wurde. Auch auf den Gesichtern der anderen machten sich die unterschiedlichsten Emotionen breit: Erstaunen, Überraschung, zum allergrößten Teil aber Schrecken und Furcht.

Sie mußten auch einen erschreckenden Anblick bieten, wie sie so aus der Dunkelheit auftauchten. Robins Gesicht und auch ihr Gewand waren voller eingetrocknetem Blut und Schmutz. Quer vor ihr lag ein Toter über dem Pferderücken, und auch Bruder Abbé hatte eine häßliche, dick verkrustete Platzwunde an der Schläfe. Dazu begann sein Gesicht nun deutlich anzuschwellen und sich in allen nur denkbaren Schattierungen blaugrün zu färben. Trotzdem bot der Tempelritter in seinem Wappenrock und hoch oben auf dem Rücken seines gewaltigen Schlachtrosses einen beeindruckenden Anblick. Das flackernde rote Licht der Fackeln schien seine ganze Gestalt in Blut zu tauchen, so daß er trotz des Kreuzsymbols auf seiner Brust mehr wie ein Dämon aussah, der direkt aus dem Schlund der Hölle geritten kam, aber keinesfalls wie ein Krieger Gottes.

Dasselbe mußte auch für sie gelten, denn der Schrecken, mit dem Hark und die anderen - einschließlich ihrer Mutter! - sie musterten, beinhaltete kein Mitgefühl, sondern eher das Entsetzen von Menschen, die sich plötzlich und unerwartet mit dem Leibhaftigen konfrontiert sehen.

Ihre Mutter beherrschte sich, bis Robin und der Tempelritter fast vor ihr waren, dann aber machte sie sich gewaltsam aus Harks Griff los und stürmte auf sie zu. »Robin!« schrie sie. »Großer Gott, Robin! Was ist geschehen?!«

Abbé hielt sie mit einer herrischen Geste zurück und warf Robin einen raschen, eindeutig drohenden Blick zu, ehe er sich an ihre Mutter wandte: »Seid Ihr seine Mutter, Weib?«

»Robin ist meine Tochter, ja«, antwortete Robins Mutter. In ihren Augen blickte es kampfeslustig auf. Weder Abbés Kleid noch sein überheblicher Ton schien sie in diesem Moment sonderlich zu beeindrucken.

Abbé blinzelte überrascht und warf Robin einen schnellen, völlig verwirrten Blick zu. »Eure ... Tochter?«

»Was habt ihr mit ihr gemacht?« fragte Robins Mutter erregt. »Was habt Ihr ihr angetan?«

»Hüte deine Zunge, Weib«, sagte Abbé kühl. »Deiner Tochter ist nichts geschehen.«

»Aber all das Blut...«

»...ist nicht ihres.« Abbés Stimme wurde schneidend. »Es ist das Blut meines treuen Knappen, der sein Leben geopfert hat, um meines zu beschützen. Und so ganz nebenbei auch das deiner Tochter, Weib.«

Robins Mutter schwieg. Sie war kein bißchen beruhigt, aber offensichtlich hatte Abbé sie nun doch eingeschüchtert. Ihr Blick irrte unstet zwischen Robins Gesicht und dem des Tempelritters hin und her, doch bevor sie weitersprechen konnte, sagte Robin rasch: »Er sagt die Wahrheit, Mutter. Ich bin nicht verletzt. Nur ein Kratzer. Aber ich wäre tot, wenn er nicht gewesen wäre.«

»Danke, Robin«, sagte Abbé spöttisch. »Ich bin wirklich froh, daß du meine Version bestätigst.« Er wandte sich an das halbe Dutzend Männer und Frauen, das noch immer in einigen Schritten Entfernung dastand und ihn mißtrauisch beäugte. »Wer von euch hat hier das Sagen?«

Im allerersten Moment rührte sich niemand, dann aber trat Gero zögernd vor und sagte: »Wir haben keinen Dorfschulzen, wenn Ihr das meint, hoher Herr. Aber Ihr... könnt mit mir reden, wenn Ihr es wünscht.«

Abbé antwortete erst einmal gar nicht, sondern starrte mit schräg gehaltenem Kopf den nagelbesetzten Knüppel an, den Gero noch immer in der Hand hielt. Als dieser seinen Blick bemerkte, ließ er seine improvisierte Waffe hastig sinken. Robin hatte das Gefühl, daß er sie am liebsten hinter dem Rücken versteckt hätte, wie ein Kind, das einen Apfel gestohlen hatte und auffrischer Tat ertappt worden war.

»Nun, dann werde ich das tun«, sagte Bruder Abbé schließlich. »Aber nicht hier.« Er wies auf Robins Mutter. »Deine ... Tochter hat eine Menge Gutes über dich erzählt. Und ich brauche einen Ort, um mich ein wenig auszuruhen ... Welches Haus ist deines?«

»Gleich das erste links«, antwortete Robins Mutter automatisch. »Aber was... ?«

»Also gut, dann treffen wir uns dort«, sagte Bruder Abbé. Er deutete auf Gero. »Du kommst ebenfalls. Und falls es außer dir noch jemanden in eurem Dorf gibt, mit dem ich reden kann, soll er auch kommen.«

Damit ritt er weiter und nahm auch Robins Pferd am Zügel mit, so daß ihre Mutter hastig aus dem Weg springen mußte, um nicht über den Haufen geritten zu werden. Sie erreichten das Dorf, das nur aus einer kurzen Straße und einer Handvoll einfacher Häuser bestand, die sich rechts und links davon zusammendrängten, obwohl es ringsum Platz im Überfluß gab. Die Nachricht von ihrem Kommen schien bereits die Runde gemacht zu haben, denn nun brannte in den meisten Häusern Licht. Nahezu das ganze Dorf war auf den Beinen, aber nur sehr wenige wagten es, ihnen nahe zu kommen.

Abbé lenkte sein Pferd zu dem Haus, das Robins Mutter ihm bezeichnet hatte, stieg aus dem Sattel und winkte den am nächsten stehenden Mann herbei. »Du gibst auf die Pferde acht«, sagte er barsch. »Bring ihnen zu trinken, und Hafer. Ich habe noch einen langen Weg vor mir.«

Er drehte sich zu Robin um und erwartete ganz offensichtlich, daß sie aus dem Sattel stieg, machte aber diesmal keine Anstalten, ihr irgendwie zu helfen. Robin kletterte umständlich vom Rücken des Pferdes. Da sie vor allem darauf achtete, Jans toten Körper nicht zu berühren, stellte sie sich weitaus ungeschickter an, als sie andernfalls vermocht hätte, und wäre beinahe gestürzt. Nur mit einem hastigen Schritt zur Seite fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Bruder Abbé sah ihr kopfschüttelnd zu, enthielt sich aber jeden Kommentars, sondern machte nur eine Geste zur Tür.

Robin betrat das Haus als erste. Bruder Abbé folgte ihr dichtauf. Obwohl er nicht besonders groß war, mußte er sich bücken, um sich nicht an der niedrigen Tür zu stoßen. Drinnen angekommen, drehte er sich einmal um seine Achse und unterzog dabei das Innere der Hütte einer schnellen, aber sehr aufmerksamen Musterung.

»Hier lebst du also«, sagte er.

Robin spürte, wie ihr Schamesröte ins Gesicht stieg. Abbés Stimme war vollkommen ausdruckslos; es war weder Spott noch Überheblichkeit darin. Dennoch machte die Hütte auf ihn bestimmt einen erbärmlichen Eindruck. Vermutlich war er sogar entsetzt. Immerhin war er ein Ritter, wahrscheinlich unermeßlich reich, und aß nur von goldenen Tellern und schlief auf Betten aus feinstem Linnen.

Die Hütte bestand aus einem einzigen, nicht sehr großen Raum. Es gab einen Tisch mit einer Bank und zwei niedrigen Schemeln sowie eine große, hölzerne Truhe, in der Robins Mutter ihre wenigen Habseligkeiten verwahrte. Als Bett diente eine breite Ofenbank, auf der zwei strohgefüllte Säcke und einige Decken lagen, und damit erschöpfte sich die Einrichtung auch schon fast. Einziger Zierat waren das schlichte Holzkreuz über der Tür sowie ein runder, lederbezogener Schild und ein Schwert in einer groben, hölzernen Scheide, die über der Ofenbank an der Wand hingen.

Robin schämte sich ihres Zuhauses immer stärker. Sie wußte, daß sie arm waren, aber da nur wenige im Dorf wesentlich wohlhabender als ihre Mutter waren - oder gar reich! -, hatte ihr das bisher nichts ausgemacht. Jetzt wünschte sie sich fast, im Boden versinken zu können.

»Ein eigenartiger Wandschmuck für eine Witwe, die allein mit ihrer Tochter lebt«, sagte Abbé, während er nachdenklich Schild und Schwert an der Wand betrachtete.

»Das hat meinem Vater gehört«, sagte Robin. Der Soldat hatte seine Waffen damals zurückgelassen, als er und seine Kameraden das Dorf wieder verließen. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, daß er ihr geraten hatte, sie zu verkaufen, falls sie einmal in Not geraten sollte, denn obwohl es sich um einfache Waffen handelte, stellten sie doch einen enormen Wert dar. Sie hatten seither mehr als ein schlechtes Jahr erlebt, aber ihre Mutter hatte niemals auch nur daran gedacht, diese Waffen zu verkaufen.

»Dein Vater«, sagte Abbé nachdenklich. »Das sind englische Waffen... daher auch der Name. Robin. Sag, Kind - habt ihr einen Pfarrer in eurem Ort?«

»Nein.«

»Und natürlich auch keine Kirche.« Bruder Abbé seufzte. »Großer Gott - und wir ziehen ins Heilige Land, um dort Gottes Wort zu verkünden!«

Robin verstand nicht wirklich, was er damit meinte, aber sie spürte sehr wohl die verletzende Absicht dahinter, und das machte sie wütend. Der Tempelritter wußte rein gar nichts über sie und ihr Leben und erst recht nicht über das ihrer Mutter. Wieso maßte er sich an, über sie zu richten?

Sie war so zornig, daß sie diesen Gedanken vielleicht sogar laut ausgesprochen hätte, wäre nicht in diesem Moment die Tür aufgegangen und ihre Mutter hereingekommen, gefolgt von Gero, Hark und der alten Janna, die zwar nicht ihr gewähltes Oberhaupt war, wohl aber die Dorfälteste und dazu eine sehr kluge, alte Frau.

Abbé drehte sich zu ihnen herum und trat dann zwei Schritte zurück, um den Eintretenden Platz zu machen. Trotzdem herrschte in der Hütte eine fast drückende Enge, als Hark die Tür hinter sich schloß. Das Haus war wirklich nicht sehr groß.

»Gut, daß ihr kommt«, sagte Abbé, bevor einer der anderen das Wort ergreifen konnte. »Ich brauche Wasser. Und ein sauberes Tuch.«

Während Robins Mutter eine Holzschale auf den Tisch stellte und zum anderen Ende des Raumes eilte, um Wasser aus dem Eimer zu schöpfen, der dort immer stand, nahm Abbé am Tisch Platz und begann den Ärmel seines Kettenhemdes hochzustreifen. Robin sah jetzt erst, daß Blut durch das feinmaschige Kettengewebe tropfte. Der Verband, den er darunter trug, war naß und schwer geworden.

»Ihr seid verletzt, Herr!« sagte Hark erschrocken.

»So etwas kommt vor, wenn man gezwungen ist zu kämpfen«, antwortete Abbé gleichmütig. Er löste den Verband, und der Stoffstreifen fiel mit einem schweren Klatschen auf den Tisch. Die Stichwunde darunter blutete noch immer, und das erschreckend heftig. Robin warf einen prüfenden Blick in sein Gesicht. Sie fand, daß er jetzt deutlich blasser war als vorhin in der Kapelle. Er mußte eine Menge Blut verloren haben.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte Gero besorgt. »Ich werde meine Frau rufen. Sie versteht sich auf die Behandlung von Wunden.«

»Bleib«, sagte Abbé rasch. »So schlimm ist es nicht. Ich werde die Wunde reinigen und einen festen Verband anlegen, das muß reichen.«

Robins Mutter kam zurück, goß Wasser in die Schale und reichte dem Tempelritter ein sauberes Tuch. Dabei betrachtete sie die Wunde in Abbés Arm stirnrunzelnd. Dann wandte sie sich um, ging zu ihrer Truhe und kam mit einem kleinen Beutel aus Tuch zurück.

»Legt diese Blätter auf die Wunder, Herr«, sagte sie. »Sie lindern den Schmerz, und sie verhindern, daß Ihr Wundbrand bekommt.«

Abbé nahm den Beutel zwar entgegen, öffnete ihn aber nicht, sondern wog ihn nachdenklich in der unversehrten Hand. »Was bist du, Weib?« fragte er. »Eine Hexe?«

»Nur eine Frau, die die heilenden Kräfte von Gottes Natur kennt«, sagte Janna, bevor Robins Mutter antworten konnte. Nach einer viel zu langen Pause, um das Wort zu irgend etwas anderem als Spott werden zu lassen, fügte sie hinzu: »Herr.«

In Bruder Abbés Augen blitzte es für einen Moment auf, aber Robin vermochte nicht zu sagen, ob es Zorn oder widerwillige Anerkennung war. Schließlich lächelte er nur, tauchte das Ende des Stoffstreifens, den Robins Mutter ihm gegeben hatte, ins Wasser und begann seine Wunde zu reinigen. Es mußte ziemlich weh tun. Trotzdem zuckte er nicht einmal mit der Wimper.

Hark räusperte sich unbehaglich. »Verzeiht, Hoher Herr«, sagte er. »Ich will nicht drängen, aber was... was ist geschehen? Ihr seid verletzt, und Robin ist voller Blut, und draußen auf Eurem Pferd liegt ein Toter.«

»Und wenn ihr zu der alten Kapelle südlich eures Dorfes geht, dann werdet ihr zwei weitere Tote finden«, sagte Abbé ruhig. »Einen tollwütigen Hund und eine arme Frau, die wohl sein erstes Opfer war.«

Hark und Gero tauschten einen erschrockenen Blick, und Bruder Abbé fuhr fort: »Jan und ich waren auf dem Weg zur Komturei. Es war spät geworden, unsere Pferde waren müde, und wir waren hungrig, als wir die Lichter eures Dorfes sahen. Also beschlossen wir, hier einzukehren und euch um ein Nachtlager zu bitten. Auf halbem Wege kamen wir an der alten Kapelle vorbei, und mein Knappe wollte absitzen und ein Gebet sprechen. Aber kaum hatten wir die Kapelle betreten, da wurden wir angegriffen. Ich wurde niedergeschlagen, und Jan...«

Er schwieg einen Moment, und in dieser Zeit traten ein Schmerz und eine Leere in seinen Blick, die beinahe auch Robin überzeugt hätten. Eines war er auf jeden Fall: ein sehr guter Schauspieler.

»Als ich wieder zu mir kam, war Jan bereits tot«, fuhr Bruder Abbé fort. »Er hatte keine Chance, denn er war waffenlos und wohl genauso überrascht wie ich. Dieser Verrückte hätte sicherlich auch mich getötet, hätte er richtig getroffen.« Er hob seinen verwundeten Arm. »So bekam ich die Gelegenheit, mein Schwert zu ziehen. Ich habe ihn erschlagen. Leider zu spät, wie sich herausstellte. Nachdem ich eine Kerze gefunden und angezündet hatte, fand ich eine tote Frau. Sie wurde mit der gleichen Mistgabel erstochen, der auch mein Knappe zum Opfer fiel - und um ein Haar ich selbst.« Er deutete auf Robin. »Dieses Mädchen lag unter einem Baum, nur ein paar Schritte von der Kapelle entfernt. Es war bewußtlos. Auf dem Weg zurück erzählte es mir, daß es gesehen hat, wie dieser Wahnsinnige die Frau mit einer Mistgabel in der Hand verfolgt hat. Sie wollte ihr wohl helfen und hätte um ein Haar selbst mit dem Leben dafür bezahlt.«

Er brachte es wirklich fertig, Robin ein warmes, fast väterliches Lächeln zu schenken, und nicht nur er, sondern auch alle anderen starrten sie fragend und bestürzt an. Niemand wagte es, etwas zu sagen oder Abbés Geschichte gar durch eine entsprechende Frage in Zweifel zu ziehen, aber sie spürte, daß wohl jeder etwas ganz Bestimmtes von ihr erwartete; Bruder Abbé eingeschlossen.

Aber sie war gar nicht fähig, sofort zu antworten. Sie konnte den Tempelritter einfach nur fassungslos anstarren. Sie wußte so gut wie nichts über Bruder Abbé, aber immerhin war ihr klar, daß er über einen scharfen Verstand und große Klugheit verfugte. Die Geschichte aber, die er nun erzählte, war so durchsichtig, daß nicht einmal die achtjährige Tochter Geses sie geglaubt hätte. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, daß Abbé keineswegs aus Dummheit so schlecht log. Er machte sich gar nicht die Mühe, sich eine überzeugendere Geschichte einfallen zu lassen. Ja, mehr noch: Sie hatte beinahe das Gefühl, daß der Tempelritter wollte, daß seine Lüge durchschaut wurde. Aber warum?

»Ich habe Helle schreien gehört«, sagte sie, lahm und erst, als ihr Schweigen bereits drückend zu werden begann. »Ich war im Wald, um Pilze zu sammeln. Helle rannte davon, und dann... habe ich gesehen, daß Olof sie verfolgt hat. Er hat seine Mistgabel geschwenkt und immer wieder geschrien. Ich... ich glaube, er war betrunken. Ich wollte Helle helfen, aber da hat er mich niedergeschlagen. An mehr erinnere ich mich nicht. Ich... hatte Angst.«

Hark starrte sie verwirrt an. Der Blick ihrer Mutter sprach Bände, aber Abbé sah sie durchdringend an und nickte fast unmerklich. Gut gemacht. Aber bleibe dabei, und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.

»Olof«, murmelte Gero. »Großer Gott, wir... wir wußten, daß er gefährlich war, aber keiner von uns hätte ... hätte mit so etwas gerechnet.«

Hark fiel auf die Knie. Er zitterte vor Nervosität, vielleicht auch vor Angst. »Bitte verzeiht uns, Herr«, sagte er. »Olof war ein schlechter Mann, aber ich bitte Euch, schließt nicht von ihm auf uns alle!«

»Verzeihen?« Abbé wirkte ehrlich verwirrt. »Aber was denn? Ihr habt nichts getan.«

»Es war immerhin ein Mann aus unserem Dorf, der Euch angegriffen hat«, sagte Gero nervös.

»Ein Mann aus eurem Dorf...« Abbé nickte nachdenklich. Dann sah er der Reihe nach erst ihn, dann Hark und etwas länger die alte Janna an. »Das ist wohl wahr... aber sagt: Wie viele Einwohner hat euer Dorf?«

»Achtund...«, begann Gero, stockte einen Moment und verbesserte sich dann: »Sechsundvierzig, jetzt wo Helle und Olof tot sind.«

»Sechsundvierzig«, wiederholte Abbé. »Nun, guter Mann, sagt mir eines: Was sollte mir das Recht geben, über sechsundvierzig gute Menschen den Stab zu brechen, nur weil einer von ihnen offenbar vom Teufel besessen war?«

Robin sah aus den Augenwinkeln, wie Gero heftig zusammenfuhr. Der Tempelritter hatte diese Formulierung nicht durch Zufall gewählt, da war sie sicher. Sie glaubte nicht, daß Bruder Abbé überhaupt irgend etwas zufällig tat oder gar gedankenlos.

Nachdem Abbé sich durch einen weiteren Blick in die Runde davon überzeugt hatte, daß seine Worte auch die beabsichtigte Wirkung erzielt hatten, fuhr er in etwas versöhnlicherem Ton fort: »Werft ihr einen Korb voller Äpfel weg, nur weil einer von ihnen faul ist? Wohl kaum.«

Auf Geros Gesicht begann sich so etwas wie Erleichterung breitzumachen. Trotzdem sagte er: »Aber der Angriff auf einen Tempelritter...«

»... ist ein todeswürdiges Verbrechen«, fiel ihm Abbé ins Wort. »Es wurde mit dem Tod des Angreifers gesühnt. Belassen wir es dabei. Wenn ihr Buße tun wollt, so opfert der Jungfrau Maria und betet fünfzig Vaterunser an jedem Tag in den nächsten vier Wochen. Von meiner Seite aus ist der Zwischenfall damit erledigt.«

Er stand auf und schüttelte mit einer raschen Bewegung den Ärmel seines Kettenhemdes wieder herunter. »Und nun entschuldigt mich bitte - auch ich bin nur ein sterblicher Mensch, der dann und wann auf die Bedürfnisse seines Körpers hören muß. Sechsundvierzig Einwohner... ich nehme an, dann braucht ihr kein Gasthaus?«

»Nein«, antwortete Gero. »Aber Ihr könnt bei mir schlafen, wenn Euch mein Heim nicht zu bescheiden ist. Ich habe das größte Haus im Ort!«

»Gott liebt die Bescheidenen«, antwortete Bruder Abbé lächelnd. Er war wirklich sehr blaß. Seine Hände zitterten leicht. Offenbar hatte er sehr viel mehr Blut verloren, als Robin bisher klar gewesen war. »Zeig mir den Weg zu deinem Haus.«

Gero verließ das Haus so schnell, daß es schon beinahe wie eine Flucht aussah, und der Tempelritter folgte ihm - langsamer und auch nicht, ohne Robin im Vorbeigehen das Haar zu zerstrubbeln. Robin mußte an sich halten, um nicht erschrocken zur Seite zu springen. Es war eine eindeutig gutmütige, väterliche Geste - aber sie konnte nicht vergessen, was diese Hand, die sie nun so spielerisch neckte, noch vor kurzem getan hatte.

Ihre Mutter nahm die Schale mit Wasser, schüttete sie draußen aus und füllte sie neu, nachdem sie wieder hereingekommen war. Ohne ein Wort nahm sie dasselbe Tuch, mit dem Bruder Abbé gerade seine Wunde gesäubert hatte, tauchte sein sauberes Ende in die Schale und begann damit Robins Gesicht abzuschrubben. Sie ging dabei nicht besonders sanft zu Werke, und Robin verzog ein paarmal schmerzhaft das Gesicht, vor allem, als sie die Stelle säuberte, an der sie der Forkenstiel getroffen hatte. Ohne danach tasten zu müssen, spürte Robin, daß sich über ihrer Schläfe eine gewaltige Beule entwickelt hatte, die wohl spätestens morgen in allen Farben des Regenbogens schillern würde. Ihre Mutter betrachtete die Schwellung kritisch, tastete anschließend mit den Fingern darüber - was Robin noch erheblich mehr Schmerzen bereitete, die sie aber tapfer unterdrückte - und legte die Stirn in Falten.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte sie. »Du wirst es überleben, aber du wirst ein paar Tage lang ordentliche Kopfschmerzen haben.« Ihr Blick verfinsterte sich. »Das geschieht dir ganz recht. Vielleicht wird es dir eine Lehre sein, in Zukunft auf mich zu hören, du dummes Kind. Du hättest tot sein können, weißt du das? Was hast du dir nur dabei gedacht? Ich hatte dir verboten, bei der alten Kapelle herumzuschleichen und dich mit diesem Jungen zu treffen!«

Robin senkte beschämt den Blick. Ihre Mutter sagte zwar die Wahrheit - aber zugleich mußte sie auch ganz genau gewußt haben, wo sie war, wenn sie regelmäßig zweimal die Woche später als sonst nach Hause kam, und hatte es stillschweigend geduldet. Vielleicht war ihr Zorn einfach nur Ausdruck ihrer Angst, oder sie wollte vor Hark und der alten Janna einfach das Gesicht wahren.

Janna lachte leise. »Laß es gut sein, Thea. Ich kann mich an ein Mädchen erinnern, das genauso störrisch und unbelehrbar war.«

»Ja«, antwortete Robins Mutter ärgerlich. »Und ich weiß besser als du, was aus ihr geworden ist.«

»Hört auf, euch zu streiten«, mische sich Hark ein. »Wir haben wirklich andere Sorgen.«

Janna wiegte in einer schwer zu deutenden Geste den Kopf, schlurfte zur Bank und ließ sich neben Robin darauf niedersinken. Ihre Hand legte sich auf die Robins, und es war ein sonderbares, fast unangenehmes Gefühl. Jannas Haut fühlte sich gar nicht an wie richtige Haut, sondern trocken und rauh, so daß Robin fast Angst hatte, sich daran zu verletzen. Zugleich war ihre Hand so dürr, daß sie fast das Gefühl hatte, von einem Skelett berührt zu werden. Und sie war kalt.

»Warum erzählst du uns nicht, was wirklich passiert ist, Kind?« fragte sie.

Robin blickte sie an. Sie konnte nicht antworten. Sie konnte an nichts anderes denken als an das, was Bruder Abbé auf dem Rückweg zu ihr gesagt hatte, und sie hatte einfach nur Angst.

»Laß sie in Ruhe«, sagte ihre Mutter. »Du siehst doch, daß sie vollkommen durcheinander ist!«

»Ist sie das?« fragte Janna. »Oder weiß sie nur nicht, was sie antworten soll?«

Robin zog die Hand zurück und verbarg sie im Schoß. »Es... es war alles so, wie der Ritter gesagt hat«, sagte sie, ohne die Alte dabei anzusehen. Sie hörte selbst, wie sehr ihre Stimme bei diesen Worten zitterte, aber sie konnte nichts dagegen tun.

»Laß sie in Ruhe«, sagte nun auch Hark. »Wenigstens, bis Gero zurück ist!«

Sie mußten nicht einmal lange warten. Gero kam schon nach wenigen Augenblicken zurück. Er war außer Atem, als wäre er das Stück von seinem Haus bis hierher gerannt. Wahrscheinlich war er es auch.

»Nun?« empfing ihn Janna.

Gero zog eine Grimasse. »Er ist anspruchsvoll, unser hoher Gast«, sagte er. »Ich habe ihm mein und Geses Bett zugewiesen, aber ihr hättet den Blick sehen sollen, mit dem er mich bedacht hat. Und er hat nach einem Schlaftrunk gefragt... Wein, versteht sich.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich an Robins Mutter. »Seine Wunde sah schlimm aus. Er wird uns doch nicht wegsterben?«

»Er hat viel Blut verloren und wird lange und sehr tief schlafen«, antwortete Robins Mutter. »Aber das ist auch alles. Ein Mann wie Bruder Abbé stirbt nicht an einer solchen Verletzung.«

Nun war Robin vollkommen überrascht. Sie war vollkommen sicher, daß der Tempelritter seinen Namen bisher nicht genannt hatte - und sie hatte es ganz bestimmt nicht getan!

»Ich wünsche ihm, daß er Wundbrand bekommt«, sagte Janna. »Und das würde geschehen, wenn sein Gott auch nur halb so gerecht wäre, wie er behauptet!«

»Versündige dich nicht, Janna!« sagte Hark erschrocken, aber die alte Frau lachte nur.

»Versündigen? Wer versündigt sich hier? Ich oder dieser...«

»Schweig!« sagte Gero streng, und Janna verstummte tatsächlich. Jedenfalls sagte sie nichts mehr. Aber die Blicke, mit denen sie Gero maß, sprühten vor Spott und verhaltenem Zorn.

»Wir sollten Gott danken, daß alles so glimpflich verlaufen ist«, fuhr Gero fort. »Ein paar Vaterunser und ein kleines Opfer für die Jungfrau Maria sind weiß Gott kein hoher Preis für das Leben eines Tempelritters. Abbé hätte zehn von uns erschlagen können, und kein Hahn hätte danach gekräht! Seien wir froh, daß er sich mit Olofs Leben zufriedengegeben hat!«

»Aber... aber es war doch alles ganz genau so, wie er es erzählt hat!« mischte sich Robin ein. Sie wußte selbst, daß sie jetzt besser nichts gesagt hätte. Es geziemte sich nicht, sich einzumischen, wenn Erwachsene miteinander redeten - schon gar nicht in einer Situation wie dieser. Aber sie konnte nicht anders. Sie hatte Bruder Abbés Worte keinen Moment lang vergessen. Wenn es ihr nicht gelang, ihre Mutter und die anderen irgendwie davon zu überzeugen, daß der Tempelritter die Wahrheit sprach, dann stand deren Leben auf dem Spiel!

»Olof hat Helle umgebracht!« fuhr sie fort, stammelnd, hastig und so schnell, daß sie die Hälfte der Silben fast verschluckte und ihren Worten im Grunde schon damit jede Glaubwürdigkeit nahm. »Und er hat auch Jan erstochen und den Ritter verletzt und... und auch mich.«

»Niemand bezweifelt das, Kind«, sagte Janna ruhig. »Nur den Rest der Geschichte, den er erzählt hat, glaubt niemand hier.« Sie machte eine zitternde, deutende Geste, die alle im Raum einschloß. »Aber es spielt keine Rolle, was wir glauben und was nicht. Und es spielt auch keine Rolle, was du glaubst und was nicht - oder was du sogar weißt. Dein Freund, der Ritter, hat uns gesagt, was wir zu glauben haben, und das ist alles, was zählt.« Sie stand auf. »Du hast vollkommen recht, Gero - wir sind noch einmal glimpflich davongekommen, und um Olof ist es nicht schade. Niemand hier wird ihm auch nur eine Träne nachweinen. Und nun bin ich müde. Es ist spät geworden, und ich brauche mehr Schlaf als ihr jungen Leute.«

Damit ging sie, ohne ein weiteres Wort des Abschieds. Gero sah ihr kopfschüttelnd nach, aber Hark sagte: »Sie hat recht. Belassen wir es so, wie es ist. Was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden. Um Olof ist es nicht schade, und nichts, was wir tun können, macht Helle wieder lebendig.« Er drehte sich herum und sah Robin durchdringend an. »Und es war wirklich alles so, wie er erzählt hat?«

Robin nickte. Sie verstand nicht, was hier vorging. Wenn ihr eines im Laufe des Gesprächs klar geworden war, dann, daß niemand hier auch nur ein Wort von dem glaubte, was der Templer erzählt hatte - und ebensowenig ihre eigene Geschichte. Und trotzdem machte Harks Frage ganz klar, daß er nichts anderes als ein eindeutiges »Ja« als Antwort von ihr hören wollte. Aber hatte ihre Mutter ihr nicht immer und immer wieder erzählt, wie wichtig es war, die Wahrheit zu sagen? Warum also logen all diese Erwachsenen plötzlich und verlangten noch dazu von ihr, dasselbe zu tun?

»Jetzt ist es genug«, sagte ihre Mutter streng. »Ihr habt gehört, was Robin gesagt hat, und damit soll es gut sein. Sie ist noch ein Kind, und sie wäre heute um ein Haar ums Leben gekommen! Ich meine, das reicht für einen Tag!« Sie deutete zornig zur Tür. »Geht jetzt! Es ist spät.«

Hark wollte auffahren, aber Gero legte ihm rasch und besänftigend die Hand auf den Unterarm. »Laß sie«, sagte er ruhig. »Sie hat recht. Es war alles zuviel für einen Tag. Und Robin wird bei der Geschichte bleiben - nicht wahr?«

Die beiden letzten Worte hatte er direkt an Robin gerichtet. Sie antwortete mit einem wortlosen Nicken darauf. Alles war so schrecklich verwirrend. Nichts schien mehr Sinn zu ergeben.

»Dann laß uns jetzt gehen«, fuhr Gero fort. »Es ist spät, und ich muß mich um meinen hochwohlgeborenen Gast kümmern.«

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